Der dankbare Samariter
von Reiner Marquard (64625 Bensheim)
Predigtdatum
:
05.09.1999
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
12. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Markus 1,40-45
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Wochenspruch:
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. (Psalm 103,2)
Psalm: 146 (EG 757)
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 28,10-19a
Epistel:
Römer 8, [12-13] 14-17
Evangelium:
Lukas 17,11-19
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 454
Auf und macht die Herzen weit
Wochenlied:
EG 365
Von Gott will ich nicht lassen
Predigtlied:
EG 326
oder EG 606
Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut
Daß ich springen darf und mich freuen
Schlußlied:
EG 181.6
Laudate omnes gentes
Hinführung:
Auf dem Hintergrund einer typischen Wundererzählung entfaltet Markus auch hier wieder im Messiasgeheimnis das Evangelium von Jesus Christus in dessen Begegnung mit einem Aussätzigen. In Hiob 18,13 wird der Aussatz der Erstgeborene des Todes genannt. Lebendig bereits wie tot (vgl. 4. Mose 12,12) kommt in der jüdischen Tradition eine Heilung einer Totenauferweckung gleich.
Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein (3. Mose 13,45f).
Diese beiden Verse bezeichnen das ganze Elend und Ausmaß dieser Krankheit. Der Erkrankung (bitter genug) folgt die Absonderung. Im Zeichen der Totentrauer (zerrissene Kleider, aufgelöstes Haar, verhüllter Bart) muß man sich kenntlich machen und die Bevölkerung so und durch sein Rufen vor sich selbst warnen! Stigmatisiert durch den Aussatz muß sich der Aussätzige nicht nur als Kranker, sondern (in der rabbinischen Tradition) als schuldig Gewordener zu erkennen geben.
Krankheit schränkt ein. Und indem sie einschränkt, stört sie Beziehungsgeflechte. Jesus erzürnt über diesen scheinbar wie selbstverständlich hingenommenen Mechanismus. Er bricht ein in das Getto der Krankheit, indem er dem Kranken begegnet. Durch die Berührung findet eine Entschränkung statt. Daß Wechselwirkungen von Innen und Außen, von Seele und Leib bestehen, kann heute ernsthaft nicht mehr bestritten werden.
Manche geben diesbezüglich vor, mehr zu wissen und produzieren doch nur Enttäuschungen. Andere sind diesbezüglich sehr bescheiden. Zu den Letzteren dürfen wir uns getrost rechnen. Die Verhältnisbestimmung von Heil und Heilung aber darf nicht länger mehr eine bloß akademische Diskussion sein. Der Mißbrauch, der insbesondere in esoterischen Zirkeln getrieben wird, spricht nicht gegen den guten Brauch.
Wir sollen vielmehr hier um Klärungen bemüht sein, die dann auch Einfluß haben auf unseren Gemeindealltag. Bei allem Suchen nach Antworten, nach entsprechenden Liturgien und Ritualen für Menschen in Krankheit - finden lassen sich solche Antworten etc. nur in der jeweils gewagten Hinwendung zum Kranken und in dessen Berührung.
Einer Gemeinde, die in dieser Hinsicht zu wenig Phantasie entwickelt, fehlt etwas Entscheidendes! Es geht nicht darum, sich von eigenen Ängsten instrumentalisieren zu lassen, sondern eben - ängstlich und mutig, mutig und ängstlich - gerade jene wahrzunehmen, die sich durch ihre unheimliche Eingeschränktheit ihrerseits instrumentalisiert erleben und sich wie ausgeliefert vorkommen an jene Geister, die in ihnen ein geradezu ungestörtes Leben führen dürfen.
40 Es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. 43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich 44 und sprach zu ihm: Sieh zu, daß du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. 45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekanntzumachen, so daß Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.
Liebe Gemeinde!
In meinem grünen Reiseführer sind Sehenswürdigkeiten mit zwei Sternchen markiert (**): “Verdient einen Umweg!” Ob Galiläa auch einen Umweg verdiente? Da ist im 1. Kapitel des Markusevangeliums die Rede von vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren (V.34), von bösen Geistern und in unserem Text von einem Aussätzigen. Verdient Galiläa einen Umweg oder ist da nicht erst recht der große Bogen um diesen Flecken Erde angezeigt?!
Unrein, unrein! soll der Aussätzige rufen, soll allein wohnen - außerhalb des Lagers... So ist das: wo Verhältnisse erstickt werden durch erzwungenen Rückzug in die Isolation ist der Tod bereits ins Leben eingebrochen. Viele erleben ihre Krankheit so: “Seit ich krank bin, gehöre ich nicht mehr dazu - die Menschen reden anders mit mir, vieles wird mir vorenthalten - wie ein Schatten liegt die Krankheit auf mir - ich bin nicht mehr frei und die anderen mir gegenüber auch nicht!” Viele hat ihre Krankheit sprachlos gemacht. Sie trauen sich und anderen nichts mehr zu.
Wer bist du eigentlich, Gott? Gibt es da eine Beziehung? Spüre ich etwas von dir in meinem Leben, spüre ich etwas davon, daß du es gut mit mir meinst und gut mit mir machst? Manchmal kommt mir mein Leben vor wie ein verschlungener Weg. Stationen säumen ihn. Stationen, die mich geprägt haben - zum Guten und zum Schlechten. Hier und dort ist mir Vertrauen mitgegeben worden, dort eine bittere Enttäuschung. In dieser Mischung machen sie mein Lebensgepäck aus.
Und wehe, wenn das Päcklein auf dem Rücken mehr und mehr zu einem schweren Rucksack wird, der das Weitergehen beschwerlicher und beschwerlicher macht. In meinem Lebensgepäck ist auch die ein oder andere dunkle Stunde, die ich wohl lieber verbergen möchte. Enttäuschungen, die ich einem anderen Menschen bereitet habe. Ängste in dieser oder jener Gestalt, die ich einfach nicht loswerde, die mich schütteln. Eine Beeinträchtigung meines Lebens, mit der ich mich nur schwer oder gar nicht einverstanden erklären kann, eine regelrechte Behinderung.
Oder umgekehrt: Ich bin mit Kräften ausgestattet, daß ich gar nicht weiß, wohin damit, ein Glück, das unbeschreiblich ist - wie gehe ich damit - im wahrsten Sinne - um? Geht einem irgendwie und irgendwann unterwegs so oder so Gott verloren? Als es mir schlecht ging, spürte ich keine Hilfe und wenn es mir gut geht, brauche ich keine Hilfe?! So oder so ist Gott überflüssig? Schwermut und Hochmut liegen so dicht beieinander!
Der Aussätzige entscheidet sich für den dritten Weg: er verharrt nicht in seinem Elend; er kommt, er bittet, er kniet nieder, er spricht: Willst du, so kannst du mich wohl reinigen! (V.40). Was hat er gemeint? War das das Motiv seines Aufbruchs: Hauptsache gesund...!? Aber kniet man dann vor einem Jesus nieder, von dem man weiß, daß er sich in Kapernaum auch entzogen hat, um an einer einsamen Stätte zu beten (V.35)? Jesus hat nicht nur Kranke geheilt, er hat auch Kranke krank zurückgelassen.
Hauptsache gesund - das konnte seine Parole offensichtlich nicht sein. Warum also kniet dann der Aussätzige vor Jesus? Worum bitten wir Gott? Was erwarten wir von ihm? Ich frage: war der Aussätzige nicht schon da aufgebrochen, als er den Aussatz in sich erkannt hatte als einen Teil seiner selbst? War er nicht schon da aufgebrochen, als er seine Krankheit nicht nur erlebt hatte - so wie heute viele ihre Begrenzung erleben: hart, widerwärtig, ungewollt, sondern als er sich in seiner Krankheit erfahren hatte, als er eingewilligt hatte, daß seine Begrenzung ein Teil von ihm war, daß er nicht nur eine Krankheit hatte, sondern daß er selbst krank war?!
War das nicht sein Aufbruch: jetzt leben wollen, leben können mit dieser Erfahrung?! Irgendwann nämlich kommt der Punkt, da steht eine Entscheidung an: ob man sein Leben immer und immer wieder beklagen will, seine Prägungen, seine Umstände, seine Defizite, oder ob man eine Einstellung findet, mit all dem zu leben, was einen begleitet. Der Aussätzige kniet vor Jesus. Eine Geste der Unterwerfung. Seine Hoffnung hat ihn getragen, sie findet einen Zuhörer. Sein Brückenschlag landet nicht im Niemandsland. Er rührt das Herz Jesu an.
Und es jammerte ihn, und er reckte die Hand aus, rührte ihn an (V.41). Jesus beugt sich herab und berührt den Menschen: Er hat dem Taubstummen die Finger in die Ohren gelegt und die Zunge mit Speichel berührt (Mk 7,33), dem Blinden von Betsaida tat er Speichel auf die Augen (Mk 8,23) und legte seine Hände auf ihn, er ergriff den epileptischen Knaben bei der Hand (Mk 9, 27) wie die Hand der fiebernden Schwiegermutter des Petrus (Mt 8,15). Er berührte die Tochter des Jairus (Mt 9,25) und den Sarg des Jünglings zu Nain (Lk 7,14). Er faßte den Wassersüchtigen an (Lk 14,4) und das blutende Ohr jenes Knechtes des Hohenpriesters, dem einer Gewalt angetan hatte (Lk 22, 51).
Jesus faßte das Elend an. Er nennt das Elend beim Namen: Bartimäus und Lazarus, sie bekommen Namen, sie, die Armen, die Namenlosen. Unter dem Heilen Jesu erklingt das Wort vom ewigen Heil. Gott bleibt nicht aus. Diese Wahrheit – so sagt es Jesus einmal - wird euch frei machen (Joh 8,32).
Frei wozu? Um dort weitermachen zu können, wo man aufgehört hatte, weil einen die Krankheit unterbrochen hatte? Vorsicht: Jesus ist kein Wunderheiler im von uns erwünschten Sinne. Störungsfreiheit garantiert er nicht. Indem Jesus den Kranken berührt, verbindet er sich ja gerade mit dem, was uns so notvoll die eigene Lebensproblematik vor Augen führt. Aber: das ist der Trost und die Ermutigung: Indem Jesus uns an dieser Stelle berührt, trägt uns sein Erbarmen, finden wir Halt und Ziel, wissen uns geborgen. Das ist die Heilung.
Auch der vom Aussatz Geheilte mußte mit seinen Narben weiterleben. Ein Leben ohne Narben wäre ein sehr hoher Anspruch. Aber wenn uns das gelingt, daß wir das, was wir an Aussatz in uns haben, erkennen und in Beziehung setzen zu dem Gott, der uns in Jesus sein menschenfreundliches Antlitz zeigt, der uns beschenkt mit der beglückenden Erfahrung, daß es Leben gibt für jede und jeden von uns, daß uns dieses Glück bescheiden, aber getrost und zuversichtlich macht, auch fröhlich sogar, dann werden wir Jesu heilende Nähe mit Leib und Seele erfahren dürfen.
Als Geheilte werden wir daran erkannt, inwieweit wir selbst bereit sind als Aufgerichtete Umwege zu gehen. So wie Galiläa einen Umweg wert war, so ist es jeder Mensch wert. “Der Nächste steht uns in Wahrheit nicht im Weg, sondern er steht am Rand des Abgrunds als Schutzengel, der uns hindert, aus den Realitäten des Lebens hinaus in die Illusion zu treiben” (Paul Schütz).
Die Kirchengemeinde ist gerade der richtige Ort, wo man das will und wo das geschieht: sich selbst loszulassen, sich bewegen, aufeinander zu, um miteinander zu teilen: das Schöne aber auch das Bedrückende, das Lachen und das Weinen, das Gelingende und Mißlingende, Begabungen und Begrenzungen, Gesundheit und Krankheit. Im Johannesevangelium wird von Jesus berichtet, daß er als der Auferstandene durch verschlossene Türen zu den Jüngerinnen und Jüngern kam (20,19.26). “Friede sei mit euch!” hat er gesagt. Hier beginnt der Glaube! Es berührt mich nicht irgendwer. Es berührt mich Jesus allein. Er tritt durch die verschlossene Tür auch meines Lebens. Er sagt zu mir: Friede sei mit dir! Daß in diesem Augenblick eine Last den Träger wechselt, das spüre ich dann, wenn ich es zulasse, daß Jesus zu mir kommt, mich anrührt und anspricht.
Es gibt die Redewendung, daß etwas ‘den Rahmen sprengt’. Darf das Dunkle ungehindert das Helle behindern? Sind unsere Lebensläufe Gefängnisse, zu denen sich keine Tür öffnet? Der christliche Glaube leugnet nicht, daß uns das Leben mitunter kräftig beschwert. Aber er rechnet eben doch auch mit Durchbrechungen. Die Hoffnung darauf verankert der Glaube in Christus. Freiheit bedeutet im Glauben nicht mehr und nicht weniger als Christus kennen. Für mich ist dieser Glaube eine elementare Lebenshilfe. Helles und Dunkles, Dunkles und Helles gehen in unserem Leben eine wunderliche Mischung ein. Vor Gott darf ich mich aushalten in allen Widersprüchen und allem Bruchstückhaftem. Aus dieser Entlastung heraus darf ich frei sein, diese und jene Last zu tragen. So öffnen sich Türen zueinander und das helle Bild sprengt schon jetzt den dunklen Rahmen.
Sonntag für Sonntag feiern wir dieses Geheimnis, daß Gott in Christus uns nicht ausgewichen ist, daß uns sein freundliches Antlitz berührt. In seinem Kreuz berühren sich Himmel und Erde, so daß wir zu den Geheilten gehören dürfen. Deshalb können wir getrost mit dem Aussätzigen sagen: Willst du, so kannst du mich wohl reinigen! Und wir hören die Stimme Jesu: Ich will’s tun, sei gereinigt. Amen.
Verfasser: Dekan Pfr. Dr. Reiner Marquard, Philippshöhe 9, 64625 Bensheim
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