Der gute Hirte und die Schafe
von Regina Eske-Keller (Prädikantin)
Predigtdatum
:
28.06.2009
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
2. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Lukas 15,1-3.11b-32
Wenn Sie diese Predigt als Word-Dokument erhalten möchten, tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse ein und klicken Sie auf "Abschicken"
Liebe Gemeinde,
als ich den für den heutigen Sonntag vorgesehenen Bibelabschnitt gelesen habe, dachte ich: „Da muss ich die Gemeinde mal mit in meinen Religionsunterricht nehmen.“ – Und das tue ich jetzt mal einfach ein Stück weit. Sicher werden viele die Stelle auch schon seit der Schulzeit kennen. – Vergessen Sie einfach, was Sie schon wissen. Wir sind in der 6. Klasse.
„Erinnert ihr euch? Vergangenen Herbst haben wir auf der Schwäbischen Alb einen Schäfer besucht. Er hat uns erzählt, wie er mit seiner Herde dort als Landschaftspfleger herumzieht. Weiße, braune, gefleckte und auch schwarze Schafe gehören zu der Herde. Jedes sieht anders aus, manche groß, manche klein. Der Schäfer kennt alle seine Schafe. Die Muttertiere haben Namen, er kann die Lämmer den Müttern zuordnen. Beim Scheren hat er ganz engen Kontakt zu ihnen, kennt jeden Körper genau, wacht über das Wohlergehen. Kleine Wunden, Zeckenbisse, Verletzungen, Infektionen erkennt er sofort und versorgt sie. Es ist eine gesunde Herde. Sie ernährt den Schäfer und seine Familie. Auch wenn die Wolle der Tiere heute nichts mehr einbringt, weil sie nicht so weiß und weich ist wie die der gezüchteten Rasseschafe, die ihr Leben in Ställen verbringen.
Vor zweitausend Jahren in Israel war das noch anders, jede Faser Wolle war gefragt, jedes Gramm Fleisch nötig, Landschaftspflege stand eher nicht im Vordergrund. Was aber ebenso war: Der Schäfer hatte eine ganz enge Beziehung zu seinen Schafen.
Und so erzählt Jesus einmal genau davon. Ein Schäfer zieht mit seinen 100 Schafen durch die Steppe, einen ganzen Tag lang. Morgens auf dem noch feuchten Grasland, in der Mittagshitze eher im schattigen Gestrüpp, gegen Abend sucht er einen geschützten Ort. Er macht ein Feuer und setzt sich nieder. Er lässt sein Auge über die Herde gehen und zählt: 1, 2, 3, ... 98, 99,... Da fehlt doch eines? – Noch mal zählen ... wieder 99. Eines ist verloren, so oft er auch zählt. Wo ist es verschwunden? Was soll ich tun?
Jetzt frage ich euch: „Ja, was soll der Schäfer tun, welche Möglichkeiten hat er?“ Die Kinder haben viele Ideen: Den Hund bei der Herde lassen und suchen gehen. Kann der Hund allein aufpassen? Werden nicht andere Schafe weglaufen? – Das Schaf, das nicht aufgepasst hat, ist doch selber Schuld. Vielleicht ist es eh schon zu schwach, nichts mehr wert. Nein, es gehört doch zur Herde. Der Schäfer hat es lieb. - Einfach warten, bis das Schaf von allein zurück kommt. - Mit den Schafen zurückgehen. Nein, die sind ja müde. – Was ist, wenn wilde Tiere kommen? Ist da die Herde mehr gefährdet oder das einzelne Schaf? – Nach langem hin und her ist bisher noch jede Klasse sich einig geworden: Der Schäfer muss losgehen. Er muss das verlorene Schaf suchen. Man kann es doch nicht einfach allein lassen. Das überlebt es nicht. Es wird Angst haben, blöken, damit wilde Tiere anlocken, oder wird sich verletzen und kein Futter finden. Nein, es muss gesucht werden. Die Herde wird es schon allein schaffen mit dem Hund und dem Feuer.
Und genau das erzählt auch Jesus. Der Hirte lässt die 99 allein und sucht das eine verlorene Schaf. Geduldig sucht er. Schließlich hat es der Hirte sogar gefunden. Und was tut er? – Er hält keine Strafpredigt. Er macht keine Vorwürfe. Er zieht ihm nicht die Ohren oder die Beine lang. Nein, er ist gnädig, er greift in das Fell des zitternden Schafes. Er streicht ihm über den Kopf, damit es sich beruhigt. Und dann – dann legt er es sich auf die Schultern. Heimtreiben kann er das vom Umherirren geschwächte Schaf nicht mehr. Den weiten Weg zurück schafft es nicht mehr. Der Hirte ist barmherzig, nimmt es auf die Schultern und trägt es heim.
Einer, der gefunden hat, ist im Glück. Ein Hirte, der sein Schaf heim trägt, kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Er ist einfach froh. Die große Freude hat ihn gepackt. Mein Schaf ist wieder daheim. So geht er überall herum. Er ruft seine Freunde und seine Nachbarn:
Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Und das Schaf? – Das ist sicher auch froh. Es ist ja gerettet!
Hier verstehen die Schülerinnen und Schüler immer ganz leicht, was gemeint ist. Viele haben schon mal als kleine Kinder - so oder so – erlebt, dass sie sich von ihren Eltern getrennt irgendwo vorfanden – verloren waren. Und es war genau so. Die Eltern haben geduldig gesucht, sich einfach gefreut als sie mich fanden, waren gnädig, haben nicht geschimpft, sie haben mich in den Arm genommen, heimgetragen. Und das Geschehen hat mich – und auch meine Eltern verändert: Vertrauen ist gewachsen, auf beiden Seiten.
Aber Jesus redet noch weiter: Er sagt: „Wer ist unter euch, der es nicht genau so macht wie dieser Hirte?“ Könnt ihr nicht alle zustimmen?
Wie weit her das mit dem Zustimmen ist? Nun ja, ich denke mancher empfindet das doch als ungerecht. Denn Jesus setzt der Geschichte dann noch einen drauf: „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“ Der Himmel freut sich über einen, der umkehrt! Und die 99 anderen? Die, die sich Mühe geben, recht und anständig ihr Leben zu leben – den Anschluss nicht zu verlieren? Was ist mit uns? – Keine Angst. Die 99 Gerechten müssen nicht neidisch sein. Es ist nicht schön, verloren zu gehen! Das haben wir ja mit den Kindern eben durchdacht.
Und – die zurückgebliebene Herde profitiert auch: Sie haben es allein geschafft. Das stärkt ihr Selbstvertrauen und den Zusammenhalt. So wie ich manchmal meine Klasse bewusst eine Zeit lang unbeaufsichtigt lasse. Meist arbeitet sie dann viel konzentrierter. Kleine Streiche untereinander lassen sie. Die Unsicherheit schweißt zusammen. Wenn man nicht bei jeder Kleinigkeit die Lehrerin um Rat fragen kann, entdeckt man, dass auch die anderen helfen können und wollen. Und das alles tut der Klasse auch gut.
Aber: Seit Jesus diese Geschichte vom verlorenen Schaf, das der Hirte findet, erzählt hat, schütteln Menschen den Kopf über den Schlusssatz. Das kann doch nicht sein. Mehr Freude über den einen Sünder, mehr Freude an So-Einem?
So nachvollziehbar die Geschichte von dem Hirten mit seinem Schaf ist, hier merken wir, dass Jesus eigentlich etwas ganz anderes bezwecken möchte. Die Geschichte ist ein Gleichnis, so etwas wie eine Fabel, nur mit Menschen. (So erklären es die Kinder.) In den Gleichnissen erzählt Jesus von Gott. Wir dürfen uns ja kein festes Bild von ihm machen. Deshalb erzählt Jesus immer wieder in unterschiedlichen Bildern. Vom Verlorenen erzählt er nach unserem Gleichnis noch von der Frau, die eine verlorene Münze wiederfindet, und von dem Vater, dessen Sohn nach langer Zeit wiederkommt. Wir müssen also verstehen, welche Botschaft hinter den Geschichten steckt. In unserem Fall ist es eindeutig. Es geht darum, dass zusammenwächst, was zusammengehört, um Vollständigkeit und um die Freude, die Dankbarkeit, wenn das Schaf, die Münze oder der Sohn wiedergefunden sind. Der Hirte hat Gutes getan an dem einen Schaf, das er gerettet hat, aber auch an den anderen. Sie können sicher und geborgen sich fühlen. Der Hirte wird auch sie geduldig suchen, sie gnädig trösten und ihnen mit ganzer Barmherzigkeit helfen, wenn das nötig wird. Dank und Freude sind angebracht!
Aber warum erzählt Jesus dieses Gleichnis? Sie ist ein Argument in einem Konflikt. Wir haben heute Glück: Lukas beschreibt gleich am Anfang die Situation, in die hinein Jesus die Gleichnisse vom Verlorenen erzählt.
Es geht darum: „Sage mir mit wen du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.“ Nach diesem Grundsatz beurteilen die Gesetzeslehrer und die Pharisäer, was sie bei Jesus sehen. Die verantwortlichen Männer im Ort sehen, von was für Leuten Jesus umgeben ist. Sie sagen: „Bei diesem Jesus sind Leute, die würde ich nicht mal grüßen.“ Zu Jesus kommen Zöllner, die überhaupt ja nicht nach Gottes Willen fragen. Und die anderen? – Sünder – allesamt!
Sie kommen um ihm zuzuhören. Nun gut, Zuhören kann man ja nicht verbieten. Aber dann lädt Jesus diese Männer zum Essen ein. Er setzt sich mit denen da an den Tisch. So wird der Ärger bei denen, die das aus der Ferne beobachten, größer.
Jesus hört und sieht dieses Murren. Er fängt aber nicht an zu streiten. Er fängt an zu erzählen. Er erzählt unsere Geschichte für die, die über ihn murren. Er erzählt die Geschichte für die, die ihm zuhören.
Ich stelle mir vor, wie die Zöllner und Sünder am Tisch zugehört haben, und auch, wie die murrenden Männer etwas weiter weg zugehört haben. Da geht der Streit zwischen Jesus und den Männern, die sich um ihn wegen seiner schlechten Gesellschaft Sorgen machen, erst richtig los. Einer traut sich und sagt: „Willst du etwa sagen, dass diese Leute da, die da an deinem Tisch..., die von denen wir wissen, dass bei ihnen alles nichts mehr nützt, dass die Gefundene sind?? Willst du sagen: Gott hat an dir und deiner seltsamen Tischgesellschaft seine wahre Freude? Willst du sagen: Die sind nicht mehr verloren? Wir sehen davon nichts! Da ist keiner, der Buße getan hätte. Da ist keiner, der ein neues Leben angefangen hätte. Zöllner sind sie, Sünder – schon vergessen? Du hast sie vielleicht an deinem Tisch gefunden, aber willst du sagen, dass sie deshalb auch Gott gefunden hat? Willst du sagen: Auch Gott geht jedem einzelnen nach? Willst du sagen, Gott gibt sich nicht zufrieden mit uns Gerechten? Willst du allen Ernstes behaupten: Wer mit dir am Tisch sitzt, über den freut sich der Himmel?“
Ganz außer Atem ist der Mann gekommen, der Jesus seine Vorwürfe macht. Aber Jesus sagt: „Du hast mich recht verstanden. Ich sage euch. Genau so freut man sich im Himmel über den einen Sünder, der gefunden wurde. Man freut sich über ihn mehr als über 99 Gerechte, die man nicht zu suchen braucht.“
„Man freut sich im Himmel...“ Hier lernen meine Schülerinnen und Schüler nun noch, dass es bei den Gleichnissen auch immer um Beschreibungen des Reiches Gottes, des Himmelreiches geht. Ja, und wir können heute und hier schon etwas von diesem Himmelreich erkennen, wenn wir erleben, wie die Verlorenen gefunden und angenommen werden. Wir können uns dankbar freuen, wie die Gemeinde wächst, im Vertrauen darauf, dass niemand endgültig verloren geht. In Gottes Reich sollen wir vollständig versammelt sein. Das gibt Hoffnung, dass auch wir gesucht und gefunden werden, egal was wir getan haben, wie wir verloren gingen. Ob wir nun nur geträumt und den Anschluss verpasst haben, oder ob wir abgeirrt sind, weil wir etwas verlockendem gefolgt sind, oder ob wir abhanden kamen, weil wir zu schwach waren zu folgen. Der geduldige, gnädige und barmherzige Gott wird uns suchen, finden und in seine Gemeinde stellen. Die Gemeinde wird dadurch gestärkt im Vertrauen zu sich selbst und in der Liebe zueinander, damit niemand mehr verloren wird. Ist das nicht Grund zu danken und sich zu freuen?
Vielleicht hören Sie das mit, wenn ich Ihnen den so bekannten Bibelabschnitt aus dem Lukasevangelium, Kapitel 15, Verse 1-8 jetzt vorlese:
Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.