Der Herr und sein Volk
von Paul-Ulrich Lenz (63679 Schotten-Einartshausen)
Predigtdatum
:
27.07.2008
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
9. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Römer 11,25-32
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Wochenspruch:
Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat! (Psalm 33,12)
Psalm: 74,1-3.8-11.20-21
Lesungen
Altes Testament:
2. Könige 25,8-12
Epistel:
Römer 11,25-32
Evangelium:
Lukas 19,41-48
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 326
Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut
Wochenlied:
EG 138
oder EG 290
Gott der Vater steh uns bei
Nun danket Gott, erhebt und preiset
Predigtlied:
EG 433
oder EG 434
Hevenu Schalom
Schalom chaverim
Schlusslied:
EG 331, 9-11
Großer Gott, wir loben dich
25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Liebe Gemeinde!
Was ist mit Israel? Diese Frage treibt den Paulus um. Diese Frage lässt ihn seit seiner Bekehrung nicht mehr ruhig werden. Was ist mit meinen Schwestern und Brüdern? Was ist mit meinen Freunden und Bekannten? Wir sind zusammen aufgewachsen unter der Wegweisung des Gesetzes. Wir haben zusammen Gottesdienst gefeiert. Wir haben zu-sammen Gott geehrt im Gebet. Jetzt stehen sie mir feindlich gegen-über – feindlich, weil ich in Jesus den Messias erkannt habe, auf den wir so 1ange gewartet haben. Was ist mit ihnen, die sich gegen den Messias entschieden haben?
Und es geht dem Paulus durch den Kopf: Sie haben so vieles von Gott empfangen: Sie haben die Väter des Glaubens, Abraham, Issak und Jakob; sie haben das Gesetz empfangen; sie sind Gottes Bundesvolk geworden am Sinai; sie haben durch das Wort der Propheten die Verheißungen empfangen auf den Messias hin; sie haben die Schriften, die mir das Wort Gottes sind, der Weg zum Messias – und doch glauben sie nicht an Jesus Christus. Und doch sehen sie in ihm nicht den Sohn des lebendigen Gottes, und doch haben sie sich gegen ihn gestellt! Und all das verdichtet sich zu der bangen Frage: Sind sie denn nun verloren? Sind sie denn nun für immer hingefallen, fern von Gott? Da zerreißt es ihm fast das Herz, und er schreit auf: Wenn ich doch ferne von Jesus wäre, damit sie bei ihm sind.
So lieb hat er sein Volk, so lieb hat er seine Brüder und Schwestern, dass er die eigene Rettung drangeben möchte, wenn er sie dadurch retten könnte. Nie ist Paulus näher bei Jesus Christus, näher bei seiner Gesinnung, als in diesem Augenblick: Alles will er drangeben, um die zu retten, die ihn verfolgen mit unerbittlicher Feindschaft.
Halten wir einen Augenblick inne: Was ist mit unseren Brüdern und Schwestern? Bewegt uns diese Frage überhaupt? Werden wir unruhig, wenn wir daran denken: Neben uns leben unzählige Menschen, die genau wie wir die Taufe empfangen haben, die konfirmiert worden sind, die die Heilige Schrift zuhause haben, die wissen, wo Gottesdienst ist, die gesegnet worden sind und denen Gottes große Verheißungen gelten – und doch glauben sie nicht an Jesus Christus, und doch erkennen sie nicht in ihm ihren Retter, ihren Heiland! Bewegt uns das? Stellen wir uns die Frage: Sind sie denn nicht trotz der christlichen Weihen nun für ewig verloren? Sind sie denn nicht trotz allem fern von Gott? Kennen wir den Schmerz und die Angst um die, die nicht glauben? Wenn Paulus gesagt hätte, wie man es heute sagt: Glaube ist Privatsache, solange sie glücklich sind, ist doch alles o.k. – wir wären noch heute Wotangläubige, wären heute noch gefangen in den germanischen Götterkulten mit ihren Ängsten und Unheimlichkeiten.
Wir werden wohl um der Liebe Gottes willen diese Frage stellen lernen müssen und die Unruhe, die sie mit sich bringt, tragen lernen müssen: Was ist mit meinen Brüdern und Schwestern, die nicht glauben? Was ist denn mit mir, wenn ich nicht glaube?
Was ist mit Israel? – so quält sich Paulus ab. Und er bekommt von manchen Christenbrüdern eine Antwort: Dein Volk ist verworfen. Wer Jesus ablehnt, der schließt sich selbst vom Heil aus. Das Heil Gottes, es ist weitergegangen zu den Heiden. Israel hat seine Zeit gehabt, aber nun ist sie vorbei. Der alte Bund ist überholt, und Israel hat den, der den neuen Bund gebracht hat, abgelehnt: nur ein kleiner Rest ist übrig, und du, Paulus, bist einer davon. Freue dich darüber! Du gehörst zu uns, zum neuen Gottesvolk.
Diese Antwort hört Paulus, und er hört sie mitten aus der Gemeinde Jesu. Und immer wieder ist sie in der Geschichte erneuert worden. Gott hat sich von Israel abgewandt, so hat die Kirche gesagt und damit Israel preisgegeben, preisgegeben an den Zorn und die Wut der Welt, die diesem Volk seine Fremdheit nie verziehen hat. Und manchmal ist auch in der Kirche aus dieser Antwort ein Hochmut und ein Stolz geworden, der Israel niedergedrückt hat und dazu beigetragen hat, Israel zu treten: „Wie ein gemästetes, arbeitsunfähiges Tier taugen die Juden nur für die Schlächterei.“ – „Ich will meinen teuren Rat geben, dass man Israels Schulen und Synagogen mit Feuer anstecke, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich“ (Martin Luther). Das sind Worte zum Entsetzen, und sie haben schreckliche Folgen gehabt: sie waren ein Teil des Nährbodens, auf dem die KZs erstellt wurden, Teil des Bodens, auf dem die Gaskammern hochgezogen wurden, auf dem die Millionen von Leichen jüdischer Kinder, Frauen und Männer aufgehäuft worden sind. Sie sind ein Teil des Nährbodens, auf dem heute noch Sätze wachsen wie „Juda verrecke!“ und „Die Juden sind an allem schuld“. Das sind schrecklichen Folgen dieser selbstgemachten und selbstgefälligen Antwort: Israel ist verworfen, das Heil ist bei uns.
Ja, es ist eine selbstgefällige, hochmütige und lieblose Antwort. Und – es ist nicht Gottes Antwort! Denn Gottes Antwort ist das Geheimnis, das Rätsel, das Paulus hier enthüllt. Gottes Antwort ist das, was wir mit unserem Verstand nicht fassen können und was Gott doch tut:
Die Zeit für Israels Blindheit dauert nicht ewig! Es ist nur zu wahr: Israel ist taub und blind für den Messias Gottes. Israel in seiner Gesamtheit hat sich gegen Jesus gestellt. Daran ist nicht zu deuteln und zu rütteln. Und damit, mit dieser Ablehnung Jesu, ist Israel geworden wie die Heiden: es ist eingeschlossen in den Unglauben. Es ist nicht mehr fähig, sich aus der Gottesferne selbst zu lösen.
Eingeschlossen in den Unglauben: das ist wie ein Käfig mit einer Tür. Aber diese Tür hat keinen Öffner von innen. Sie hat kein Schlüsselloch von innen. Wer in ihr sitzt, der kann nicht mehr heraus. Und nun sagt Paulus: In diesem Käfig sitzen wir alle, Heiden und Juden. Denn wir alle sind blind für die Wirklichkeit Gottes: die Juden für die Wirklichkeit Gottes, wie sie in Jesus Christus auf dieser Welt sichtbar geworden ist, und die Heiden genauso. Wir alle haben unser Herz an Götzen gehängt, ob sie nun Wotan oder Manitu, ob sie Fortschritt oder Reichtum, ob sie Glück oder Gesundheit heißen: da ist keiner, der Gott wirklich erkannt hätte. Da ist keiner, der aus diesem Käfig durch eigene Kraft herausfinden könnte. Und da helfen auch alle Versuche nicht, es doch zu schaffen. Da hilft nicht der Gesetzesgehorsam Israels, dieser Schlüssel findet kein Schlüsselloch. Da hilft nicht die Versenkung in das eigene Ich, dieser Schlüssel findet kein Schüsselloch! Da hilft nicht die Hingabe an Allah, der Islam, dieser Schlüssel findet kein Schlüsselloch. Eingeschlossen in den Unglauben sind wir alle miteinander, sind wir alle miteinander verloren.
Aber das ist nicht al1es: Gott lässt den Käfig nicht zu. Gott lässt uns nicht eingeschlossen in dem Unglauben. „ …auf dass er sich aller erbarme.“ Das ist Gottes letztes Wort. Der Unglaube wird überwunden, nicht durch unseren großen Glauben, nicht durch unseren großen Gehorsam, nicht durch unsere bessere Einsicht. Durch Gottes Barmherzigkeit wird das Gefängnis des Unglaubens aufgeschlossen. Gott kommt und öffnet die Tür, die wir nicht öffnen können, von außen. Er kommt zu uns Menschen, die wir ihn nicht kennen, damit wir ihn kennen lernen können. Gott erbarmt sich unser. Und dieses Erbarmen wird in Jesus Christus sichtbar unter uns. Er ist Gottes Barmherzigkeit in Person. Er ist es, der kommt und hinwegräumt, was uns von Gott trennt, der Stein um Stein von der großen Mauer, die wir zwischen Gott und uns aufgehäuft haben durch unsere Schuld, wegträgt auf seinem Rücken.
Und nun seht: so wendet sich Gott uns allen zu. Von diesem Erbarmen ist keiner ausgeschlossen, wie sehr er sich auch gegen Gott gestellt haben mag. Paulus selbst, der sich so gegen Jesus gewandt hat, – er ist das lebenden Zeugnis dafür, dass Gottes Erbarmen in Jesus stärker ist als aller Unglaube. Das ist die Gewissheit des Paulus: Wenn Jesus mich gerettet hat, wie sollte er sich daran hindern lassen, meine Brüder zu retten, für die er doch ans Kreuz gegangen ist? Nicht an Jesus vorbei – durch sein Erbarmen hofft Paulus für Israel.
Weil er in Jesus ins Herz Gottes geschaut hat und dort nur eines fand: Barmherzigkeit, deshalb hat Paulus Hoffnung, Hoffnung für sein Volk. Deshalb sagt Paulus: Auch Israel ist nicht ausgeklammert, wenn es um die Rettung geht. Es kommt der Tag, da wird den Juden ein Licht aufgehen. Es kommt der Tag, da wird das ganze Israel gerettet werden, da werden sie ihrem Retter, dem Messias, dem Christus Jesus gegenüber stehen – nicht mehr in der Feindschaft, sondern im Glauben, nicht mehr im Hass, sondern besiegt von seiner Liebe. Dieser Tag ist das Ziel der Geschichte Gottes. Mit Heiden und Juden, mit Schwarzen und Weißen, mit Gelben und Braunen wird Gott dann zusammen sein – mit uns allen. Darauf läuft alles zu. Das wird dann die Erlösung sein – die Erlösung, in der der Unglaube überwunden ist durch Gottes Erbarmen, in der die Sünde weggetragen ist durch den geliebten Sohn.
Bis dahin aber lasst uns festhalten in der Hoffnung für Israel! Lasst uns festhalten in der Hoffnung für die Schwestern und Brüder! Lasst uns festhalten an ihnen in der Liebe, die keinen abschreibt, weil wir wissen: Gottes Erbarmen ist größer als unser Unglaube, und Gott bleibt sich treu: Er lässt seine Gaben und Berufungen nicht zunichte werden – weder die an Israel noch die an uns.
Verfasser: Pfarrer Paul-Ulrich Lenz, Leonhardstr. 20, 61169 Friedberg
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