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Der kommende Erlöser

von Oliver Albrecht (65527 Niedernhausen)

Predigtdatum : 05.12.1999
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 2. Advent
Textstelle : Jesaja 63,15-16.(17-19a).19b; 64,1-3
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Wochenspruch:

Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. (Lukas 21,28)

Psalm: 80,2-7.15-20

Lesungen

Altes Testament:
Jesaja 63, 15-16 (17-19a) 19b; 64,1-3
Epistel:
Jakobus 5,7-8
Evangelium:
Lukas 21,25-33

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 69
Der Morgenstern ist aufgedrungen
Wochenlied:
EG 6
Ihr lieben Christen, freut euch nun
Predigtlied:
EG 11
Wie soll ich dich empfangen
Schlußlied:
EG 16
Die Nacht ist vorgedrungen

Ich lese als Predigttext nur Jesaja 63,15-16!

Israel ist nicht im Urlaub, sondern im Exil, gefangen und vertreiben nach Babylon. Auch nicht nur zwei Wochen im Winter, sondern über 50 Jahre. Es denkt über seine Geschichte nach, und Jesaja bringt es auf den Punkt: Leute, da stimmt einiges nicht. Aus einer längeren Rede lese ich einen kurzen Abschnitt vor, in dem Jesaja feststellt: Auch auf die Tradition können wir nicht mehr bauen.
15 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

Liebe Gemeinde,
vielleicht fahren Sie ja in diesem Winter noch in Urlaub. Neben dem üblichen - daß Sie schönes Wetter haben und gut wieder nach Hause kommen - wünsche ich Ihnen dieses Jahr noch etwas Besonderes. Ich wünsche Ihnen, daß Sie so richtig nette Leute kennen lernen.
Wissen Sie: Menschen, bei denen Sie sofort spüren: Mit denen kann ich mehr als über das Wetter oder die Gastronomie am Urlaubsort reden. So eine Begegnung, die gleich von Fröhlichkeit und Verständnis geprägt ist: Man wollte sich nur Sonnencreme ausleihen, aber noch drei, vier Sätzen merkt man: das ist ja alles ganz ähnlich wie bei uns. Und gleichzeitig ganz anders.
Das Reizvolle an Bekanntschaften im Urlaub ist für mich: Lebensgeschichten hören und erzählen. Mal nicht schon alles wissen. Mal ein unbeschriebenes Blatt sein. Ein weißes, unbeschriebenes Blatt, auf dem man die Geschichte des Lebens noch ‘mal neu schreiben kann.
Es gibt vier Stufen der Annäherung, der Vertrautheit bei so einer Begegnung. Auf der ersten, seien wir ruhig ehrlich, das gibt man auch ein bißchen an, macht sich ein wenig interessant. Das ist, wenn es nicht dabei bleibt, auch gar nicht verwerflich. Das gehört einfach zur Kontaktaufnahme dazu: Kein Mensch zeigt einem Wildfremden zuerst seine dunklen Seiten. Man signalisiert ganz einfach: Eigentlich sind wir ganz nette Menschen. Man setzt im Gespräch ein paar bunte Farbtupfer und zeigt damit: Es könnte spannend sein, uns kennen zu lernen. Kontaktaufnahme heißt: Finden wir einander interessant?
Wenn Sie jemand finden, der Sie interessiert, werden Sie zweitens bald Lebensentwürfe austauschen: So haben wir alles organisiert; Lebensgeschichten vergleichen: So habe ich mich entwickelt. Bei allem Hin und Her und Auf und Ab: Auf der zweiten Stufe wird sich alles noch ganz schlüssig und plausibel anhören. Kein Mensch wird erfahren, warum Sie solange auf Ihr erstes Kind warten mußten. Niemandem werden Sie sagen, warum Ihre Mutter wirklich ins Heim mußte.
Manchmal, gegen Ende des Urlaubs, oft am letzten Abend, werden Sie die dritte Stufe erreichen: daß man einander die Wahrheit sagt. Vielleicht in der Gewißheit, sich nie wiederzusehen - aber immerhin: Sie sprechen es einmal aus. Sie nehmen den dunklen Seiten in Ihrem Leben die Macht des Namenlosen: Das alles gehört zu meiner Geschichte dazu.
Dann ist der Urlaub zu Ende.
Moment, werden Sie sagen: Es war doch von vier Stufen die Rede. Ja, genau: Weil unser Urlaub immer zu schnell zu Ende ist, deswegen gibt es noch unsere Kirchengemeinde. Die Gemeinde ist die Fortsetzung des Urlaubs mit anderen Mitteln.
Es ist nämlich so: Im Urlaub wie in der Gemeinde haben wir die Chance zu Begegnungen außerhalb der Zwänge unseres Alltags. Hier wie dort können wir wieder neugierig werden - auf andere und auf uns selbst. Doch ist kein Urlaub so lang, daß wir mit unserer Lebensgeschichte fertig werden.
Wo werden wir hängen bleiben? Genau an dem Punkt, den ich eben als dritten bezeichnet habe: Wir werden uns trauen, von den dunklen Seiten unseres Lebens zu erzählen. Aber, das ist meine Erfahrung: Es wird beim Erzählen bleiben. Es wird nur die Geschichte sein und das heißt: Wir haben nachgedacht über unseren Schmerz und unser Versagen. Wir haben diese dunklen Seiten irgendwie eingeordnet in unser Leben, ja wirklich eine Geschichte daraus gemacht, die man erzählen kann.
Und die große Gefahr in einer Zeit, in der man über alles zu reden gelernt hat und nicht mehr peinlich ist: daß man sich an seine Geschichte gewöhnt. Routiniert wird.
Kennen Sie das: Da erzählt einer wirklich schlimme Dinge aus seinem Leben. Erst erschrecken Sie. Und dann merken Sie: Das hat der schon zu oft erzählt, das berührt den nicht mehr. Und Gott sei’s geklagt: Wenn’s uns ‘mal wirklich schlecht geht, machen wir’s genauso. Weil man zu oft gefragt wird, dieses blöde “wie geht’s” gefragt wird, legte ich mir halt irgendwann eine offizielle Version meiner persönlichen Katastrophen zurecht. Möglichst so, daß sich die Nachfrage erübrigt. Am besten: bis ich auch selbst keine Fragen mehr habe.
Stufe vier erreiche ich, wenn ich über meine Geschichte wieder erschrecken kann, wenn ich merke: Das stimmt doch hinten und vorne nicht, was ich hier erzähle: anderen und mir habe ich etwas vorgemacht. Stufe vier heißt: aufhören sich zu beurlauben, sich als Person, als Mensch rauszunehmen aus den so stimmigen Geschichten, rauszuhalten aus den Verhängnissen.
Ja, es ist ein Erschrecken. Aber ich behaupte: Wenn es gut geht, ist es das Beste, was einem passieren kann.
Wie kann man das erleben, diese vierte Stufe? Auf drei Weisen:
Erstens: gar nicht. Ein Großteil der Menschen ist noch nicht einmal im Leben über sich selbst erschrocken. Die meisten Menschen leben und sterben dann auch mit 3-4 mehr oder weniger guten Geschichten.
Zweitens: unfreiwillig, durch eine Katastrophe familiärer, beruflicher oder gesundheitlicher Art. Dadurch, daß von einem auf den anderen Tag deutlich wird: Es hat nicht so gestimmt, wie ich es wahr haben wollte.
Drittens: auf einer festen Basis; auf der Basis, daß Ihr und mein Leben noch viel mehr in Ordnung ist, als es unsere noch so guten Geschichten in Ordnung bringen könnten. Kurz gesagt: durch Gott. Genauer: durch eine persönliche Beziehung zu Gott.
Mich zum Beispiel befreit diese Beziehung manchmal, noch viel zu selten, alles immer schon wohlgeordnet und sinnvoll zu sehen, wo in meinem Leben - wie in Ihrem vielleicht auch - so viel Unordnung und Sinnlosigkeit ist. Ich spüre oft, daß Gott mich so nimmt, wie ich bin. Dann merke ich, wie anstrengend es war, mir selbst den Boden unter den Füßen zu bereiten.
Anderes Beispiel: der Predigttext. Jesaja begreift, daß ein Vater nicht sein Vater ist; daß sein Vater nichts von ihm wissen will, ihn nicht einmal mehr kennt. Es ist eine der schlimmsten Entdeckungen, die ein Mensch in seiner Lebensgeschichte machen kann: ob geistlicher oder leiblicher Vater oder auch Mutter, wenn die mich nicht mehr kennen. Wenn meine Lebensgeschichte auf einmal ohne Anfang ist.
Jesaja hat das erst begriffen, nein richtig: Er konnte diese Erkenntnis erst zulassen, als Gott ihm wie ein Vater wurde. Herr, du bist doch unser Vater - welche Entlastung für Väter, Töchter und Söhne, wenn wir das spüren!
Ich möchte an dieser Stelle eins klarstellen: Gott ist nicht der, der unsere Geschichten kaputt macht. Gott hat keine Freude daran, wenn unsere Lebenslügen zusammenbrechen. Und wer ihn so darstellt: als Auge, das in jeden Winkel schaut, als überirdischen Kriminalbeamten, der sollte sich fragen, wie solche Gottesbilder in seine Lebensgeschichte hineingeraten sind. Im günstigsten Fall durch einen Irrtum.
Dieses Gottesbild hat jedenfalls erschreckend viel kaputt gemacht.
Gott hat mit unserer Lebensgeschichte, und da gehören unsere Lebenslügen nun einmal dazu, nur so viel zu tun: Er will uns so festhalten und liebhaben, daß uns unsere Lebenslügen auf einmal vollkommen bescheuert vorkommen.
Was heißt das für unsere Gemeinde? Zunächst ‘mal Urlaub. Eine wichtige Aufgabe unserer Gemeinde ist Urlaub vom Alltag. Ein Freiraum in unseren ganzen Zwängen, wo anderes Miteinander, tiefere Begegnung möglich ist.
Urlaub in allen vier Stufen: Wir können hier erstens ziemlich viel interessante Menschen finden. Meine Erfahrung: Es sind eher die spannenden, die interessanten Leute, die sich in ihrem Leben mit Gott befassen. Weil sie nicht immer alles schon wissen, sondern noch mit Überraschungen rechnen.
Wir können zweitens Lebensentwürfe austauschen, uns beraten und helfen in allen Lebensphasen: Wie lange hast du gestillt, wie viel Taschengeld bekommt dein Kind, wann geht dein Mann in Rente?
Und manchmal, nicht erst in den letzten Jahren, gab es drittens in Gruppen unserer Gemeinde eine Vertrautheit wie am Abend des letzten Urlaubstages. Eine Atmosphäre, in der wir uns die Wahrheit anvertrauen konnten.
Ziel aber bei allem, was wir hier machen ist, daß es viertens nicht beim Erzählen bleibt: daß wir unsere ganzen mehr oder weniger schönen Geschichten hinter uns lassen und vor Gott entdecken, wer wir wirklich sind.
Es ist klar, daß es für diese Entdeckung einen sehr, sehr geschützten Raum braucht. Ich bin der Überzeugung, daß es dazu zweier Dinge bedarf:
1. Jeden Tag 15 Minuten Stille Zeit mit Gott, wo ich die Hände in den Schoß lege oder falte und zu Gott spreche: Das also war dieser Tag, Herr. Und darüber müssen wir jetzt einmal reden.
2. Gruppen von 6-8 Menschen, Hauskreise, mit denen ich das zusammen tun kann, die mich erinnern, die nachfragen, wie es mir geht und vor allem: die mich liebevoll daran hindern, daß mein Leben zu ein paar schönen Geschichtchen erstarrt.
Das wäre doch ein Ziel: richtig zu leben. Die ganze Unfreiheit loswerden. Die Angst hinter sich lassen, den Zwängen entkommen,
Nicht nur an 20, sondern an 365 Tagen im Jahr. Denn das ist der Unterschied zwischen Urlaub und Kirche.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie aufhören, sich vergebliche Mühe zu geben. Damit Sie spüren, wie Gott sie hält. Amen.

Verfasser: Pfr. Oliver Albrecht, Fritz-Gontermann-Str. 4, 65527 Niedernhausen

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