Der barmherzige Samariter
von Renate Weigel (64380 Roßdorf)
Predigtdatum
:
10.09.2006
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
11. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
1. Mose 4,1-16a
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Wochenspruch:
Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40)
Psalm: 112,5-9
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 4,1-16a
Epistel:
1. Johannes 4,7-12
Evangelium:
Lukas 10,25-37
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 169
Der Gottesdienst soll fröhlich sein
Wochenlied:
EG 343
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
Predigtlied:
EG 268
Strahlen brechen viele aus einem Licht
Schlusslied:
EG 419
Hilf, Herr meines Lebens
1 Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. 2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer,
5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7 Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.
12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Liebe Gemeinde,
über den Brudermord in dieser Geschichte will und werde ich mich nicht aufregen. Er geschieht. Bis zum heutigen Tag. Zwischen Geschwistern, Freunden, Verwandten, Völkern, Rassen, Religionsgruppen. Er geschieht auf vielerlei Weise. Wenn ich die Deutung Jesu aus der Bergpredigt hinzuziehe (Mt. 6,21ff), auch in den Kreisen unserer Kirche tagtäglich.
Ich will Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich viel Verständnis für Kain mitbringe, ja, fast möchte ich von Parteilichkeit reden. Er bringt Gott sein Opfer dar von den „Früchten des Feldes“, aus seiner Lebenswelt, nicht anders, als es Abel tut, der Schäfer, der von seinen Tieren opfert.
Die biblische Geschichte bewertet die Opfer, die ja sehr verschieden sind, nicht, genauso wenig die beiden Opfernden. Sie hilft uns Lesenden auch nicht mit einer Begründung für den folgenden Satz: „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (Verse 4b+5a).
Sie lässt uns im Regen stehen mit der Frage: Warum? Warum nimmt Gott Abel an und Kain nicht? Warum gibt er einem den Vorzug? Weiß Gott nicht, was daraus erwächst?
Ich kann Kain gut verstehen: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster den Blick.“ (Vers 5b). Aus eigenem Erleben kenne ich den heftigen Stich, wenn in einer Bewerbungssituation der andere gewählt wird, und ich kann die Wahl nicht einsehen. Ich weiß auch, wie sich das anfühlt, wenn ich mich eingesetzt und viel gearbeitet habe, mir aber das Ansehen und die Wertschätzung dafür verwehrt bleiben. Da kommen grimmige und finstere Gedanken auf!
An dieser Stelle höre ich in Gedanken einen Satz, der mir schon aus vielen Mündern entgegengekommen ist: „Aber vor Gott sind doch alle Menschen gleich!“ So?, frage ich zurück. Und: Wo steht das „geschrieben“?
Kain und Abel sind nicht gleich vor Gott in dieser Geschichte. Und Gott behandelt sie nicht gleich. Auch sonst „erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.“ (Röm. 9,18). Daran kommt selbst ein Paulus nicht vorbei.
Wir hätten es gerne so: Vor Gott sind alle Menschen gleich, und er behandelt alle gleich, und deshalb ist er ein gerechter Gott. Möglicherweise stellen wir uns mit solchem Denken eine folgenschwere Falle.
Als Krankenhausseelsorgerin jedenfalls komme ich mit solchen Weisheiten nicht weit. Bei mancher Geschichte, die mir erzählt wird und beim Erleben mancher Patientinnen und Patienten kann ich nur denken: Das ist einfach nicht fair! Das ist ungerecht! Das ist zuviel für einen Menschen! Warum muss der oder die so viel aushalten? Warum kann das Kind nicht leben? Warum? Warum? Der „Gott hat uns alle lieb“ bleibt mir im Halse stecken. Ich will nichts von ihm hören. Er langweilt mich zunehmend.
Lieber bleibe ich bei dem Erzähler der Kain-Geschichte. Der versucht erst gar nicht, Hörer und Leser mit einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit zu trösten. Er lässt die Ungleichbehandlung nackt und bloß so stehen. Und ist damit nahe bei dem Erleben vieler Menschen: Es geht nicht gerecht zu im Leben.
Brudermorde - vielleicht ist schlicht und ergreifend immer das die Vorgeschichte: Jemand wurde benachteiligt, vergessen, nicht angesehen, nicht wertgeschätzt und schlägt schließlich zu, grimmig und finster.
Ich stehe noch immer im Regen. Wo ist eigentlich Gott? Was macht er in der Geschichte mit seiner Verantwortung für den Schlamassel? Und, in der Tat, sehe ich Gott auf Kain zugehen. Er spricht ihn an: „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?“
Als ob du das nicht wüsstest, Gott! Oder denkst du etwa, Kain müsste gar nicht so heftig reagieren? „lst’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du den Blick frei erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (Verse 6+7)
Gott nimmt Kontakt auf zu Kain. Offenbar ist das trotz des Ausgangs der Opfergeschichte kein Problem für ihn. Von Gott aus ist nichts verloren, ist Kain nicht verloren. Wohl aber gefährdet.
Gott hat Kain ins Innerste geschaut und schwarzgesehen. Tu’s nicht!, sagt er Kain. Folge jetzt nicht deinem beleidigten Stolz und deinem Zorn. Der Moment, der jetzt kommt, ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.
Ich halte den Atem an - Jetzt, Kain, jetzt gilt’s! Das ist deine Chance! Los! Ich möchte ihn rütteln. Jetzt schleudere Gott deine Verletzung ins Gesicht! Jetzt frage ihn, warum! Schreie, heule, tobe, egal was, aber bringe deinen finsteren Grimm nach draußen, vor ihn! Er redet ja mit dir. Du kannst mit ihm reden. Und du weißt, dass Gott einer ist, der sich bewegen lässt. Später wirst du es tun, du wirst Gott um Strafmilderung bitten und sie bekommen.
Also, auf! Machs wie Abraham, der mit Gott verhandelt wie mit einem Viehhändler um das Leben der Gerechten in Sodom und Gomorrha. (Gen. 18)
Machs wie Jakob, der mit einer Gottesgestalt ringt und nicht locker lässt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (Gen. 32)
Machs wie Hiob, der Gott eine Antwort regelrecht abzwingt.
Nimm dir ein Beispiel an der Syrophönizierin, die trotz Jesu Härte und der Jünger Spott nicht von Jesus ablässt, bis er ihre Tochter heilt. (Mt. 15, 21ff)
Kain entscheidet anders: „Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ (Vers 8).
Ach, Kain!
Es stimmt, ja, Gott hat dein Opfer nicht angesehen. Was auch immer da los war zwischen dir und ihm. Es kommt häufiger vor im Leben, dass wir nicht ankommen, dass uns Unrecht geschieht, dass andere es besser und leichter haben.
Soll ich deswegen mein Leben im Schmollwinkel verbringen? Oder soll ich wie der Kranke am Teich Bethesda bis (fast) ans Ende meiner Tage warten, dass mich einer trägt? (Joh. 5)
Zorn oder Resignation bleiben dem, der erst leben kann, wenn ihm Gerechtigkeit widerfährt.
Kain hat sich für den Weg der Beleidigten entschieden. Diesen Weg will ich nicht mit ihm gehen. Da halte ich mich lieber an die Frauen und Männer in der Bibel, die unverdrossen ihren Weg immer wieder neu suchen und auch erkämpfen, weil sie das glauben: Für den, der Gott vertraut, gibt es Leben und Segen, egal ob er auf der Seite der (angeblichen) Gewinner oder Verlierer steht.
„Steh auf, nimm den Bett und geh hin!“ (Joh. 5, 8) rüttelt Jesus den auf, der sich in seiner Krankheit oder in seiner Kränkung eingerichtet hat.
„Ich bin ganz allein dafür verantwortlich, wie es mir geht. Niemand sonst!“, sagte mir diese Woche eine ehrenamtliche Mitarbeiterin.
Und neulich las ich dieses Wort von Friedrich Rückert:
„Schlägt eine Hoffnung fehl,
nie fehle dir das Hoffen!
Ein Tor ist zugetan,
doch tausend sind noch offen!“
Zu solcher Freiheit helfe uns Gott!
Amen.
Verfasserin: Pfrn. Renate Weigel, Bahnhofstr. 27, 64380 Roßdorf
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