Das Wort von der Versöhnung
von Hanna Manser (39104 Magdeburg)
Predigtdatum
:
16.06.2002
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
2. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32
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Wochenspruch:
Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19,10)
Psalm: 103,1-5.8-13 (EG 742)
Lesungen
Altes Testament:
Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32
Epistel:
1. Timotheus 1,12-17
Evangelium:
Lukas 15,1-7 [8-10]
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 440
All Morgen ist ganz frisch und neu
Wochenlied:
EG 232
oder EG 353
Allein zu dir, Herr Jesu Christ
Jesus nimmt die Sünder an
Predigtlied:
EG 395
EG 354,1+7
Vertraut den neuen Wegen
Ich habe nun den Grund gefunden
Schlusslied:
EG 258
Zieht in Frieden Eure Pfade
Als erste Lesung kann der Predigttext gelesen werden, als zweite das Evangelium: Lukas 15, 1-10
1 Des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. 23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? 24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Liebe Gemeinde,
Das Wort für die Predigt haben wir als erste Lesung gehört. Das Prophetenwort des Hesekiel klingt unzweideutig: Jeder wird gerichtet nach den Taten, die er begangen hat. Jede Frau und jeder Mann ist verantwortlich für das, was er oder sie getan hat; nicht mehr und nicht weniger. So ist Gottes Spruch!
Dieses Wort ergeht an uns, ganz persönlich heute an diesem Sonntagmorgen des Jahres 2002 hier in der Kirche von ...
Hören Sie es mit Erleichterung, oder hören Sie es mit Schrecken?
Wichtig ist, dass wir es hören, so, wie es in ein Leben mitten hinein sprechen kann.
Ich möchte dies Predigtwort entfalten an der Lebensgeschichte einer Frau. Sie war von 1951 – 1971 Leiterin der Frauenhilfe der Kirchenprovinz Sachsen. Sie hieß Eva Pohle.
Wenn sie gefragt wurde „Wie geht’s?“ - war ihre Antwort darauf stets ein Liedtext: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu ...“
Von dieser Gnade hatte sie zu leben gelernt. Sie war Studienrätin im sogenannten „Dritten Reich“ gewesen. 1945 wurde sie für den Schuldienst als nicht tauglich erklärt.
Sie hatte gehofft, innerhalb der NSDAP das bessern zu können, was sie bei den Nazis als falsch erkannte. Bei Kriegsende aber erlebte und verstand sie sich als die im Beruf Gescheiterte.
Sie selbst bezeichnet die folgenden Monate als die „Stunde Null“ in ihrem Leben. Ihr waren die Zähne stumpf geworden von den sauren Trauben. Sie war einer falschen Lehre verfallen.
Und sie erinnert sich an eine schwere Schuld gegenüber einer jüdischen Schülerin: „Eines Tages kam Ruth Kugelmass nicht mehr zur Schule, und ich habe sie nicht besucht.“
Nach dem Krieg ist sie bis nach Auschwitz gefahren, um eine Spur von dieser Schülerin zu finden und, als ihr das möglich war, auch nach Yad Vashem in Israel.
Dem Schicksal der Ruth Kugelmass galten ihre letzten Worte, das erzählt ihre Nichte vom Abend des letzten Lebenstages. Eva Pohle sprach sterbend noch einmal von dieser ihrer Schuld - und sie ließ sich den Psalm vorlesen, der ihr durch’s Leben geholfen hatte: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er die Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit“ (Psalm 103). In ihrem Auftrag pflanzte eine Freundin später einen Baum in Jerusalem für Ruth Kugelmass.
Eva Pohle fragte sich: Hatte diese „ Stunde Null“ überhaupt einen Inhalt? Und wenn ja, welchen? Oder aber: war sie einfach das „Ende“? Dass diese Wochen für sie zu einem „Anfang“ werden könnten - das zu begreifen, brauchte viel Zeit.
Sie schrieb rückblickend in einem Brief: „Damals fing ich an zu begreifen, dass mir in der ‚Stunde Null’ das große innere Reinemachen widerfuhr. Dabei half mir die Bibel: Der Anruf Gottes an einen von seinem Wege abgewichenen Menschen, dass mit meiner Entlassung aus dem Schuldienst, den ich sehr liebte, Gott selber in Gericht und Gnade sein Wort über mich sprach - er lässt Menschen, die er brauchen will, ‚sterben’, um sie neu ins Leben zu führen.“
Vor den kirchlichen Behörden musste sie ihre sogenannte „Entnazifizierung“ betreiben. In Erfurt erhielt sie ein NEIN, und damit galt für sie weiterhin das Verbot, im Schuldienst zu arbeiten. Wenige Wochen später entschieden die Männer der Entnazifizierungsbehörde in Quedlinburg mit einem JA; so war ein neuer Anfang für sie möglich.
Diesen Neuanfang fand sie im Katechetischen Seminar in Naumburg, wo sie sich - als 40-jährige - zur Katechetin ausbilden ließ.
„Du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!“, das war das Votum ihrer Aussendung als Katechetin. Welch ein Auftrag für eine, die sich trotz allem im Beruf für gescheitert hielt!
Im April 1949 durfte sie damit beginnen und wurde schon kurze Zeit später zur Kreiskatechetin in Bad Tennstedt berufen. Sie wurde aufgenommen in ein partnerschaftliches Gemeindeleben. Die winzige Abstellkammer, die man ihr als Wohn- und Arbeitsraum gab, wurde in ihrem Herzen zu einer „beglückenden Klause“, in der ihr neues Leben beginnen durfte. Und wie es begann!
Es war die Zeit, in der überall die Christenlehre aufgebaut wurde und die Kinder fast selbstverständlich kamen. Eva Pohle erkannte schnell, dass Elternarbeit dazugehörte, wollte man die Kinder begleiten.
So fuhr sie hinaus auf die Dörfer zu ihren Mütterabenden, fast jeden Tag fuhren sie - mitunter auch zu zweit - hinaus in ein Dorf nach dem anderen. Die oft sehr weiten und schlechten Wege oder die Dunkelheit hinderten sie nicht daran. Man fuhr selbstverständlich auf seinem Fahrrad nach Hause auch durch die Nacht.
In der „Klause“ pulsierte junges Leben. Wenn Eva Pohle auch kein offenes Haus haben konnte, ein offenes Zimmer hatte sie - für alle dienstlichen Angelegenheiten und sehr bald auch für die „privaten“. Freitag für Freitag war Platz für 4-5 Katechetinnen auf ihrem Bett. Sie kamen zur gemeinsamen Bibelarbeit und zum gemeinsamen Mittagessen.
1950 schreibt sie: „Hierzulande ist’s eine rein missionarische Arbeit, wir erreichen Menschen, die der Kirche ganz fern gestanden haben, sie kommen nicht nur, sondern sie gehen auch irgendwie angerührt davon und kommen erneut.“
Im Oktober 1950 war Eva Pohle zur Kreisfrauenhilfs-Leiterin gewählt worden, und bereits im August 1951 wird sie gefragt, ob sie Leiterin der Frauenhilfe der Landeskirche in Magdeburg werden wolle. Im September schreibt sie „Es ist wohl gut, dass solche Unruhe von Zeit zu Zeit einmal in unser Leben hinein fällt als Prüfstein rechten Gehorsams.“
Sie wusste sich als Katechetin entsandt, und sie erfuhr in dieser Lebensphase spürbar Gottes Segen. So vergingen für sie notvolle fünf Monate mit dem Nicht-Lockerlassen der Magdeburger, mit Gesprächen auf vielerlei Ebenen und erneuter Anfrage, bis schließlich die Zeit der Entscheidung gekommen war: „Langsam löst sich die tiefe innere Beunruhigung in getroste Zuversicht.“
Völlig gelöst schreibt sie in den ersten Magdeburger Tagen von ihrem Dienstzimmer, „viermal so groß wie in Tennstedt dazu eben nur Dienst, nicht gleichzeitig noch Küche und so.“ Privat darf sie die „Klause“ unterm Dach nutzen - mit Büchern bis zur Decke „fast überfallen hat es mich, als ich gestern dieses Glücks innewurde“.
Es folgten 20 Jahre, in denen sie als Provinzialleiterin der Evangelischen Frauenhilfe der Kirchenprovinz Sachsen zur Seele in der großen Dienststelle wurde. Sie kümmerten sich intensiv sowohl um das Mütterheim in Wernigerode als auch um die vordiakonische Ausbildung für junge Mädchen auf Burg Bodenstein im Eichsfeld, wo Restaurierung und Modernisierung der Burg schwer auf Schwester Ruths Schultern lasteten. Die Leiterinnen brauchten Kontakt und auch die Hausmädchen, die von Schwester Ruth ausgebildet wurden. Eva Pohle beaufsichtigte die schriftlichen Arbeiten.
Diese Kontaktfähigkeit ist es gewesen, die sie zu einem freudig erwarteten Gast machte in Pfarrhäusern und auf Kanzeln bei den damals großen Kreisfrauenhilfstreffen in der ganzen weitläufigen Kirchenprovinz. Sie war wirklich ungewöhnlich vielen Frauen nahe und auch Pfarrern, begleitete ihre Schicksale, suchte „zurechtzuhelfen“ und nicht nur mit Rat!
1954 erzählt Eva Pohle in einem Brief, dass die Halberstädter Frauen (und sie mit ihnen) 300 und mehr „Schild des Glaubens“, die neue Kinderbibel der DDR, in die Häuser der Eltern von Schulanfängern gebracht hatten.
Der Weltgebetstag beginnt Anfang der 50-iger Jahre: Jedes Jahr im März wurde - und wird bis heute - weltweit gebetet mit der Liturgie von Frauen aus einem anderen Land. Bis in die Häuser der Beterinnen wurden in diesen Jahren auch die Weltgebetstags-Ordnungen verbreitet. Für viele Frauenhilfen wurde der Weltgebetstag nach und nach zur Herzenssache bis in viele kleine Dörfer hinein - mit oder ohne Leiterin.
Manche warnten Eva Pohle, sie könne dieses Tempo solch intensiven Arbeitens nicht lange durchhalten. Aber sie konnte. Weil sie sich in ihrer tiefen Bescheidenheit stets als die Beschenkte wusste, war sie stark.
Als sie 1971 mit 65 Jahren in den Ruhestand ging, siedelte sie um nach Schleswig-Holstein, um ihrer Familie helfen zu können. Sie hatte den Bischof darum befragt, ob sie ‚in den Westen gehen’ dürfe, der gab sein Einverständnis nicht: „Wer so intensiv die Geschicke der Kirchenprovinz vertreten hat, der kann die DDR nicht verlassen.“ Sie aber ging. Sie erhoffte, zu einer Entlastung für ihre Geschwister auf deren Hof zu werden. Acht Wochen später war sie zum ersten Besuch in Berlin. Und sie kam, so oft es das DDR-Gesetz erlaubte: „Zu Hause ist hier!“
In ihrer neuen Kirchengemeinde war sie bald eine Person, mit der man rechnen musste. Zunächst erkämpfte sie die Christenlehre in der Schule für geistig Behinderte. Wie glücklich war sie, als sie endlich diese Kinder unterrichten durfte und sie dann sogar zur Konfirmation führte. Mit den Pfarrern rang sie. Ihr Anliegen war es, die Gemeindeglieder stärker in die Entscheidungsprozesse der Gemeinde einzubeziehen. Als Eva Pohle 1996 starb, war es ein Zeichen großer Hochachtung, dass die Pfarrer von Oldenburg selbst den Sarg zum Grab getragen haben.
In einem Brief, von ehemaligen Schülerinnen im Oktober 1991 erbeten, schreibt sie: „DDR!!! Das ist und bleibt die Spannung, ja der Schmerz, mit dem ich zu leben habe. Das kann mir auch keiner abnehmen oder mildern. Das muss ich auf mich nehmen und tragen. Lasst die Versöhnung auch weiterhin suchen, Ihr und wir gemeinsam in der neuen Schule eines uns verordneten neuen Lernprozesses mit den Hauptfächern Geduld und Toleranz, Einkehr und Umkehr.“
Im Leben von Eva Pohle waren so viel Brüche, sie konnte mit Gottes Hilfe ein heiles Leben daraus machen. Die sauren Trauben der Väter haben ihr nicht die Zähne stumpf gemacht.
In diesem Jahr, in dem die Frauenhilfe der Landeskirche der Kirchenprovinz Sachsen 100 Jahre alt wird, möge uns die Biographie dieser Frau stärken. Denn Gott predigt auch durch Menschen zu uns, durch Menschen, die vor uns und mit uns gelebt haben.
Wir dürfen schauen, was sie uns geben. Die sauren Trauben, die sie aßen, brauchen uns nicht die Zähne stumpf zu machen. Aber wir können uns getragen wissen von ihrer Kraft. Darüber hinaus gibt Gott jeder und jedem von uns einen einmaligen neuen Geist: Ich bin einzigartig in Herz und Verstand von Gott angesprochen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie das spüren und in dieser Gewissheit einen guten Weg für sich entdecken! Amen.
Verfasserin: Pfrn. Hanna Manser, Arbeitsstelle für Frauen, Familie und Gleichstellung, Leibnizstr. 4, 39104 Magdeburg
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