Der barmherzige Samariter
von Felizitas Muntanjohl (65549 Limburg)
Predigtdatum
:
17.09.2000
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
11. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
1. Mose 4,1-16a
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Wochenspruch:
Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40)
Psalm: 112,5-9
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 4,1-16a
Epistel:
1. Johannes 4,7-12
Evangelium:
Lukas 10,25-37
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 388,1+4-6
O Durchbrecher aller Bande
Wochenlied:
EG 343
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
Predigtlied:
EG 237
oder EG 617
Und suchst du meine Sünde
Ich bete an die Macht der Liebe
Schlusslied:
EG 630
Wo ein Mensch Vertrauen gibt
1 Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. 2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer,
5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7 Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod.
Liebe Gemeinde!
Das ist eine der biblischen Geschichten vom Anfang. Aber sie erzählt nicht, wie es die Forschung versucht, was damals vor soundsoviel Jahren erwiesenermaßen passierte. Das interessiert den Erzähler gar nicht so sehr. Sondern in all diesen Geschichten vom Anfang – der Schöpfung, dem Sündenfall, dem Turm von Babel und hier der Brudermordgeschichte – geht es um die Frage: Warum ist unser menschliches Leben so, wie wir es erleben? Warum gibt es diese herrliche Vielfalt an Geschöpfen – und doch ist die Freude immer wieder getrübt? Warum müssen wir uns plagen mit unserer Arbeit, Schmerzen haben bei der Geburt der Kinder; warum gibt es Gewalt und Tod; warum Feindschaft zwischen Völkern und sogar zwischen Brüdern?
Und für all diese Situationen, die in jeder Menschengeneration wieder vorkommen und die uns das Leben oft schwer machen, da gibt es so eine Geschichte am Anfang der Bibel, die sagt: So war es mit den Menschen von Anfang an. Schon die ersten Menschen waren nicht zufrieden, selbst im Paradies nicht, sondern wollten sein wie Gott. Und schon das erste Brüderpaar zerstritt sich und wurde einer des andern Opfer. So ist der Mensch von Anfang an. Das sagen diese Geschichten. Dies geschieht immer und immer wieder. Weil da etwas schief läuft zwischen dem Menschen und Gott und dann auch zwischen den Menschen..
Es sind also keine Geschichten, wie es vielleicht mal gewesen sein könnte, sondern Geschichten vom Menschen, wie er von Anfang an und bis heute ist, ob er nun Adam heißt oder Esau oder Wilhelm, ob Eva oder Ann-Kathrin. Es sind Geschichten zu der Frage: Was läuft hier eigentlich ab unter uns, immer neu und anders, aber im Grunde doch immer wieder dasselbe?
Von dieser Frage her wollen wir also auch die Geschichte der zwei Brüder hören. Als Geschichte von zwei Menschen, die eigentlich zusammengehören, aber so verschieden sind, dass sie aneinandergeraten.
Kain ist der Ältere und sicher auch der Stärkere. Vielleicht ist er auch von der Mutter besonders verwöhnt. Denn wie stolz ist ihr Ausruf bei seiner Geburt: Ich habe einen Mann geschaffen mit Gottes Hilfe!
In den zwei Brüdern sind zwei verschiedene Lebensarten wiedergegeben. Der eine, der mit viel Mühe und Anstrengung dem Boden Früchte abgewinnen will, - und der andere, der eher beschaulich Schafe hütet, nur dann und wann zum mutigen Verteidigen vor wilden Tieren herausgefordert wird. Jeder tut seine Arbeit, aber der eine versteht nicht viel von der Arbeit des andern. Und so denkt jeder vom andern, dass der es doch viel besser hat. Der eine hat nicht so viel körperliches Abrackern, der andere lebt nicht in so großer Gefahr. Der eine kann immer zum Ausruhn und Essen nach Hause kommen, der andere bekommt besonders gute Sachen in seine Tasche gepackt.
Grund für solches vergleichendes Hin- und Herschauen gibt es immer. Unter Geschwistern genauso wie unter Arbeitskollegen, unter Nachbarn wie unter Völkern. Es ist die Angst, zu kurz zu kommen, es ist das heimliche Aufpassen, ob der andere es nicht viel besser, viel leichter, viel schöner hat. Aber wir übersehen dabei leicht, dass wir ja gar nicht so viel wissen von dem Leben des andern. Hat nicht jeder Vorteil auf der einen Seite einen Preis auf der andern, den wir nicht zahlen wollten?
Dieses misstrauische Beäugen findet erst mal nur im Stillen statt. Ausbrechen in hellen Zorn tut es erst, wenn etwas offensichtlich Ungerechtes geschieht.
Anlass bei Kain ist, dass ihrer beider Opfer verschieden angesehen wird. Beide haben, wie es der religiösen Vorstellung früherer Zeiten entsprach, ein Opfer gebracht als Dank und als Bitte an Gott, sie weiter gut zu versorgen.
Dann aber wurde dies Opfer verschieden angenommen.
In meiner Kinderbibel war ein Bild darin, wie Abels Rauch schön und hell nach oben steigt, Kains Rauch aber in einer dunklen Wolke nach unten gedrückt bleibt. So stellte ich mir das lange vor. Vielleicht aber war es einfach ein Unterschied im Erfolg: im Jahr darauf war schlechtes Wetter und die Ernte fiel für Kain schlecht aus, Abels Schafe aber fanden immer grüne Wiesen und gedeihten prächtig. Und daran wird Kain wütend, dass sein Opfer wohl nichts zählt und all seine schwere Arbeit umsonst war.
Das ist eine Lebenserfahrung, die wir auch immer wieder machen: dem einen geht es gut, obwohl er raucht und trinkt und dumme Sprüche von sich gibt oder sonst etwas. Der andere ist krank und elend, obwohl er immer ein freundlicher und bescheidener Mensch war. Diese Ungerechtigkeit – wie wir das empfinden – geschieht immer und immer wieder. Dann sehen wir uns leicht auch von Gott ungerecht behandelt.
Als meine Mutter sterbenskrank war, ertappte ich mich dabei, wie ich jede alte Frau, die einen Kinderwagen schob, mit Neid betrachtete. Warum durfte sie ihre Urenkel spazieren fahren und meine Mutter konnte nicht einmal die Konfirmation eines Enkelkindes erleben? Warum wurden Leute uralt, die ihre Familie und Umgebung nur triezen – und meine Mutter, die überall versuchte zu helfen, musste sterben, obwohl sie noch so sehr gebraucht wurde? (Bitte durch ein eigenes ähnliches Beispiel ersetzen von Verlust, Trauer oder Ungerechtigkeit).
Ich denke, jeder kennt solche Gedanken bei sich, vielleicht selten, vielleicht häufiger. Auch die Frage: warum muss mir das zustoßen? Ist so eine vergleichende, unglückliche Frage. Man wünscht das Unglück ja nicht unbedingt jemand anders. Aber man beneidet den, dem es besser geht.
Als Ausdruck der Traurigkeit und der Hilflosigkeit ist das auch ein ganz natürliches Gefühl. Aber wir müssen doch wissen, dass sie der Anfang sein können für ein verdorbenes Lebensverhältnis, für ein verdorbenes Verhältnis zu den Menschen um mich.
Gott warnt vor dieser Blickweise. Es ist ein geducktes, ein unfreies, ein unzufriedenes Beäugen der anderen. Und schon in diesem Umsichschauen ist die Gefahr angelegt, dass ich dem andern gegenüber grob werde. Grob mit Worten oder mit Gesten oder gar mit direkter gewaltsamer Tat.
Gott aber traut uns Menschen zu, sich dieser Macht in uns entgegenzustellen. Er traut uns Menschen zu, stärker zu sein als das Gefühl der Benachteiligung und der Wut und der Drang nach einem Ausleben der Aggression.
Aber Kain reagiert nicht darauf. Als hätte er es nicht gehört, fordert er Abel auf, mit ihm aufs Feld zu gehen. Denn dort will er‘s ihm zeigen.
So ist das meist mit der Wut. Wenn sie erst mal da ist, hilft kaum noch ein gutes Wort. Dann ist die Kraft so stark, dass sie kaum zu bändigen ist.
Darum sind auch die gewaltbereiten Jugendlichen auf die Dauer eine Gefahr. Sie haben offenbar ein solches Potential an Wut in sich gestaut, dass sie keinen andern Weg der Entladung finden als die Gewalt. Die Gewalt selber erscheint als das einzige Mittel, all die angesammelten Enttäuschungen und Benachteiligungen und Drucksituationen wieder loszuwerden, wenigstens für kurze Zeit. Wie schwer ist es dann, wieder zur Sprache zu helfen oder ein Gefühl der Geborgenheit demgegenüber aufzubauen.
Nach dem Mord ertönt in Kain noch einmal die Stimme. Die Stimme, die nach dem Bruder fragt. Aber Kain versucht sich herauszureden durch die freche Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Also etwa: Braucht der Hirte denn selber einen Hirten?
Und diese Frage ist über die Menschheit hin Ausrede geblieben, um die Augen verschließen zu können vor dem Leid anderer, vor Hilferufen, die uns belasten, und sogar vor dem Unrecht, dass wir an anderen begehen. Soll ich meines Bruders Hüter sein? Mir hilft ja auch keiner, heißt es dann; oder: die sind ja selber dran schuld; oder: der hat mich schließlich provoziert.
Immer wieder der Versuch, sich aus der Verantwortung zu ziehen, mit sich selber genug zu tun zu haben. In unserm Land etwa macht sich jetzt mit der sich wandelnden Wirtschaftsstruktur dieses Denken breit. Jeder versucht, durch seine Art möglichst erfolgreich zu sein, alles an Kosten abzustoßen, was nicht unbedingt sein muss – und das heißt dann konsequenterweise auch, dass ältere Menschen oder häufiger Kranke oder Behinderte, aber inzwischen schon auch einfach ganz normal Beschäftigte, einfach weil sie Lohn wollen, mehr und mehr als Last angesehen werden. Die sich häufenden Bedrohungen und Verletzungen Behinderter durch rechtsradikale Jugendliche sind dann nur der zugespitzte Ausdruck des sich immer mehr ausbreitenden Denkens.
Gott aber schaut auf die Schwachen. Von Anfang an ist Gott mehr auf der Seite der Schwachen. “Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.” Gott achtet sehr wohl darauf. Keines der Opfer von Gewalt ist bei Gott vergessen und vergraben. Die Stimme all derer, die von Stärkeren, Rücksichtslosen und gottvergessenen Menschen gequält werden, kommt bei Gott an und Gott wird das Unrecht verfolgen, auch wenn kein menschliches Gericht dahinter kommen oder sich dafür interessieren sollte.
Gott straft Kain. Und plötzlich fürchtet sich der starke und gewalttätige Kain vor der Einsamkeit und vor der Gewalt. Seine Gewalttat hat auch in ihm selber alles Vertrauen in das Leben zerstört. Er bittet Gott um Milde.
Und so erstaunlich es ist: auch wenn nun Kain ohne Gottes Nähe leben wird, “jenseits von Eden” (so der eindrucksvolle Roman John Steinbecks zu dieser Problematik), so hat Gott doch auch da wieder für seinen Schutz gesorgt und ihn nicht völlig aus seiner Hand gegeben.
Wenn wir uns in Abel hineinversetzen, mag uns das vielleicht zu großzügig erscheinen. Wenn wir aber begreifen, dass auch wir in dieser und jener Situation eher dem neiderfüllten oder wütenden Kain ähneln, - dann kann das unser Trost sein: Gott sucht immer wieder das Gespräch mit uns. Er ruft uns immer neu zurück und lässt uns auch in der Gottesferne nicht ganz allein.
Später dann hat Gott einen andern unsern Bruder werden lassen. Auch er wurde Opfer der Gewalt. Aber Gott machte deutlich, dass in seiner Art zu leben die Zukunft und das Leben steckt.
Von daher können wir neue Hoffnung gewinnen: wir sind nicht einfach Kinder Kains. Wir sind Geschwister Jesu. Und von daher können wir die Kraft finden, stärker zu sein als die Mächte der Gewalt, die uns umgeben. Amen.
Verfasserin: Pfrn. Felizitas Muntanjohl, Theodor-Bogner-Str. 20, 65549 Limburg
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