Wochenspruch: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. (2. Korinther 13,13)
Psalm: 113
Reihe I: 2. Korinther 13,11-13
Reihe II: 4. Mose 6,22-27
Reihe III: Johannes 3,1-8(9-13)
Reihe IV: Römer 11,(32)33-36
Reihe V: Jesaja 6,1-8(9-13)
Reihe VI: Epheser 1,3-14
Eingangslied: EG 166 Tut mir auf die schöne Pforte
Wochenlied: EG 139 Gelobet sei der Herr
Predigtlied: EG 482 Der Mond ist aufgegangen
Schlusslied: EG 157 Lass mich dein sein und bleiben
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden.
2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?
5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.
7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden.
8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.
(9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag das zugehen? 10 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht?
11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an.
12 Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?
13 Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn.)
Liebe Gemeinde,
die Nacht hat es in sich. Sie ist keine leere Zeit, sie ist ein Raum eigener Art. Manche fürchten die Stille der Nacht, weil sie so lang ist und die Gespenster sich nicht bannen lassen. Manche lieben die Ruhe der Nacht. Weil sie so lang ist und Raum bietet für Gedanken, Träume, Ideen, die der Alltag nicht zulässt. In der Nacht macht sich die Seele breit. In der Nacht gelten andere Regeln als am Tag. Sie ist Angstraum. Sie ist Schutzraum. Sie hat es eben in sich. Die Nacht.
Diese Nacht hat es in sich. Diese Nacht, von der uns der Evangelist Johannes erzählt. In einer Art Kammerspiel. Mit zwei Protagonisten. Mit zwei Menschen, die einander noch nie begegnet sind. Jesus und Nikodemus. Warum in der Nacht?
Nikodemus ist ein hoher religiöser Würdenträger, ein Tagmensch. Gewöhnt, dass man ihm den roten Teppich ausrollt. Er ist ein gesellschaftlicher und religiöser Jemand. Zu dem die Menschen kommen mit ihren Fragen zu Gott, Welt und Mensch. Und der schleicht sich im Schutz der Dunkelheit zu einem religiösen Niemand. Warum tut er das? Weil er eine Ahnung hat. Er hört von einem, der Großes verheißt. Göttliches verheißt. Und Nikodemus traut seiner Ahnung. Und klopft an die Tür. In jener Nacht.
Warum aber in der Nacht? Nikodemus hat einen Ruf zu verlieren, und die Nacht bietet Schutz vor den Augen der Öffentlichkeit. Gleichzeitig ist die Nacht nicht nur Schutzraum, sondern auch Zeitraum. Manche Gespräche passen nicht in die Hektik des Tages, brauchen Zeit und Muße. Und irgendwie ist die Nacht ja auch Bild für unsere Seele. Gerade wenn wir im Dunkeln tappen, uns die Gespenster quälen, soll uns doch ein Licht aufgehen, sehnen wir uns besonders nach Erhellung, Erkenntnis, Einsicht.
Und so ist Nikodemus unterwegs. In jener Nacht. Vorhang auf für ein bemerkenswertes und merkwürdiges Gespräch, das keine leichte Kost ist. Weder für Nikodemus noch für uns. Über und in der Szene bleibt etwas Geheimnisvolles, Undurchsichtiges, Jenseitiges. Und das liegt nicht an Nikodemus.
Der steigt höflich in einen Dialog ein mit einer Art Bekenntnis zu diesem Wanderprediger, den er noch nie gesehen hat. Aber von dem er gehört hat. Und was er gehört hat, überzeugt ihn. Das sagt er Jesus. Der könnte sich geschmeichelt zeigen, erfreut sein. Endlich einer, der begreift, wer er ist und in wessen Auftrag er unterwegs ist. Aber mitnichten. „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Jesu Antwort klingt bemerkenswert schroff. Und das hat etwas mit seinen bisherigen Erfahrungen zu tun.
„Denn Jesus wusste, was im Menschen war“, schreibt der Evangelist Johannes direkt vor jener Begegnung in der Nacht. Sie jubeln und staunen, aber das war es dann auch. Wie bei einem Zauberer, der Kaninchen aus dem Hut zieht. Die Begeisterung geht nicht in die Tiefe, ist nicht nachhaltig. Und Jesus spürt das. Leidet darunter. Traut ihnen nicht, den Menschen. Und Nikodemus kriegt das zu spüren. Die Tür zum Haus ist offen, die Tür zu Jesus noch lange nicht.
Aber Nikodemus gibt nicht so leicht auf. Das Wort von der Neugeburt ist für ihn Steilvorlage. Jetzt will er es genauer wissen. So richtig handfest und konkret und nachvollziehbar. So wie ein Kind fragen würde. So wie wir in vielen göttlichen Angelegenheiten gerne manchmal fragen würden, wenn uns nicht im Weg stünde, dass wir irgendwie schon alles wissen oder doch wenigstens glauben sollen. Blinde sehen, Lahme gehen. Die Welt wurde in sieben Tagen erschaffen. Maria war Jungfrau. Ein Säugling bringt Rettung. Wasser wird zu Wein. Im Kreuz liegt Heil. Und nach dem Tod blüht neues Leben. Fragen über Fragen.
Und unser Glaube mutet uns zu, dass unser Verstand keine Antwort bekommt. Jedenfalls keine, die unmittelbar einleuchtet. Wir leben von unseren Erfahrungen in dieser Welt, forschen wie die Weltmeister, füttern unser Hirn mit Fakten und Wissen. Und dann kommt die Bibel daher und verweist auf Dimensionen, die unseren Verstand überfordern. Für die wir ein anderes Sensorium brauchen, für die ein anderes Verstehen gefragt ist. Für die vor allen Dingen Vertrauen gefragt ist. Gegen allen Augenschein, gegen besseres Wissen. Einfach auf ein Wort hin. Das Wort Gottes. Das lebendige Wort, das in Jesus Christus Mensch geworden ist. Was für eine Zumutung.
Die nun auch Nikodemus zu spüren bekommt. Mit seiner überaus praktischen Frage. Menschen werden geboren, indem sie aus dem Leib einer Mutter kriechen. Dann leben sie ihr Leben, werden alt, sterben. Kriecht der Greis dann wieder zurück in den Leib einer Mutter, um in gewohnter Weise von Neuem das Licht der Welt, dieser Welt zu erblicken? Die Vorstellung ist so absurd, dass man lächeln mag. Ein bisschen mitleidig, weil da ein gestandener Religionslehrer steht und Fragen stellt, die wir von Kindern in der Kita gewöhnt sind. Klar, dass es so nicht funktioniert. Aber wie funktioniert es denn? Wissen Sie’s? Und wüssten Sie’s nicht gerne?
Also Hut ab vor Nikodemus, der mutig genug ist zu fragen. Und mit ihm bin ich gespannt auf die Antwort. Aber weit gefehlt. Es kommt keine Antwort. Jedenfalls keine griffige, die alle Fragen erledigt und mich für alle Zeiten getrost auf mein Ende warten lässt. Den Gefallen tut mir Jesus nicht. Ich stehe neben Nikodemus und höre: „Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“
Die Nacht hat es in sich. Diese Nacht hat es in sich. Sie lüftet ein Geheimnis mit einem Geheimnis. Hier kommt kein Wikipedia-Eintrag zum Thema „Neugeburt“, der objektiver und sachlicher Überprüfung standhält. Hier kommt Glaubenswahrheit. Und die verweist uns auf die Taufe und den Geist. Damit sind wir besser dran als Nikodemus, der noch keine Erfahrung mit beidem hat. Wir schon. Wir wissen um den Wert der Taufe und wir wissen um die Wirkmächtigkeit des Geistes. Wissen wir das?
Eigentlich schon. Wenn wir Menschen taufen, ist das der Beginn einer aktiven und eigenen und wachsenden Beziehung mit Gott. Und wenn wir Pfingsten feiern, geht es um Raum für Gottes Geist, der weht, wo er will, aber er will zu und unter die Menschen. Oder kurz gesagt: In Taufe und Geist geht es um Beziehung, um Nähe, um Berührungspunkte zwischen Gott und Mensch. Neugeburt ist kein biologisches, sondern ein geistliches Ereignis. Das sich einstellen kann im Vertrauen auf Gott, der es herstellen, der es stiften kann. Aber das bleibt letztlich Geheimnis. Da können wir fragen, wie wir wollen. Da kann Nikodemus fragen, wie er will. Weil ein Geheimnis davon lebt, Geheimnis zu sein. Und Gott darf seine Geheimnisse haben.
Wir können nicht gut umgehen mit Geheimnissen. Oder mit offenen Fragen. Oder mit unbefriedigenden Antworten. Aber wir werden es wohl müssen. So wie Nikodemus. Der nach den Worten Jesu erst einmal keiner Erwähnung mehr wert ist. Wir erfahren nicht, ob er etwas verstanden hat oder ob er ratlos von dannen zieht. Es steht zu vermuten, dass er am Ball geblieben ist. Am Glaubensball. Einige Kapitel später setzt er sich bei seinen Kollegen für Jesus ein. Und am Ende sehen wir ihn in liebevoller Fürsorge für den toten Leib unter dem Kreuz. Aber greifen wir der Geschichte nicht vor. Bleiben wir in jener Nacht.
Denn die hat es in sich. Für Nikodemus. Der auf klare Fragen keine klaren Antworten bekommt. Aber in jener Nacht nimmt Jesus ihn dennoch in großer Klarheit mit hinein in ein Geheimnis, in Gottes Geheimnis. Und so wird Nikodemus auf seine Weise Vorbild im Glauben. Weil er erkennt und lebt, was Matthias Claudius in seinem bekannten Lied vom Mond und der Nacht so wunderbar gedichtet hat: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.“
Gott wahrt sein Geheimnis. Er lässt uns nicht alles sehen. Und doch ist das, was wir aus gutem Grund ahnen, rund und schön. Mag sein, dass vieles quersteht zu den Erfahrungen dieser Welt, zum Augenschein, der in unserer Welt so viel gilt, dass unser Lachen im Angesicht des Todes bei vielen nur ein mitleidiges Lächeln wert ist: Mit Nikodemus gehen wir durch manche Nacht und wissen doch, dass der Tag anbricht. Das Licht der Welt ist da. Und es lohnt sich, nicht alles ganz genau wissen zu wollen, sondern auf Geheimnisse zu trauen. Die größer sind als unser Verstand. Weil Gott größer ist als unser Verstand.
Sein Friede, der größer ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Lasse uns getrost und getröstet sein in den Nächten, lasse uns mutig und unverzagt durch unsere Tage gehen. Und immer wieder unser Vertrauen auf den setzen, der Anfang und Ende all unserer Fragen ist. Der uns mit hineinnimmt in sein Geheimnis, das dennoch sein Geheimnis bleibt. Der uns nah kommt und bleibt durch Wasser und im Geist. Bis ans Ende. Und darüber hinaus. Sie hätten’s gern genauer gewusst? Ich auch. Aber der Mond ist eben nur halb zu sehen. Und ist doch rund und schön. Amen.
Verfasserin: Pfarrerin Dorothee Wüst, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz, Domplatz 5, 67346 Speyer
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