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Den Menschen ausgeliefert

von Ulrich Schwemer (64646 Heppenheim)

Predigtdatum : 12.03.2006
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : Invokavit
Textstelle : Jesaja 5,1-7
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Wochenspruch:

Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. (Römer 5,8)
Psalm: 10,4.11-14.17-18

Lesungen

Altes Testament:
Jesaja 5,1-7
Epistel:
Römer 5,1-5 (6-11)
Evangelium:
Markus 12,1-12

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 79
Wir danken dir, Herr Jesu Christ
Wochenlied:
EG 366
Wenn wir in höchsten Nöten sein
Predigtlied:
EG 146 oder
EG 98
Nimm von uns, Herr, du treuer Gott
Korn, das in die Erde
Schlusslied:
EG 96
Du schöner Lebensbaum

1 Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. 2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! 4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? 5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.
7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Hinführung:
Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg im Alten Testament und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Neuen Testament sind bis in den Wortlaut hinein miteinander verbunden. Das Hören des einen Textes lässt immer schon den anderen mitklingen und kann so leicht missverstanden werden.
Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg ist ein Bußruf zum Glauben angesichts der Bedrohung Israels und Judas durch fremde Mächte. Die Bedrohung versteht der Verfasser als Folge von Hochmut und Unglauben. In den synoptischen Evangelien wird dies Bild angesichts der Ablehnung Jesu durch die Juden aufgenommen. Damit beginnt eine sehr problematische Wirkungsgeschichte. Die Ungläubigen sind schnell immer die „Anderen“. Deshalb muss der Text, der an Israel gerichtet ist, doch zugleich ganz bewusst als Rede an Christen gehört werden, will er nicht seinerseits selbstgerecht gelesen, gehört und verstanden werden.
Liebe Gemeinde!
Eigentlich scheint alles klar zu sein. Ich höre einen Text, ich kenne das Bild, ich weiß, wer spricht und wer gemeint ist. Doch wie trügerisch kann das Ohr sein. Leicht führt mich mein Hören aufs falsche Gleis.
Ein bisschen geht es mir mit dem Hören wie mit dem Warten auf einen Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Ich stehe auf dem Bahnsteig und sehe schon recht lang im Voraus die Züge ankommen. Vorsichtig tasten sie sich durch das Gewirr der Gleise im Vorfeld, machen unerwartete Schwenks und manchmal weiß ich bis zum Einfahren in den Bahnsteig nicht, ob das wirklich schon mein Zug ist, oder ob der Zug gerade noch mit einem letzten Schwenk in ein anderes Gleis einfahren wird.
Höre ich auf biblische Texte, so erliege ich leicht der Versuchung zu glauben, diese Texte kämen eindeutig und unverwechselbar, eben eingleisig daher. Da gibt es keine Weichen, keine Überraschungen, sondern nur die Überzeugung: „Es steht doch geschrieben!“ Schnell bin ich mit dem Wort „Wahrheit“ zur Hand. Ich ordne die Personen des Textes meinem Vor-Verständnis zu. Ich weiß, wer warum welche Strafpredigt zu hören bekommt – in unserem Falle also „die Juden“ – und sehe mich allzu leicht als den ungefährdeten Zuschauer und Zuhörer, der sich durch seinen Glauben schon auf der sicheren Seite wähnt.
Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg hat dieses Schicksal im Laufe der christlichen Verkündigung immer wieder erlitten. Die Strafpredigt Gottes über Israel wurde gehört als eine Rede gegen das Volk Israel, das seinen Glauben nicht bewahrt und das deshalb wie ein unfruchtbarer Weinstock ausgerottet werden kann. Diese Deutung verstärkt sich um so mehr, als im Neuen Testament das Lied vom unfruchtbaren Weinberg in den Evangelien aufgenommen wird, nun aber die Arbeiter im Weinberg – wieder „die Juden“ – selber böse sind und schließlich den Sohn des Weinbergbesitzers umbringen.
So hat eine 2000-jährige christliche Verkündigungsgeschichte dieses Lied vom unfruchtbaren Weinberg zumeist als eine Rede über das „halsstarrige Volk Israel“ gehört, das schon immer den Geboten Gottes nicht gefolgt sei und das schließlich auch Jesus von Nazareth nicht als Messias, als Erlöser und Gottes Sohn anerkannt habe.
Fast selbstgerecht kann ich dann diesen Text hören. Ich kann sagen: „Ich bin nicht wie dieser da“ – und werde so wie der im Christentum so sehr geschmähte selbstgerechte Pharisäer. Denn ich fühle mich auf der sicheren Seite, ich sehe mich in der Gnade Gottes stehen. Und so höre ich nicht mehr das Bedrohliche dieses Textes, schaue zu wie bei einem Unfall auf der Straße und bin froh, nicht selber Opfer zu sein.
Doch wie sehr höre ich dann diesen Text mit christlichen Scheuklappen und mit schalldämpfenden Ohrwärmern. Wie sehr überhöre ich, dass mit diesem Lied vom unfruchtbaren Weinberg auch und gerade ich als Christ angesprochen werde, gerade weil dies voreingenommene Hören uns Christen über Jahrhunderte hin unfähig gemacht hat, unsere Verantwortung für das jüdische Volk zu erkennen und unsere Verwurzelung im jüdischen Glauben des Alten Testaments als Teil des eigenen Glaubens wahrzunehmen!
Nehme ich meine christlichen Scheuklappen ab, schaue ich mich etwas weiter in der christlichen Geschichte um, bleibt mir fast der Bissen im Munde stecken. Wie sehr ist dieses Lied vom unfruchtbaren Weinberg in der christlichen Tradition auf dem falschen Bahnsteig angekommen. Wie lange diente dies Lied gemeinsam mit den neutestamentlichen Arbeitern im Weinberg Christen als Begründung für das Recht, Juden nicht nur ihren Glauben abzusprechen sondern auch ihre Existenzberechtigung.
Verfolgungen, Pogrome, Verleumdungen, Erniedrigungen waren die Folge dieses gefilterten Hörens. Vor allem wurden Christen durch solches Miss-Verstehen der biblischen Botschaft zumeist unfähig, in den dunkelsten Zeiten der Vernichtung der Juden in Europa in den Konzentrationslagern, ihre Stimme für das geschundene Volk zu erheben.
Ist dieser Zug auf dem falschen Gleis angekommen, weil ich seinen Abfahrtbahnhof nicht kenne. Hat er einen letzten, unerlaubten Schwenk genommen, weil ich die Weinberggeschichte losgelöst höre von ihrem eigentlichen Zusammenhang?
Die Worte Gottes im Munde Jesajas sind eine Drohrede, ohne Zweifel.
Sie richten sich gegen das halsstarrige Israel, ja!
Aber sie wenden sich an die Gläubigen, die in dem Gewirr der Großmachtspielchen der israelitischen Könige die Grundlagen ihres Glaubens zu verlieren drohen. Es sind Worte, die mahnen wollen, nicht töten, bewahren, nicht vernichten. Leider hat die Geschichte vom Untergang Israels und Judas in den Kriegen gegen die Assyrer und die Babylonier den warnenden Worten des Propheten Recht gegeben.
Doch eigene Glaubensüberheblichkeit ist unangebracht. Denn, wenn ich diese Geschichte höre, kann ich mich nicht getrost im Sessel zurücklehnen und mich nicht angesprochen fühlen. Ich muss die Geschichte für mich und meine christliche Gemeinschaft als Warnung und Bußruf hören. Der Weinberg, den sein Besitzer wegen Unfruchtbarkeit zerstören will, bin ich. Recht verstehen kann ich diese Rede nur, wenn ich nach dem Versagen des eigenen Glaubens frage. Und versagt hat das Christentum über Jahrhunderte durch Lieblosigkeit, Unverständnis und Verfolgung gegenüber dem jüdischen Volk. Mich selber darf und muss ich aber auch fragen: Wo habe ich im Glauben versagt, bin unfruchtbar geblieben?
Wenn heute in unserem Land wie eine zarte Pflanze jüdische Gemeinden wieder entstehen, weiß ich doch, dass auch sie schon wieder bedroht sind durch rassistische Parolen und antisemitische Vorurteile. Der Bibeltext mahnt mich, dieses nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Er erinnert mich daran, dass ich aus meinem Glauben heraus eindeutig und klar Positionen zu beziehen habe, wenn Menschen in der Mitte meines Volkes diskriminiert und auch tätlich angegriffen werden.
Leider sind in den Zeitungen fast täglich Berichte über Übergriffe auf Ausländer, Andersfarbige oder gesellschaftliche Randgruppen zu finden. Demonstrationen von Neonazis sind in großen und kleinen Städten immer wieder eine Herausforderung an die Gesellschaft im Allgemeinen, aber besonders auch an uns Christen in der Gesellschaft, rechtzeitig den Anfängen des alten Ungeistes zu wehren.
So öffnet mich, recht verstanden, dieses Wort des Propheten Jesaja für meine Verantwortung als Christ in meiner Gesellschaft. Wenn der Weinberg nicht mehr zerstört werden soll, weil er doch – wenn auch recht kleine – Frucht bringt, muss ich meine Stimme erheben gegen alle Unterdrückung, gerade weil Jesus für mich bis in den Tod gegangen ist. Amen.

Verfasser: Pfr. Ulrich Schwemer, Theodor-Storm-Str. 10, 64646 Heppenheim

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