Der barmherzige Samariter
von Manfred Günther (35325 Mücke)
Predigtdatum
:
25.08.2002
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
11. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Apostelgeschichte 6,1-7
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Wochenspruch:
Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40)
Psalm: 112,5-9
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 4,1-16a
Epistel:
1. Johannes 4,7-12
Evangelium:
Lukas 10,25-37
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 388,1+4-6
O Durchbrecher aller Bande
Wochenlied:
EG 343
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
Predigtlied:
EG 632
Wenn das Brot, das wir teilen
Schlusslied:
EG 630
Wo ein Mensch Vertrauen gibt
1 Als die Zahl der Christen in Jerusalem zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Liebe Gemeinde!
Da könnte man über sehr viele unterschiedliche Gedanken sprechen: Über die Ungerechtigkeit - dass die Witwen der einen Christengruppe versorgt werden, die anderen nicht. Über die demokratische Verfassung der ersten Christengemeinde - sie rufen alle zusammen, um über die Fragen abzustimmen. Über den Wert des Dienstes in der Pflege und der Diakonie auf der einen und des Dienstes am Wort Gottes auf der anderen Seite. Über das Handauflegen und die Vermittlung des Geistes Gottes. Über den Grund dafür, warum damals noch so viele Menschen dem Christentum hinzugewonnen wurden, während ihm heute immer mehr den Rücken kehren - auch bei uns. Schließlich könnte man sogar noch über diese - für unsere Ohren ein bisschen spitze Bemerkung - seine Überlegungen anstellen: Es wurden auch Priester dem Glauben gehorsam.
Ich möchte über die Kirche sprechen, die Gemeinde der Christen - damals und heute. Und ich glaube, ich bin damit ganz nah an der Mitte dieser Worten aus der Apostelgeschichte. Vor allem finde ich interessant, was bzw. wer damals die „Kirche“, die „Gemeinde“ war: In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm..., heißt es. Jünger, Kirche, Gemeinde waren offenbar alle, die an Jesus Christus glaubten. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen..., heißt es weiter. Alle, die ganze Gemeinde, soll in dieser wichtigen Frage entscheiden! Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten..., aha, sagen wir uns, alle Macht und jede Entscheidung ging bei den ersten Christen von der Gemeinde aus. - Wie ist das heute?
Gewiss ist das schwierig geworden, in einer Kirche wie unserer evangelischen, die ja wenigstens auf den Karteikarten nach Millionen zählt, demokratische Regeln einzuhalten. Und gewiss kann nicht jede Kleinigkeit vom ganzen Kirchenvolk entschieden werden. Aber ich frage mich und frage sie, ist uns nicht in unseren Tagen in unserer Volkskirche, ganz und gar der Sinn dafür abhanden gekommen, dass wir alle zu dieser einen Gemeinde gehören, die an Jesus Christus glauben? Und mangelt es heute nicht sehr an dem Wissen, dass wir selbst diese Gemeinde sind und nach außen darstellen?
Und das ist ja nicht allein bei der weltweiten Christenheit zu beobachten. Da kann man das vielleicht noch verstehen. Aber auch in unserem Land fehlt es an Gefühl dafür, dass wir in Jesus Christus alle eins sind und eins sein sollen, ob wir nun in München, Hamburg, .......... oder ......... (Orte der Umgebung einsetzen) leben. Ja, nicht einmal in unserem Dorf (unserer Stadt, unserer Gemeinde) haben wir doch noch ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass wir als Christen eine Gemeinschaft bilden, zusammengehören und als Christen alle auch Verantwortung dafür tragen, was andere über diesen Jesus und seine Gemeinde denken. Aber ich will deutlicher reden. Ich will ein paar Beispiele aus dem Leben vor ihre Augen und Ohren stellen:
Ein Kirchenchor aus unserer Umgebung hat neulich vor einer Delegation aus einer Partnerdiözese aus der Dritten Welt einige Lieder vorgetragen. Der Chor hat wohl schön gesungen. Die Pfarrer und der Bischof aus der Delegation waren sehr begeistert. Auch die deutschen Kirchenleute hier aus unserer Gegend waren angetan. Was uns allerdings auffiel: Die Oberen aus dem Kirchenvolk von hier und von dort waren unter sich. Man hatte vergessen, auch wenigstens ein paar einfache Gemeindeglieder einzuladen. Und das, obgleich der Saal, in dem man sich versammelt hatte, mindestens noch 200 Menschen gefasst hätte. Und die Sängerinnen und Sänger aus dem Chor haben sich dabei ertappt, dass bei ihnen nicht einen Augenblick ein Gefühl dafür aufkam, dass diese Menschen aus der Dritten Welt in Jesus Christus zu ihnen gehören, ihre Schwestern und Brüder sind. Es kam ihnen vielmehr so vor, als wären diese Leute Fremde - eben wirklich aus einer anderen Welt.
Ähnlich mag es uns allen gehen, wenn wir unsere jährliche Spende an Brot für die Welt leisten. Denken sie dabei ehrlich daran, dass sie ihren Geschwistern in Jesus von ihrem Wohlstand abgeben? Haben wir bei unserem Opfer überhaupt irgendwelche Menschen aus Fleisch und Blut vor Augen. Steht nicht vielmehr eine gewisse Pflicht im Vordergrund? Mit anderen Worten: Geht es nicht überwiegend darum, dass wir selbst uns mit unserer Spende ein gutes Gefühl verschaffen, dass wir doch wenigstens etwas abgegeben haben oder gar einen Druck unseres Gewissens abbauen, das uns nicht in Ruhe lässt, bevor wir nicht unser Herz und unsere Börse auftun - so beschenkt, wie wir doch mit allem Lebensnotwendigen sind und dazu noch mit vielen Gütern und manchem Luxus!
Eine andere Sache - wir kehren damit in unser Land zurück: Als es vor einigen Jahren darum ging, den Buß- und Bettag als Feiertag abzuschaffen, da hat es bei vielen Christen nur dazu gereicht, eine Unterschrift gegen dieses Vorhaben zu leisten. Gewiss, das war auch schon etwas. Aber wie wir heute wissen, war es zu wenig. Als die PfarrerInnen und Kirchenvorstände dann zu einem besonders zahlreichen Besuch der Bußtagsgottesdiensten aufgerufen haben (- wir haben das auch getan! -) waren diese Gottesdienste eher schlecht besucht! Der Gedanke war: Wir zeigen den verantwortlichen Politikern, dass uns an diesem Tag und seinem Sinn etwas liegt. Herausgekommen ist: Der Bußtag mit seinem Gottesdienstangebot ist den Leuten ja nichts mehr wert! Es geht auch den Christen nur um den freien Tag, nicht um seine Bedeutung. - Und wahrhaftig: Der Besuch des Gottesdienstes am Buß- und Bettag hätte mehr gekostet als eine Unterschrift!
Und noch eine dritte Geschichte (- ganz aus unserer Nähe): Eine deutsche Frau, die aus Russland zu uns gekommen ist, hat an einem Sonntagmorgen einmal ihren Pfarrer gefragt, als sie kaum ein paar Tage in der Gemeinde gewohnt hat. Gibt es hier so wenige Christen? Und sie meinte die 50 oder 60 Menschen, die an diesem Morgen im Gottesdienst waren. Der Pfarrer hat geantwortet - und er war dabei noch sehr vorsichtig in seiner Äußerung: Wissen sie, die Gemeinde ist schon größer; es kommen aber nicht immer alle. –
Dass weit über die Hälfte der Christen heute überhaupt nie mehr in ihre Kirche kommen, hat er sich nicht zu sagen getraut! Die Frau hat dem Pfarrer dann erzählt, dass sich die Christen in Russland in Wohnstuben und manchmal in Scheunen zum Gottesdienst versammelt haben. Oft auch verbotenerweise. Und dann hat sie noch den Satz gesagt, der bei ihrem Pfarrer ganz tief eingedrungen ist: Wissen die Leute hier eigentlich, was sie an ihrer Kirche haben!?
Hören wir jetzt vor dem Hintergrund dieser Geschichten noch einmal die Fragen, die uns heute gestellt sind: Was bzw. wer ist die „Kirche“? Und: Ist uns nicht in unseren Tagen in unserer Volkskirche, ganz und gar der Sinn dafür abhanden gekommen, dass wir alle zu dieser einen Gemeinde gehören, zu denen, die an Jesus Christus glauben? Und mangelt es heute nicht sehr an dem Wissen, dass wir selbst diese Gemeinde sind und nach außen darstellen?
Eine Geschichte aus unseren Tagen, die sich wirklich zugetragen haben soll, mag uns die Antwort geben, Anlass zum Nachdenken und Ansporn, uns zum Guten zu verändern:
Da blieben in einer Kirchengemeinde seit Jahren bei Gottesdienst und jeglichen Gemeindeveranstaltungen immer mehr die Leute weg. Der Pfarrer bemühte sich redlich. Seine Predigten waren tröstlich und interessant. In der Bibelstunde kamen die Fragen des richtigen Lebens nicht zu kurz. Die Frauenabende boten für jeden Geschmack etwas: Erbauliches, Heiteres, Geselligkeit und eine Feier hie und da. Auch die Jungscharen mussten einen Vergleich mit einer Fernsehkinderstunde nicht scheuen. Trotzdem kamen im Laufe der Jahre immer weniger Menschen zu all diesen Kreisen und Angeboten. In der Kirche am Sonntag waren Pfarrer, Küster und Organist mit drei oder vier alten Leuten unter sich. Im Frauenabend saß die Ehefrau des Pfarrers und die alte Meta, die seit Jahrzehnten im Pfarrhaus putzte. Jugendkreis und Jungschar waren längst mangels Masse eingegangen. Da fasste der Pfarrer in seiner Verzweiflung einen Entschluss: Ist sie nun tot, unsere Gemeinde, dann wollen wir sie wenigstens anständig beerdigen!
Und so schrieb er im Gemeindebrief, in der örtlichen Zeitung, hängte Plakate auf und ließ Handzettel in allen Häusern verteilen: Am nächsten Sonntag wollen wir unsere Kirche, die, nachdem sie lange dahingesiecht, endlich still entschlafen ist, zu Grabe tragen. Die Gemeinde ist ein letztes Mal zur Teilnahme eingeladen. –
An besagtem Sonntag kamen die Menschen des Dorfes in hellen Scharen. Und richtig, in der Kirche war ein Sarg aufgebahrt mit aufgeklapptem Deckel. Nach Lied und Gebet hob der Pfarrer mit seiner Ansprache an und kam, kaum begonnen schon zum Schluss: Liebe Gemeinde, so sprach er, da alle Versuche, die Kirche, unsere Gemeinde zu kurieren, fehlgeschlagen sind, da unsere Kirche hier am Ort nach jahrelangem Kränkeln zuletzt nicht mehr zu retten war, müssen wir sie heute zu ihrer letzten Ruhe bringen. Wir tun das, indem wir ihr in langem Zug an ihrem Sarg vorbei die Ehre geben. Wir wollen ihr alle noch einmal ins Angesicht schauen, ihren Anblick zu langem Gedenken in uns aufnehmen und ihr dann für immer Lebewohl sagen und still nach Hause gehen.
Und so geschah es. Der Pfarrer machte den Anfang des Zugs. Dann folgte einer nach dem anderen, Frauen, Männer und Kinder. Ein jeder trat heran an den schwarzen Kasten, beugte sich vor, blickte hinein und ein jeder wich zurück mit Erstaunen und manchmal mit Entsetzen. Denn was ein jeder sah, war nicht das Bild eines Menschen, nicht das Konterfei einer Verblichenen, nicht die Züge eines Toten. Nein, ein jeglicher erblickte sich selbst, sein eigenes Gesicht. - Der Pfarrer hatte einen Spiegel auf den Grund des Sarges gelegt.
Was oder wer ist die „Kirche“? Was haben wir mit den Christen aus der Dritten Welt zu tun? Wie hätten wir denn verhindern können, dass die da oben den Buß- und Bettag abschaffen? Ich bin doch nicht verantwortlich, wenn keiner mehr in den Gottesdienst geht... Was wird uns noch einfallen, uns zu rechtfertigen?
Denken wir daran: Im Sarg lag ein Spiegel! Immer wenn wir über die „Kirche“ reden, sprechen wir über uns selbst. Immer wenn wir „Gemeinde“ sagen, betrifft uns das ganz persönlich. Kirche, das sind wir - oder es gibt sie nicht! Gemeinde lebt durch uns, oder sie lebt nicht mehr. Gott segne unser Nachdenken! Amen.
Verfasser: Pfr. Manfred Günther, Lohgasse 11, 35235 Mücke
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