Der Schmerzensmann
von Sigurd Rink (64285 Darmstadt)
Predigtdatum
:
02.04.1999
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
Gründonnerstag
Textstelle
:
Lukas 23,33-49
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Wochenspruch:
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Johannes 3,16)
Psalm: 22,2-6.12.23-28 (EG 709/710)
Lesungen
Altes Testament:
Jesaja (52,13-15);53,1-12
Epistel:
2. Korinther 5,(14b-18).19-21
Evangelium:
Johannes 19,16-30
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 76
O Mensch, bewein dein Sünde groß
Wochenlied:
EG 83
oder EG 92
Ein Lämmlein geht
Christe, du Schöpfer aller Welt
Predigtlied:
EG 84
oder EG 85
O Welt, sieh hier dein Leben
O Haupt voll Blut und Wunden
Schlußlied:
EG 96
Du schöner Lebensbaum des Paradieses
I Annäherung an die Predigtaufgabe
Die Perikope für den Karfreitag erzählt die Todesstunde Jesu. Vielen HörerInnen wird sie gerade an diesem Tag vertraut sein. Wenn auch der Karfreitag nicht mehr der bestbesuchte Gottesdienst evangelischer ChristInnen ist (darin wurde er von Heiligabend abgelöst), versammelt sich doch eine große Gemeinde, die diesen Tag würdig begehen will. Darunter sind auch weite Teile der Kerngemeinde.
Bestimmte Worte des Textes sind zu Schlüsselworten der Christenheit geworden. Sie finden sich im Luthertext fettgedruckt. Teilweise sind sie so geläufig, daß sie schon sprichwörtlichen Charakter haben (“Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun”). Der Text ist so dicht erzählt, daß sich die Predigt notwendig auf einen Schwerpunkt konzentrieren muß.
II Begegnung mit dem Predigttext
Theologisch kann man an diesem Text ein breites Spektrum an Überlegungen festmachen. Wieso wissen die Soldaten nicht, “was sie tun”? Wieso stand das Volk, das eben noch jubelte da “und sah zu”? Wieso spotten die “Oberen”? Wieso wird der Übeltäter noch heute mit Jesus “im Paradies sein”? Was bedeutet der Satz Jesu: “Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!”? An diesem Text kann man eine Kreuzestheologie festmachen. Er stellt den Gipfel einer paradoxen, d.h. scheinbar widersprüchlichen Entwicklung dar. Jesus, der Mensch, der Sohn Gottes, der in allem war wie wir, nur daß er ohne Sünde war (Hebräerbrief), erleidet den schlimmsten Tod eines Verbrechers. Ein Unschuldiger wird gekreuzigt. Und die Spötter, die Gaffer, die Soldaten leben munter und unbeschwert ihr Leben weiter, so, als wäre nichts gewesen. Wie läßt sich das erklären?
Man kann sich dieser Aufgabe auf zweierlei Weise nähern. Zum einen wird da eine Wirklichkeit beschrieben, die wir selbst in abgeschwächter Form immer wieder erleben. Unschuldiges Leiden etwa von Kindern ist uns bekannt. Zum anderen läßt sich die Geschichte auch theologisch deuten. Der Mensch ist in einen Freiheitsraum gestellt, den er zum Bösen und zum Guten nutzen kann (s. 1. Mose 3: Sündenfall). Hier, auf Golgatha, findet der Mißbrauch der menschlichen Freiheit ihren schlimmsten Auswuchs. Gott bindet sich an seine Schöpfungsordnung und greift nicht mehr ein. Kann oder will er nicht mehr eingreifen?
III Folgerungen für die Predigt
Das paradoxe Geschehen auf Golgatha muß so gut wie möglich verständlich werden. Gleichzeitig gilt es, im Blick auf die Erfahrungen der Hörer das Leiden nicht zu verdrängen, sondern es ernst zu nehmen. Die Theodizee-Frage: “Warum läßt Gott das Leiden zu” steht an Karfreitag wie sonst selten im Raum. Der Skopus meiner Predigt lautet also:
“Ich möchte die Leidenserfahrungen meiner Hörer ernst nehmen und zugleich verständlich machen, wieso mit Gottes Schöpfung notwendig Leiden verbunden ist.”
33 Als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. 34 Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. 35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. 36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig 37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! 38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.
39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! 40 Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? 41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! 43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei.
46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.
47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! 48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. 49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Liebe Gemeinde,
an Karfreitag nähern wir uns der dunkelsten Stunde des Lebens Jesu. Nach ungefähr 33 Jahren Leben und nach drei Jahren öffentlichen Wirkens wird Jesus verfolgt, gefangengenommen, verurteilt und schließlich gekreuzigt. Mit diesem Tag - oder sollten wir besser sagen: dieser Nacht - auf Golgatha kommt ein Leben zum Abschluß, das wie kaum ein anderes Gottes Spuren aufgenommen hat und ihnen gefolgt ist. Ein Mensch, der sich aufrichtig bemüht hat, Gottes Willen gemäß zu leben, der Gottes- und Nächstenliebe gepredigt und gelebt hat, muß den schwersten aller möglichen Tode selbst erleiden: Die Folterung und das Ende am Kreuz.
Wie paßt das zusammen?
Auch wir kennen solche Erfahrungen von unschuldigem Leiden. Werden wir überraschend schwer krank, fragen wir uns: “Wieso muß das gerade mich treffen?” Sehen wir ein verunglücktes Kind, fragen wir uns unwillkürlich:
“Mein Gott, warum mußte das diesem kleinen, unschuldigen Wesen passieren?” (Mein Großvater, der sehr alt wurde, so alt, daß er manche seiner Kinder überlebte, fragte sich: “Warum lebe ich noch, aber sie müssen sterben?). Die alte Frage, die hinter all diesen Fragen steht, lautet: Wieso läßt Gott das Leiden zu? Und zugespitzt: “Wieso läßt Gott das Leiden Unschuldiger zu?’-
Man kann mit dieser Frage sehr unterschiedlich konfrontiert werden. Vielleicht bin ich selbst davon betroffen und frage mich, wieso es mir so ergeht. Vielleicht stehe ich neben jemandem, der gerade leidet und weiß gar nicht, wie ich ihm helfen soll. Vielleicht besuche ich auch gerade die Schule oder Hochschule und setze mich ganz theoretisch mit dieser Frage auseinander: Wie läßt sich eine Welt denken, in der solche Leiden stattfinden?
Je nachdem, wo und wie man mit dieser Frage nach dem Leiden konfrontiert wird, wird man ganz unterschiedliche, vielleicht manchmal auch gar keine Antworten finden.
Am schwersten ist es wohl, wenn man noch nicht einmal selbst leidet, sondern indirekt mitleidet. Aber auch eigenes Leiden ist schweres Leiden. In solchen Momenten merken wir, wie allein letztlich doch jeder Mensch mit sich und Gott ist. Martin Luther hat einmal gesagt: “In unserem letzten Stündlein sind wir allein.” Und er hat recht gehabt. So lieb uns auch unsere Freunde, Lebenspartner, Kinder sind, so sehr müssen wir doch auch schwere Wege alleine gehen.
Jesus ist dabei ein Urbild. Natürlich hat er gute Freunde, Jünger, Eltern, Geschwister gehabt. Aber in seinen letzten Stunden, im Garten Gethsemane und auf Golgatha ist er allein. Und dies nicht deshalb, weil sein Tod besonders schwer war oder er ein besonders starker Mensch gewesen war. Nein, so wie er werden auch wir eines Tages allein sein, sei es in einer schweren Lebenskrise oder auch angesichts unseres Todes.
Da können noch so gute Freunde da sein: sie werden diesen Weg nicht mit gehen und sie können ihn auch nicht mitgehen. Was Jesus auszeichnet: auch in dieser letzten Stunde trägt ihn ein volles Gottesbewußtsein. Er klagt: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” und er betet schließlich: “Ich befehle meinen Geist in deine Hände.”
Dieses Gottesbewußtsein, daß er sein Leben lang eingeübt hat und das ihn nun, in der Stunde seines Todes, trägt, können wir uns nur wünschen. Wir wissen nicht, ob wir die Kraft dazu haben, in dieser Stunde vor Gott zu klagen, vielleicht sogar anzuklagen, und schließlich ihm unser Leben zu übergeben.
Wie aber, wenn wir eigenes Leiden nicht erleiden, sondern “nur” indirekt davon betroffen sind? Wenn wir neben einem Menschen stehen und nicht wissen, was wir sagen sollen? Wenn wir eine Hand halten, aber ein Kloß im Hals uns die Kehle zuschnürt?
Es gibt Zeiten, da ist jedes Wort zuviel. Da heißt es einfach nur, Leiden auszuhalten. Da hilft kein gutes Wort, keine noch so gut gemeinte Geste. Da hilft vielleicht - wenn überhaupt - nur dasein, zuhören, schweigen. Der Leidende wird schon von sich aus äußern, was er möchte, was er braucht. Vielleicht ein Glas Wasser. Vielleicht eine Hand, die ihn umbettet. Vielleicht auch ein stilles Gebet.
Gott weiß, wieso er uns dann schweigen läßt. Der natürliche Reflex ist da auch ganz genau der richtige. Nicht plappern, nichts mit Worten zudecken: alles zuviel. Schweigen, dasein, vielleicht sogar auch einmal den Leidenden allein lassen.
Etwa so, wie die Jünger Jesus am Kreuz allein gelassen haben. Nicht aus bösem Willen, sondern aus Einsicht.
So schwer wie das eigene Leiden und das fremde Leiden sein kann: erklärt ist dadurch doch noch gar nichts. Und so kommt es immer wieder vor, daß ich mir in hellen, klaren Zeiten meines Lebens Gedanken machen über das Woher? und Wohin des Weges?
Wieso also läßt Gott das Leiden zu, frage wir mich, auch dann, wenn ich selbst einmal ganz unbetroffen davon bin, Leid und Krankheit weit weg sind, so, als gäbe es sie gar nicht und – wenn überhaupt – nur als eine Möglichkeit, fern, fern am Horizont...
Und dann denke ich nach philosophisch, theologisch, kommen ins Grübeln über Gott und die Welt und die Schöpfungsordnung.
Und plötzlich merke ich: eine Welt ganz ohne Krankheit, Leiden, Schicksalsschläge, die kann ich mir gar nicht vorstellen. Nicht daß ich irgendetwas davon schön fände. Aber wie sollte sie aussehen, diese Welt, in der nur eitel heiter Sonnenschein herrscht? Sollten Menschen unsterblich sein? Sollten Mensch und Tier immer gesund sein? Sollte es keine Grenzen im Leben geben?
Im Nachdenken merke ich: es ist gut, daß Gott die Welt so geschaffen hat, wie er sie geschaffen hat. Und daß er nicht ständig in seine Schöpfungsordnung eingreift, um dies und das zu korrigieren.
Ein Leben ohne Ende, ohne Ziel: das wäre für mich eine eigenartige Vorstellung. Ich freue mich darauf, die Staffel des Lebens eines Tages an meine Kinder und Kindeskinder weiterreichen zu dürfen und selbst – wie es in der Bibel heißt – “lebenssatt” zu sterben.
Ein Leben so ganz ohne Krankheit: eine eigenwillige Idee. Natürlich sind viele Krankheiten schlimm, entsetzlich. Aber: gab es da nicht auch manche Krankheiten, durch die ich gereift bin, innerlich gewachsen? Wenn ich gesund bin vergehen die Tage wie im Flug. Wenn ich krank bin, komme ich zum Nachdenken. Wichtiges wird wichtig, Unwichtiges wird überflüssig.
Und wie ist es mit der Freiheit des Menschen, dieser Freiheit, die Jesus doch letztlich ans Kreuz gebracht hat? Könnte ich eine Schöpfung denken, in der der Mensch nicht frei wäre, Böses zu tun? Er wäre den Tieren gleich, unschuldig zwar, aber doch auch unwissend, ohne die Möglichkeit eigener Entscheidungen. Nein, so möchte ich Gottes Schöpfung auch nicht sehen. Ich liebe sie so, wie sie geschaffen ist. Bei allem Übel, was auch damit verbunden ist, ja sogar mit den Schatten von Golgatha.
Es gibt ein schönes Wort, das lautet: “Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.” So geht es mir am Karfreitag. Im Nachdenken über die Schrecken menschlichen Leidens und menschlicher Schuld lerne ich Gottes Schöpfung ganz neu kennen und lieben.
Am Horizont des Karfreitags leuchtet schon Ostern hervor. Amen.
Verfasser: Pfr. Dr. Sigurd Rink, Paulusplatz 1, 64285 Darmstadt
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