Wochenspruch: Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern. (Lukas 12,48)
Psalm: 63,2-9
Reihe I: Philipper 3,(4b-6)7-14
Reihe II: Jeremia 1,4-10
Reihe III: Matthäus 7,24-27
Reihe IV: Matthäus 25,14-30
Reihe V: 1. Könige 3,5-15(16-28)
Reihe VI: Matthäus 13,44-46
Eingangslied: EG 295 Wohl denen, die da wandeln
Wochenlied: EG 397 Herzlich lieb, hab ich dich, o Herr
Predigtlied: EG 398, 1.2 In dir ist Freude
Schlusslied: EG 443,6.7. Gott will ich lassen raten
(Wenn ein anderer meint, er könne sich aufs Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr,
5 der ich am achten Tag beschnitten bin, aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer,
6 nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen.)
7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.
8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben.
10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,
11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
Liebe Gemeinde,
jetzt in der Urlaubs- und Ferienzeit nutzt manch einer die Befreiung aus dem Korsett des Alltäglichen. Man hat Zeit, in sich zu gehen und aus der Distanz das eigene Leben kritisch unter die Lupe zu nehmen. Was zieht mich nach vorn? Welche Ziele leiten mich? Was belastet mich und bedrückt mich? Was will ich so nicht mehr länger ertragen? Was kann ich ändern? Wie komme ich mit dem besser zurecht, was ich nicht verändern kann?
Das sind Fragen, die Menschen aller Generationen mit im Gepäck haben. Im Urlaubsgepäck, wenn sie für ein paar Wochen in die Sommerfrische aufbrechen. Ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.
Manchmal ist man selber überrascht, mit welcher Wucht sie einen einholen und wie hartnäckig sie sich in den Gedanken einnisten. Da erscheinen einem beispielsweise im Traum ausgerechnet die Menschen, die man froh ist, eine Zeit lang nicht sehen zu müssen. Oder berufliche Sorgen, von denen man im Urlaub Abstand zu gewinnen hoffte, melden sich. Oder Beziehungsprobleme. Oder der Schmerz angesichts von Enttäuschungen und bitteren Abschieden.
Wie Schuppen kann es einem da von den Augen fallen: »Dein Leben, so wie es bisher war, ist in eine Sackgasse geraten! Du hast dich verrannt! Du musst etwas ändern, sonst gehst du kaputt! Du musst einen tiefen Schnitt machen, sonst bleibst du hängen in Fesseln. Sie nehmen dir den Atem und rauben dir alle Lebensfreude!«
Solch eine Schnittlinie, liebe Gemeinde, führt uns auch unser heutiger Predigttext vor Augen. Im Rückblick fällt Paulus ein sehr schroffes Urteil über die Lebensphase, aus der er herkommt. Wie ein anderes Leben erscheinen ihm seine früheren Jahre. Mit größtem Ehrgeiz war er dem Ideal pharisäischer Frömmigkeit nahegekommen. Mit beispiellosem Eifer tat er alles, um den Christus-Anhängern den Garaus zu machen. Es bezieht sich auf diese Zeit, wenn er im Brief an die Philipper im dritten Kapitel schreibt:
Lesung des Predigttextes: Philipper 3, 7 – 14
Ein Apostel, der sich der Gossen-, der Fäkaliensprache bedient, begegnet uns hier, liebe Gemeinde. Denn seine frühere Existenz nennt er unverblümt »Dreck«, »Mist«. Ein abfälligeres, radikaleres Urteil kann man über seine eigene Vergangenheit wohl nicht fällen. Es ekelt und schaudert einen, wenn man Paulus so reden hört. Und man fragt sich unwillkürlich auch: Ist das angemessen, seine eigene Biografie so harsch zu gliedern in eine Phase, in der alles verkehrt und verkorkst war, und in eine andere, in der das alles überwunden ist? Ist es nicht eine Illusion, wenn man glaubt, man könne seine Vergangenheit in die Gosse spülen und ein für allemal entsorgen?
An Jugendliche muss ich hier denken, die manchmal wie Paulus gar nicht zimperlich sind, wenn es darum geht, ihre eigene Vergangenheit und ihr bisheriges Lebensmuster auf den Misthaufen zu verfrachten. Da kommt eine »Tochter aus gutem Hause« nach den großen Ferien plötzlich mit einer Glatze und einem Zungenpiercing in die Schule. Zudem provoziert sie ihre Eltern und Lehrer durch äußerst gewagte Kleidung, die bisweilen schon dazu führte, dass sie von der Schule heim geschickt wurde, um sich anders anzuziehen. Sie, die mit Vollkornkost und fair gehandelten Lebensmitteln groß wurde, ernährt sich jetzt von fast food und spricht in Besorgnis erregender Weise dem Alkohol zu. Eltern und Schule sind entsetzt. Alle Register des Mahnens und des Belehrens werden gezogen, doch vergeblich. Die 15-Jährige findet ihren neuen Stil cool und äußert im Übrigen den Wunsch, bald von daheim auszuziehen.
Zwei Jahre später ist das Mädchen nicht mehr wieder zu erkennen. Ihre Erscheinung ist jetzt sportlich elegant, ihre Frisur modisch apart. Der durch die Zunge gezogene Metallstift ist verschwunden. Sie ist eine hervorragende Schülerin, dabei aber eine sehr streitbare Diskutantin, die Lehrern und Mitschülern nichts schenkt. Spricht man sie auf ihre wilde Phase an, schmunzelt sie und sagt: »Auch wenn das jetzt hinter mir liegt, das war eine sehr wichtige Zeit für mich, die ich nicht missen möchte.«
Paulus hingegen lässt keinen guten Faden an seiner Vergangenheit. Was war, betrachtet er als Schaden, als Verlust. Mehr noch: Er ist bestrebt, zu vergessen, was hinter ihm liegt und sich auszustrecken nach dem, was vor ihm ist. In der Geschichte der christlichen Frömmigkeit, liebe Gemeinde, hat dieses Vorher-Nachher-Muster eine mitunter ziemlich problematische Aufnahme erfahren. In gewissen Kreisen gilt es auch heute noch als Ausweis rechten Christseins, wenn man in einem bewussten Entscheidungsakt Abschied nimmt von seinem bisherigen Leben und mit Christus ein neues Leben beginnt. Doch ich frage mich: Kann man das überhaupt? Das Leben ist doch ein kompliziertes Geflecht aus vielen Fäden. Da kann man nicht einfach diesen oder jenen Faden abschneiden und neue einknüpfen. Wer will im Ernst behaupten, er könne aus seiner Lebensgeschichte herausspringen? Gewiss, Veränderungen und zum Teil erstaunliche Verwandlungen sind vielen Menschen Gott sei Dank, möglich. Doch da gibt es auch Schatten und Schwachstellen. Wir werden sie unser Leben lang nicht los, so sehr wir uns auch darum bemühen mögen.
Paulus übrigens weiß das: Und auch in unserem Predigttext äußert er das. Man entdeckt es nur nicht gleich. Sein Schlüsselerlebnis: Er erkennt Christus Jesus als seinen Herrn. Das ist ein radikaler Wendepunkt in seinem Leben. Doch zugleich betont er: »Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe.« Er sieht nicht arrogant auf andere herab, die so weit auf dem Weg des Glaubens noch nicht gekommen sind wie er selbst. Er weiß vielmehr: Christus und ich – wir haben uns gefunden. Das ist Finderglück. Und gleichzeitig suche ich beständig weiter. In unserem Textabschnitt schreibt er: Christus erkennen, das bedeutet, teilhaben an der Kraft der Auferstehung. Es bedeutet, eingefügt sein in die Gemeinschaft der Leiden Christi, ja sogar seinem Tod gleichgestaltet werden.
Es gibt Brüche in unserem Leben. Es gibt Widersprüche. Paulus weiß das. Seine überschwängliche Christuserkenntnis, seine mystische Erfahrung, von der Gegenwart Christi durchdrungen zu sein, erlaubt es ihm jedoch, diese Polarität auszuhalten, weil er sie selbst in Jesus Christus wiederfindet. So kann er im Gefängnis in Ephesus, wo er seinen Brief an die Gemeinde in Philippi schreibt, formulieren: »Freuet euch in dem Herrn allewege!« Denn er kann gar nicht anders, als seine eigenen Passionserfahrungen, wie z.B. hier die Haft, zusammenzudenken mit dem Leiden Jesu. Im Dunkel seines Lebens, an den Schmerzpunkten seiner Existenz entdeckt Paulus Momente des Karfreitags. Er muss sie unwillkürlich einfügen in jene geheimnisvolle Verwandlung, die auf Ostern zuläuft und aus dem Nichts Leben in Fülle hervorbrechen lässt. Christus erkennen bedeutet demnach auch und gerade im Abgrund: die Gegenwart Gottes erahnen, beim Tasten nach dem noch nicht gefundenen Weg getragen sein von einer unauslöschlichen Hoffnung; von der Hoffnung, anzukommen in Regionen, wo die Freude zu Hause ist.
In diesem Kraftfeld leben zu können, war für Paulus und auch für unzählige Christen nach ihm die Entscheidende Entdeckung ihres Lebens. Das ist tatsächlich ein Wendepunkt. Wir tun jedoch gut daran, uns klar zu machen: Eine solche Lebenswende kann nicht von uns herbeigeführt werden. Das ist keine Frage der rechten Frömmigkeit. Glauben können, im Glauben Halt und Hoffnung finden, mit allen Spannungen der eigenen Biografie leben zu können, das ist vielmehr ein Geschehen, das uns von Gott her widerfährt. Schnell erheben Zweifler und Skeptiker hier den Einwand: Das ist aber arg billig! Das nimmt doch den Menschen jeden Ansporn, selber wichtige Wegkorrekturen vorzunehmen und aus eigener Einsicht Veränderungen anzugehen! Das verleitet ja gerade zu kindlicher Unmündigkeit und passivem Abwarten auf den starken Vater-Gott, der alles in Ordnung bringt.
Paulus jedoch hat Glauben so gerade nicht verstanden. Wie sonst hätte er vom »Ausstrecken nach dem, was da vorne ist« reden können? Von seinen unablässigen Bemühungen, das Erhoffte zu ergreifen?
Wie aber können wir uns ausstrecken nach dem Ziel, zu dem unsere Sehnsucht geht, liebe Gemeinde? Falscher ehrgeiziger Aktionismus verbietet sich ebenso wie Passivität. Eine Patentantwort, die immer passt, gibt es darauf nicht. Doch lerne ich von Paulus heute neu: Dieses Ausstrecken, dieses Aktivwerden ist eingebunden in Gemeinschaftserfahrungen. Die Kraft, unheilvolle Strukturen zu überwinden, finde ich nur, wenn mich die Angst vor Neuem und vor Veränderungen nicht auffrisst. Angst aber haben wir vornehmlich dann, wenn wir uns allein fühlen auf weiter Flur, verlassen und ohne Rückhalt. Darum ist es für viele Menschen ein großer Segen, wenn sie an der Schwelle vor entscheidenden Veränderungen in ihrem Leben im Austausch mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner, mit Eltern oder Kindern, mit Freunden oder sonstigen Vertrauenspersonen das zur Sprache bringen können, was in ihnen gärt. Zu hören: Andere hatten ihrerseits Schweres zu bewältigen, Einblick zu bekommen, wie sie Krisen und Herausforderungen meisterten, kann einem beim Loslassen und Sich-Ausstrecken entscheidend helfen.
Noch viel mehr gilt das von der Gemeinschaft, die wir im Gottesdienst erfahren. Denn im Gottesdienst werden meine Person und mein Leben hineingenommen in die Gemeinschaft von Frauen und Männern, die sind wie ich. Sie suchen und strecken sich sehnsuchtsvoll aus nach neuen Möglichkeiten, besser und stimmiger zu leben in unserer von Gewalt und Ungerechtigkeit zerrissenen Welt. Im Gottesdienst treten wir zugleich aber auch ein in das Haus Gottes, in die Sphäre seiner Gegenwart. Sie ergreift uns, richtet uns auf und verwandelt uns.
Besonders bewegend bildet sich diese doppelte Gemeinschaft ab im Abendmahl. Wir teilen miteinander Brot und Wein, wir werden hineingenommen in Jesu Leiden und Sterben und haben schon heute Anteil an der Herrlichkeit seiner Auferstehung. In den traurigen, müden oder angsterfüllten Gesichtern, aber auch in den fröhlichen und vor Lebenslust leuchtenden Gesichtern derer, die mit uns am Altar stehen, spiegelt sich dies symbolisch wider. Und es passiert in dieser Runde, dass uns diese Abendmahlsgemeinschaft anrührt. Wir sehen die aus den Augenwinkeln gedrückte Träne der Nachbarin zu unserer Linken oder spüren das Strahlen des Konfirmanden zu unserer Rechten. Wir nehmen andere wahr und sehen dadurch auch uns selbst mitunter ganz anders. Immer wieder passiert es dann auch, dass wir in der kleinen Hostie und im Schlückchen Wein schmecken, wie das Leben schmeckt, so dass uns leichter wird ums Herz und wir uns von Paulus nicht zweimal sagen lassen müssen: »Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!«
Amen
Verfasser: Pfarrer Christoph Doll, Heusteigstraße 22, 70182 Stuttgart
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