Wochenspruch:
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.
(Johannes 1, 14)
Psalm: 96 ( EG 738 )
Lesungen
Altes Testament: Jesaja 11, 1 – 9
Epistel: Hebräer 1, 1 – 3( 4 – 6 )
Evangelium: Johannes 1, 1 – 5 ( 6 – 8 ) 9 – 14
Liedvorschläge
Eingangslied: EG 30 Es ist ein Ros entsprungen
Wochenlied: EG 23 Gelobet seist du, Jesus Christ
Predigtlied: EG 12 Gott sei Dank durch alle Welt
Schlusslied: EG 35 Nun singet und seid froh
Jesaja 11, 1 – 9
11 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.
Liebe Gemeinde,
„Es ist ein Ros entsprungen,
aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art.“
Dieses Lied haben wir gerade miteinander gesungen und wahrscheinlich ist es heute Morgen nicht das erste Mal, dass Ihnen dieses Lied über die Lippen kommt. Denn für viele von uns ist erst Weihnachten, wenn wir so gesungen haben. Wenn die altvertrauten Lieder unterm Weihnachtsbaum erklingen. Lieder von der Heiligen Nacht und von der Geburt des Christuskindes. Sie gehören einfach dazu. So wie für manche das Zusammenkommen der Familie an den Festtagen und das Auspacken der Geschenke dazu gehört.
Weihnachten hat so seine Traditionen. Auf die möchte man nicht verzichten. Und deshalb nimmt man es schon mal in Kauf, dass die Wochen vorher etwas hektischer verlaufen als sonst. Weihnachten braucht eben auch seine Vorbereitungen. Und die fangen beim Plätzchenbacken an und hören beim Schmücken der Wohnung noch lange nicht auf.
Schön soll es in dieser Zeit sein. Schön für alle, die in diesen Tagen nach Hause kommen. Schön und harmonisch. Hell und warm soll es in unseren Stuben sein. Frieden soll einkehren, so wie wir es von der Weihnachtsgeschichte her kennen.
Um Harmonie und Frieden geht es auch in unserem heutigen Predigttext. Heute am zweiten Weihnachtstag, wo unsere festliche Stimmung schon ein wenig am Abklingen ist und wir beginnen nüchtern danach zu fragen, ob sich unsere Erwartungen erfüllt haben. Ob sich all die Vorbereitungen gelohnt haben und sich vielleicht erste Enttäuschungen einstellen und die Gedanken wieder in Richtung Alltag ziehen.
Doch bevor wir nun endgültig beginnen, von der Höhe des Festes in die Niederungen des Alltags abzusteigen, möchte ich Sie einladen, noch einmal ein wenig zu träumen. Weihnachtlich zu träumen. Träume zu schauen, wie sie der Prophet Jesaja sie uns 500 Jahre vor Christi Geburt vor Augen stellt:
Textlesung Jesaja 11, 1-9
Haben Sie den Ursprung unseres Weihnachtsliedes erkannt? „Das Reis“, von dem Jesaja berichtet, hat bei unserer altvertrauten Weise Pate gestanden. „Von Jesse kam die Art“ – damit ist Isai gemeint, der Vater Davids, des Königs von Israel. Auf ihm ruht die Hoffnung. Aus seinem Geschlecht wird der Messias hervorgehen, der Frieden und Gerechtigkeit für die Welt bringen wird. Und diese gerechte und friedvolle Welt wird dann beschrieben in wunderbaren Bildern von einer neuen Schöpfungsordnung:
„Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Natter. Nicht mehr fressen und gefressen werden. Nicht mehr der alte Kampf ums Überleben. Ein neues Miteinander bestimmt in Jesajas Bildern die Welt. Alles Gegeneinander ist ein für alle mal Vergangenheit.
Wer fühlte sich von diesen eindrücklichen Bildern nicht angesprochen? Aus ihnen spricht ja eine tiefe Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer harmonischen und heilen Welt, nach Freude und Frieden für uns Menschen, aber auch für die Tiere. Eine Sehnsucht, die sich besonders zur Weihnachtszeit Bahn bricht. Wo wir alle einmal eine Pause einlegen möchten. Uns auf Ruhe freuen, auf eine heilsame Unterbrechung unseres Alltags.
Doch: Unsere Sehnsucht ist nicht alles, auch nicht zur Weihnachtszeit.
Und so mag angesichts der Bilder, die Jesaja uns vor Augen malt, so manch kritische Stimme einwenden: „Geht das denn zusammen? Gehen diese Bilder denn zusammen mit unserer Wirklichkeit?“
Wir merken doch: Diese große Verheißung unseres Predigttextes vom wirklichen Frieden und von wahrer Gerechtigkeit, die steht noch aus, trotz 2000 Jahren Christentums. Wir warten immer noch auf wahren Frieden zwischen Arm und Reich, zwischen Mensch und Natur. Wir warten auf eine Instanz, die stark und gerecht genug ist, der Gewalttat in den Arm zu fallen. Wir warten auf noch so vieles, was in dieser an vielen Stellen so verkehrten Welt anders sein müsste.
Viel präsenter als die schönen Bilder des Jesaja sind doch all die schrecklichen Bilder, die wir täglich in den Nachrichten zu sehen bekommen.
Und deshalb noch einmal: Geht das zusammen? Und noch mehr: Geht denn unsere Art Weihnachten zu feiern zusammen mit dem Elend in dieser Welt? Geht es zusammen, dass wir Lieder vom Frieden singen und im Irak sprengt wieder ein Mensch Dutzende in den Tod? Geht es zusammen, dass wir Gänsebraten essen und gleichzeitig verhungern jeden Tag Kinder? Und schließlich: Geht es zusammen, dass wir jedes Jahr wieder das Idyll des Familienfestes vor Augen haben und mindestens ahnen, dass es selten so viel Krach in den Familien gibt wie an Weihnachten?
Ja, liebe Gemeinde, es gibt Menschen, die lehnen Weihnachten deshalb radikal ab. Die sagen: „Diese Art von Gefühlsduselei hat mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun.“
Was antworten wir ihnen? Haben sie nicht Recht? Wir spüren doch auch den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Spüren, dass da in unserer Welt besonders an Weihnachten etwas nicht zusammen geht. Für uns nicht zusammen geht, die wir alle zu sehr in die Wirklichkeit dieser Welt verstrickt sind.
Vielleicht liegt hier auch der Schlüssel zu Erkenntnis. Dass wir sonst so nüchtern denkenden Wirklichkeitsmenschen den Dingen einfach zu nah sind, um entdecken zu können, was Gott uns an Weihnachten wirklich schickt.
Deshalb müssen wir erst einmal einen Schritt zurück treten,
einmal Abstand gewinnen, um die penetrante Aufdringlichkeit, mit der die Welt uns zu Leibe rückt, zu überwinden.
Was wir brauchen, ist eine neue Perspektive. Ein wenig Fernsicht, um nicht nur die Kluft, sondern die ganze Landschaft sehen zu können. So wie ein Bergsteiger, der auf einen Gipfel steigen muss, will er das ganze Panorama sehen. Von unten sieht er nur das enge Tal, das von den Bergrücken begrenzt wird. Mit jedem Meter aber, mit dem er sich von dem Erdboden entfernt und in die Höhe hinaufstrebt, gewinnt er an Überblick. Und bleibt am Ende ergriffen stehen, was an Weite und Schönheit sich dort oben offenbart.
Ich glaube, mit uns ist es zumindest hier und da ebenso.
Brauchen wir nicht auch immer wieder einen Schritt zurück, um jenen wohltuenden Abstand zu gewinnen, der es uns erlaubt, uns wirklich nahe zu kommen? Brauchen wir nicht etwas wie eine wohltuende Entfernung aus der aufdringlichen Nähe zu Dingen und Menschen?
Gerade in unseren Familien, wo man sich besonders zu Weihnachten auf die Pelle rückt und zuweilen auch auf die Nerven geht, empfiehlt es sich doppelt, das zu erwägen. Zuviel Nähe bewirkt Entfernung. Entfremdende Entfernung. Heilsame Entfernung hingegen erzeugt die Chance echter, liebevoller Nähe
Das gilt auch für Gott. Solange wir Gott nur mit unseren Gedanken konstruieren oder gar in unserem Handeln realisieren zu können meinen, bleibt er uns selbst verborgen. Um ihn selbst, seine Ankunft auf Erden zu entdecken, bedarf es jener überlegenen Fernsicht, die inmitten unserer alten Welt das Neue zu entdecken vermag.
„Mitten im kalten Winter“ - heißt es in unserem Weihnachtslied. Und Jesaja dichtet: „Aus einem abgehauenen Baumstumpf wird ein grüner Spross hervorgehen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.“ In der Kraft dieses Geistes und nicht im Vertrauen auf die eigene Macht und Kraft geschieht das Wirken des Messias. Seine schöpferische Kraft verwandelt die Menschen, die Verhältnisse, die ganze Welt. In seiner Herrschaft haben Gewalttat und Gottlosigkeit keinen Bestand. Alle Feindschaft, nicht nur die zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Tier, wird einer umfassenden Gemeinschaft der ganzen Schöpfung weichen.
Dieses Bild, das der Prophet hier den Menschen vor Augen malt, ist entstanden in einer Zeit, in der er seine eigene Welt alles andere als rosig sieht. Es ist entstanden in der Zeit, als Israel von Fremdvölkern überrannt und geknechtet wurde. Das einst stolze und berühmte Volk unter König David gleicht zu Jesajas Zeit eher einem leblosen Baumstumpf. Von daher die Sehnsucht dieses Volkes nach neuem Leben, nach Recht und Gerechtigkeit, nach Versöhnung und Frieden.
Diese Bilder vom künftigen Friedensreich werden das Leben der Menschen damals nicht vergoldet haben. Und sie tun es auch heute nicht. Auch nicht für uns Christen, die wir mit Weihnachten die Erscheinung des Messias feiern. Gott ist nicht der Juwelier dieser Welt. Die Hässlichkeiten dieser Welt und ihre Schwierigkeiten werden nicht vergoldet oder auch nur versilbert. Aber aufhellen, erhellen, hell machen, so dass man Wege erkennen kann, auf denen es vorwärts geht, das wollen diese alten Erzählungen wohl. Und das will auch Jesaja mit seinen Bildern von der neuen Welt.
Diese Bilder entsprechen nicht der Wirklichkeit – wir haben es längst gemerkt. Das, was Jesaja da zeichnet, ist vielmehr ein Gegenbild gegen die Gegenwart und auf diese Weise ein Protest Gottes gegen sie. Jesaja zeigt, dass Gott sich nicht mit dieser Realität abfindet, sondern mit verheißungsvollem Bild dagegen machtvoll protestiert.
Dieses Bild ist aber gleichzeitig ein Bild dafür, wie Gott die Welt haben will, wie sie sein soll. Eine Welt, in der Gott selbst wohnt und in der er als der Herr geehrt wird. Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens im umfassendsten Sinn. Jesajas Vision hält die Sehnsucht von uns Menschen nach dem Kommen Gottes wach. Wir sollen uns gerade nicht mit dem jetzigen Zustand der Welt abfinden. Oder uns gar mit ihr arrangieren. Wir sollen weiterhin ein Gespür dafür behalten, dass da etwas nicht zusammen geht. Besonders nicht zu Weihnachten.
Denn mit Jesus ist einer gekommen, der sich gerade für die Armen, Entrechteten und an den Rand Gedrängten eingesetzt hat. Der nicht nach Reichtum und Ansehen urteilte. Der nicht Unrecht tat, sondern Unrecht erduldete. Der sich auch zu den Tieren und zur ganzen Schöpfung gesandt wusste, um allen Versöhnung und Frieden zu bringen.
Sein Kommen feiern wir in diesen Tagen. Es ist das Kind in der Krippe, in dem unser Glaube den Messias erkennt und ehrt.
Und ich meine, das ist es, was uns mehr oder weniger verborgen immer wieder antreibt, alles möglichst schön und feierlich zu machen. Das Kind in der Krippe rührt an unserer Sehnsucht nach Freude, Frieden und heiler Welt. Es lässt die Bilder in uns wach werden, die schon Jesaja sehnsüchtig für sein geknechtetes Volk erhoffte.
Freilich, liebe Gemeinde, wer Weihnachten feiert und nicht irgendwelchen Firlefanz veranstaltet, der wird sich mit dem feierlichen Schein der Kerzen am Tannenbaum nicht begnügen können. Wer Weihnachten feiert, kommt in Bewegung und wird das Seine dazu tun, dass der Weg zum guten Ende der Welt nicht ein schrecklicher Weg oder gar ein Schrecken ohne Ende wird. Wer Weihnachten feiert, der wird Gott auch schon auf dem Weg zum Ziel dabei sein lassen. Er wird mit Gott unterwegs sein auf dem Weg unserer Gesellschaft.
Denn wer Weihnachten feiert, der glaubt an ein gutes Ende. Und wo ein gutes Ende wartet, da setzt man sich in Bewegung, mit Bildern vor Augen, die von der Ankunft des Kommenden künden. „Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.“ Amen.
Barbara Themel-Reith Jakob-Jung-Str. 31 64291 Darmstadt