Wochenspruch:„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und se-lig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19, 10)
Psalm: 103, 1 – 5. 8 – 13 (EG 742)
Lesungen
Altes Testament: Hesekiel 18, 1 – 4.21 – 24.30 – 32
Epistel: 1. Timotheus 1, 12 – 17
Evangelium: Lukas 15, 1 – 3.11 b – 32
Liedvorschläge
Eingangslied: EG 289 Nun lob, mein Seel, den Herren
Wochenlied: EG 353 Jesus nimmt die Sünder an
Predigtlied: EG 274 Der Herr ist mein getreuer Hirt
Schlusslied: EG 331,11 Herr, erbarm, erbarme dich
Liebe Gemeinde,
eine Familie hat sich dazu entschlossen, die große Wiese am Haus nicht länger zu mähen, sondern zwei Schafe darauf zu stellen. Das geht eine ganze Weile gut. Die Schafe bekommen auch ein Lämmchen, das ganze Glück der Kinder. Doch eines Tages sind die Schafe weg. Alle drei. Die Familie ist aufgelöst! Die Eltern rennen durchs Dorf und suchen ihre Schafe. Sie malen sich aus, was passiert sein könnte. Sie überhäufen sich mit Vorwürfen. Sie beschuldigen sich gegenseitig. Und die Kinder trauern um ihr Lämmchen.
Ja, das mit dem Verlieren ist so eine Sache. Es löst Angst aus, Panik, Wut und Reue – und vielleicht auch Traurigkeit und Trauer. Warum eigentlich? Das meiste ist doch zu ersetzen! Ob wir eine Urangst vor dem Verlust in uns haben, weil wir wissen: Eines Tages werden wir einmal alle verlieren und alles? Was bleibt dann noch von dem, wonach wir jetzt so sehr streben? Gibt es denn nichts, was auch im Tod noch unverlierbar ist – oder darüber hinaus?
„Gott“, würden die Konfis jetzt vielleicht sagen, weil auf solche Fragen diese Antwort ja eigentlich immer passt. Aber stimmt das? Kann man Gott wirklich nicht verlieren? Hören wir das heutige Predigtwort.
Textlesung
Liebe Gemeinde,
die erste Antwort auf unsere Frage heißt von diesem Predigtwort her offensichtlich: Ja, auch Gott kann man verlieren.
Dem Hirten ist ein Schaf verloren gegangen. Die Gründe werden nicht genannt. Ist der Hirte abgelenkt gewesen? Hat er keinen Hund dabei gehabt, der die Schafe zusammentreibt? Ist beim Schaf die Gier nach guter Nahrung größer geworden als sein Herdentrieb? Ist seine Aufmerksamkeit für den Hirten, für seine Stimme, für den
Klang seines Steckens auf dem Felsen verloren gegangen? Hat etwas
anderes seine Aufmerksamkeit geweckt und es fortgelockt?
So geschieht es eben auch, dass Menschen den Kontakt zu Gott verlieren.
Alle möglichen Stimmen werden wichtiger als die Stimme Gottes. Dann treffen wir Vorsorge für alle möglichen Ereignisse und vergessen, dass alles, was kommt, in Gottes Hand liegt und dass er versprochen hat, für uns zu sorgen. Ja, dann tun wir solches Vertrauen als naive oder gar dumme Sorglosigkeit ab.
Alle möglichen Erwartungen, die von Menschen an uns herange-tragen werden, fordern unsere ganze Aufmerksamkeit, so dass Gottes Gebote in den Hintergrund rücken. Dann wird im Ge-schäftsleben eine Härte von uns erwartet, die mit der Liebe zum Nächsten nichts mehr zu tun hat. Und das wird für uns völlig normal. Nein, wir wollen keinesfalls als Weicheier gelten, mit denen man alles machen kann. Sonst kommt morgen ein skrupelloser Kollege und zieht die Dinge so durch, wie es die Geschäftsleitung wünscht.
Unser ganzer Alltag, im Berufsleben, aber auch in der Familie, in der Nachbarschaft, im Verein, in der Politik und wo immer wir eingebunden sind – unser ganzer Alltag hat die Angewohnheit, uns von Gott wegzuziehen.
Von Gott entfernt und ihm entfremdet zu sein, das ist es, was die Bibel „Sünde“ nennt.
Nun sagt Jesus: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut!“
Worauf bezieht sich dieser Satz im Gleichnis vom verlorenen Schaf? Wo tut es denn Buße? Es lässt sich doch einfach nur vom Hirten auf die Schultern nehmen und nach Hause tragen.
Das ist das Einzige: Das Schaf wehrt sich nicht. Wie sollte es auch! Es hat in seiner Verlorenheit längst gemerkt, dass es nirgendwo besser aufgehoben ist als in der Nähe dessen, der es lieb hat und ihm nachgeht, es auf die Schultern nimmt und nach Hause trägt.
Viele Menschen geht es ähnlich. Sie haben längst festgestellt: Der Alltag ohne Gott und sein Wort ist ein bitterer Alltag. Und alle Versuche, diesen Alltag aus eigenen Kräften zu verschönern und lebenswert zu machen, führen in noch tiefere Verzweiflung hinein.
Manche mögen mit missionarischem Eifer die Meinung vertreten, eine Welt ohne Gott und Glauben wäre friedlicher und lebenswerter. Andere aber haben im 20. Jahrhundert die Kälte und Grausamkeit eines atheistischen Regimes am eigenen Leib und der eigenen Seele erfahren – und suchen neu nach Gott.
Das Schaf lässt sich gerne vom Hirten nach Hause tragen. Das, liebe Gemeinde, heißt: Buße tun! Sich von Gott annehmen las-sen! Sich von Gott tragen lassen! Sich von Gott in seinem Leben auf ein lohnendes Ziel ausrichten lassen, sein Zuhause, auf sein Reich!
Kann man Gott verlieren? Das war unsere Ausgangsfrage. Die erste Antwort heißt: Ja, man kann Gott verlieren! Aber Gott in seiner großen Liebe sucht die Verlorenen, um sie zu retten.
Aber noch eine zweite Antwort hält unser Predigtwort bereit. Diese Antwort heißt: Es gibt etwas noch Schlimmeres als Gott zu verlieren! Jesus sagt am Schluss: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“
Dieser Satz lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den ganz großen Teil der Herde, der zusammen geblieben ist. Wo lässt der Hirte diese Schafe? Es heißt: „in der Wüste“! Warum aber dort? Die Wüste ist doch ein ganz lebensfeindlicher Ort, wo die Schafe kaum das Nötigste zu fressen finden! Und dann auch noch ohne den Hirten! Wenn der Hirte die Herde in der Wüste zurücklässt, dann lässt er sie in ihrer Verlorenheit zurück!
Noch interessanter ist die nächste Frage: Wohin nimmt der Hirte das gefundene Schaft mit? In die Wüste zum Rest der Herde? Anscheinend nicht, denn nichts davon erzählt Jesus! Er fährt in seiner Erzählung so fort: Nachdem der Hirte das Schaf gefunden und sich auf die Schultern gelegt hat, sagt Jesus nur: „Wenn er heimkommt…“
Anscheinend geht Jesus davon aus, dass der Hirte bei seiner Heimkehr das eine Schaf noch auf den Schultern trägt, während die 99 in der Wüste geblieben sind. Sie sind sich selbst genug. Sie brauchen keinen Hirten – und werden das Zuhause des Hirten nie finden.
Seine Geschichte hat Jesus begonnen mit den Worten: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?“ Die Antwort, auf die Jesus bei seinen Zuhörern abzielt, heißt: „Keiner! Wer ist denn so blöd?“
Ja, so blöd – wenn Sie so wollen – ist nur Gott! Er geht dem Verlorenen nach. Und lässt die zurück, die sich mit den Verlo-renen nicht abgeben wollen. Das sind die, die den Weg des Suchenden nicht mitgehen, bis sie mit dem Verlorenen vereint sind. Sie begnügen sich lieber mit der Wüste ihrer Frömmigkeit und Selbstzufriedenheit. Sie begnügen sich lieber mit der Pflege trockener Traditionen und altgewohnter Gemeinschaftsformen – und merken nicht, dass der gute Hirte schon längst woanders ist, da, wo das Verlorene ist.
Liebe Gemeinde, diese Verlorenheit ist schlimmer als die andere. Denn wer glaubt, von Gott längst gefunden und gerettet und geheiligt und gewürdigt zu sein, seine Liebe, seine Vergebung, seine Gnade nicht mehr zu brauchen, der ist wirklich verloren!
Ernst Barlach war Bildhauer. Er schuf die Skulptur „Das Wiedersehen“. Sie erinnert an die Begegnung des Auferstandenen mit Thomas, dem Skeptiker. Solch ein Skeptiker war auch Ernst Barlach. Denn wenn man genau hinschaut, meint man, im Gesicht des Thomas das des Bildhauers zu entdecken. Er hat sich selbst in diesem zweifelnden Menschen wieder gefunden.
Weniger bekannt ist, dass Ernst Barlach auch Dramen ge-schrieben hat. Eines heißt: „Der Graf von Ratzeburg“. Diesen lässt der Dichter sagen, was Ausdruck seiner eigenen Überzeu-gung war: „Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich.“
Demnach hätte sich Barlach auch in dem verlorenen Schaf wieder entdeckt – und sich darüber gefreut, gefunden worden sein, dass Gott ihn nicht losgelassen hat.
Mit seinem Gleichnis aber richtet sich Jesus nicht nur an alle, die sich in Barlach, Thomas oder dem verlorenen Schaf wie-derfinden. Mit seinem Gleichnis richtet sich Jesus vor allem an die, die von sich sagen: „Ich habe meinen Glauben!“ Und sie meinen vielleicht tief im Herzen: „Ich habe Gott! Und wer nicht so an Gott glaubt, wie ich es für richtig halte, und wer sich nicht so zu Gott bekehrt, wie ich es der Bibel entnehme, der ist verloren!“
Ihnen zeigt Jesus auf der Landkarte, wo sie sich befinden: In der Wüste! In der Wüste ihrer Selbstüberschätzung! In der Wüste ihrer Selbstgenügsamkeit! In der Wüste ihrer Selbstvergottung! Denn wer einen Gott hat, der muss sich ja für größer halten als Gott.
Mit seinem Gleichnis geht Jesus in die Wüste zurück zu den 99! Er lädt sie ein, den Weg des guten Hirten mitzugehen, seinen Weg. Er lädt sie ein, mitzugehen in die Verlorenheit des einen Schafes. Er will, dass die 99 erkennen: Diese Verlorenheit ist letztlich auch meine Verlorenheit! Ich bin nicht besser dran als das verlorene Schaf! Ich bin genauso auf den Hirten und sein Erbarmen angewiesen wie es jeder und jede andere.
Die Geschichte von der Familie, die ihr Schaf verloren hatte, geht noch weiter. Irgendwann entdeckten die Eltern ihre Schafe und versuchten, sie einzufangen. Doch sie liefen weg. Da kam ein Mann und sagte: „Ihr müsst das Lamm nehmen und nach Hause tragen. Dann werdet ihr merken, wie die Alten hinter-herkommen.“ So geschah es dann auch. Und die Freude in der Familie war groß.
Liebe Gemeinde! Mit seinem Gleichnis lädt Jesus alle ein, den Weg des Hirten weiter mitzugehen bis nach Hause, die Freude mitzuerleben, die Freude über alle, die den Weg ins Haus Gottes mitgegangen sind, die das Haus Gottes gefunden haben, die gerettet worden sind aus aller Verlorenheit, der frommen Verlorenheit wie auch der unfrommen.
So ist es die Freude, die am Ende steht! Es ist nicht mehr die überhebliche Freude der Frommen über die Verlorenen! Es ist auch nicht die Freude der Verlorenen über alles Scheitern der Frommen und dass Jesus ihnen mit seinem Gleichnis mal eins auf die Mütze gegeben hat!
Am Ende bleibt die Freude an dem Gott, der mit brennender Leidenschaft sucht, was verloren ist! Die Freude an dem Gott, der Menschen zur Umkehr ruft und führt! Am Ende bleibt die Freude an seinem Reich, dem er schon hier und jetzt Gestalt gibt, mitten in dieser verlorenen Welt, um die Freude an Gott auszubreiten und die Freude, sich von ihm suchen und finden zu lassen.
Und wann immer Sie etwas verloren haben, halten Sie einen Moment inne und erinnern Sie sich an den guten Hirten! Er hat Sie gefunden! Er sieht Sie in Ihrer Not – und erbarmt sich von Herzen gerne über Sie. Lassen Sie sich von ihm hineinführen in die größte Freude des Gefundenseins.
Amen.
Verfasser: Pfarrer Dr. Reiner Braun
Grüner Weg 2, 35232 Dautphetal
Referat Ehrenamtliche Verkündigung
Markgrafenstraße 14, 60487 Frankfurt/Main,
Telefon: 069.71379-140
Telefax: 069.71379-131
E-Mail: predigtvorschlaege@zentrum-verkuendigung.de
in Kooperation mit dem
Pfarrer Dr. Matthias Rost
Zinzendorfplatz 3 (Alte Apotheke), 99192 Neudietendorf
Telefon: 036202.7717-97