Der Schmerzensmann
von Volker Jung (36341 Lauterbach)
Predigtdatum
:
21.04.2000
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
Gründonnerstag
Textstelle
:
Hebräer 9,15.26b-28
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Wochenspruch:
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Johannes 3,16)
Psalm: 22,2-6.12.23-28 (EG 709/710)
Lesungen
Altes Testament:
Jesaja (52,13-15);53,1-12
Epistel:
2. Korinther 5,(14b-18).19-21
Evangelium:
Johannes 19,16-30
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 91
Herr, stärke mich, dein Leiden
Wochenlied:
EG 83
oder EG 92
Ein Lämmlein geht
Christe, du Schöpfer aller Welt
Predigtlied:
EG 85
O Haupt voll Blut und Wunden
Schlußlied:
EG 93
Nun gehören unsre Herzen
Hinführung:
Die Predigt erzählt in einem ausführlichen ersten Teil “Die Geschichte eines Knaben” (nach James Krüss; vollständig in: J. Krüss, Mein Urgroßvater, die Helden und ich, Hamburg 1967, 270-284) nach. Damit wird erzählerisch ausgelegt, was es heißt, in einer Welt der “Übertretungen” zu leben, und weshalb es eines “Opfers” bedarf.
Der zweite Teil nimmt den Faden der Geschichte auf und versucht auszulegen, weshalb der Tod Christi als Opfer verstanden werden konnte.
Der dritte Teil ‘aktualisiert’ im Blick auf Hörerinnen und Hörer, was es heißt, am Karfreitag Leiden und Sterben Christi zu bedenken.
15 Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
26 Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. 27 Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: 28 so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Liebe Gemeinde,
in Montenegro, dem Land der Schwarzen Berge, lebte in alter Zeit ein Junge namens Blascho Brajowitsch. Als einziges Kind in der Gegend konnte er lesen und schreiben, weil ein Pope es ihm auf seinen Wunsch beigebracht hatte. Blascho Brajowitsch war anders als die anderen Jungen in seinem Alter. Während diese möglichst schnell lernen wollten, mit dem Gewehr umzugehen, wollte Blascho klug werden. Blaschos Vater, Rade, war ein Hüne von zwei Zentnern. Er war geschickt im Umgang mit Pistole und Flinte. Seinen Sohn pflegte er “das Lamm” zu nennen. Und oft fragte er sich sorgenvoll: “Was wird aus ihm, wenn die Wölfe kommen?”
In jener Zeit gab es in Montenegro die Blutrache noch - eine Krankheit, die sich fortschleppte von Geschlecht zu Geschlecht. Man erschoß Männer von anderen Stämmen, weil diese zuvor Männer des eigenen Stammes erschossen hatten. Mord erzeugte Mord - es war eine verhängnisvolle Kette ohne Ende.
Die Blutrache war eine Sache der Männer. Es war schändlich, an Frauen oder Kindern Rache zu üben. Anfangs hatte Blascho wie die Frauen vor Angst gezittert. Mit zunehmendem Alter hatte er weniger Angst um den Vater, der sehr vorsichtig und geschickt war. Blascho machte sich aber viele Gedanken über das sinnlose Morden der Männer. Man sah Blascho oft mit einer Bibel. In ihr hatte er Sätze gelesen, die er noch nie aus einem montenegrinischen Mund gehört hatte. Er hielt die Sätze für Geheimnisse, die man nicht aussprechen durfte. Da war die Rede davon, daß man seinen Feinden vergeben solle, ja sie sogar lieben solle. Und davon, daß die Friedfertigen selig sind, und daß die in das Himmelreich kommen, die wie die Kinder werden.
Wie weit waren diese Gedanken weg von dem, was Blascho erlebte. Er dachte immer wieder an seinen Onkel Petar. Er selbst hatte ihn blutüberströmt sterben sehen. Einer von den Djuranowitschi hatte ihm die tödliche Wunde zugefügt. In seinem Zorn hatte auch Blascho damals Rache geschworen. Der Tote war inzwischen gerächt. Blaschos Vater hatte den Mörder erstochen. Inzwischen war in Blascho der Gedanke gereift, daß er bei diesem schrecklichen Morden nicht mitmachen würde.
Deshalb war er hoch erfreut, als eines Tages der Vater kam und sagte: “Wir werden mit den Djuranowitschi verhandeln. Es soll Friede sein. Am Freitag treffen wir uns. Und du wirst mein Pferd führen.”
Der Tag der Verhandlung kam. Verhandelt wurde auf einer großen Wiese. Die Familien erschienen in der vorgeschriebenen Ordnung. Rade war der Wortführer seiner Familie. Als beide Seiten wieder anfingen, die vielen Toten gegeneinander aufzurechnen, hielt er eine bewegende Rede. Er sagte: “Wir sind hier nicht zusammengekommen, um die Toten zu zählen. Es soll Friede sein. Wer für den Frieden ist, der stehe auf!” Viele waren Rade dankbar und sprangen sofort auf. Als er mit erhobenen Händen rief: “So sei denn Friede!”, da schrie aus dem Lager der Djuranowitschi die alte Andja, deren Sohn vor kurzem erschlagen worden war: “Nein!” Und Andjas jüngster Sohn zog blitzschnell eine Pistole und drückte ab. Die Menge schrie vor Entsetzen auf. Ein Augenblick hätte genügt, den Frieden zu zerstören, wenn nicht Rade die Hände hochgeworfen und gebrüllt hätte: “Wer ist getroffen?”
Es wurde still. Niemand antwortete. Da rief Rade den Djuranowitschi zu: “Wäre einer der Unseren getroffen worden, so lebte auch dein jüngster Sohn nicht mehr, Andja. Willst du, daß es so weitergeht? Du hast deinem Sohn den Krieg befohlen, nun befiehl den Frieden. Steh auf!”
Als die alte Frau sich langsam erhob, sprach Rade noch einmal: “So sei denn Friede!” Und er schlug das Kreuz. Der Friede war geschlossen.
Die Familien brachen in der vorgesehenen Ordnung auf. Rade rief seinen Sohn. Er sollte das Pferd führen. Und Blascho sagte: “Vater, ich kann nicht. Du mußt mich aufsitzen lassen.” Da sah Rade, daß sein Sohn blaß und gekrümmt im Gras saß. Das Gesicht war blutleer. “Was ist geschehen?”, fragte Rade. Blascho schlug den Hirtenmantel zurück. Er war von dem Schuß getroffen worden. “Bring mich weg, Vater. Sag es keinem. Der Doktor von Podgritza macht mich sicher gesund!”
Rade stand fassungslos vor seinem Sohn. Mit rauher und bewegter Stimme fragte er: “Warum sagst du mir erst jetzt, daß du getroffen bist?” - Und Blascho antwortete: “Sonst hätte es keinen Frieden gegeben.”
Rade sah, daß es seinem Sohn sehr schlecht ging. Er führte das Pferd, auf dem sein Sohn saß. Alle, die noch da waren, sahen etwas Unerhörtes: Der Älteste eines Hauses führte für seinen Sohn das Pferd.
Ein Djuranowitsch rief: “Müssen jetzt im Frieden die Wölfe die Lämmer hüten?” Rade antwortete: “Dieses Lamm hat euren Frieden mit seinem Blut bezahlt. Andjas Sohn hat ihn getroffen. Er hat keinen Laut von sich gegeben ... damit du deinen Frieden hast.” Als sie wußten, was geschehen war, schrien die Frauen auf. Die Männer betrachteten staunend und bewundernd den Knaben auf dem Pferd.
Die Erzählung nach einer Vorlage von James Krüss, liebe Gemeinde, spielt in einer fremden Welt - im Land der Schwarzen Berge, in Montenegro. Es heißt am Anfang: “in einer alten Zeit”!, so als wollte der Erzähler sagen: “Glücklicherweise ist es heute nicht mehr so!” - Wäre es doch so! - Wir denken an die grausamen Ereignisse des letzten Jahres - im Nachbarland Montenegros. Wie oft haben wir gefragt: wer kann die Spirale der Gewalt durchbrechen? Wie kann Frieden werden? Muß denn immer wieder Blut vergossen werden, damit Frieden wird? Welches Gesetz regiert denn diese Welt?
Der Knabe Blascho war beeindruckt von den Worten des Jesus von Nazareth, der die Feindesliebe predigte. Er war davon beeindruckt, daß er sagte: “Selig sind die Friedfertigen!” Er hatte gespürt, daß diese Worte das Gesetz der Welt durchbrechen. Er hatte gespürt, daß mit ihm etwas Neues angebrochen war. Und das hat ihm wohl auch die Kraft gegeben, im entscheidenden Moment zu schweigen, und das Unrecht hinzunehmen - damit Friede werde! Er war bereit, sich zu opfern - damit Friede werde!
Die Jünger und Jüngerinnen Jesu haben auch gespürt, daß mit Jesus etwas Neues angebrochen war. Vielleicht waren es auch die Worte von der Feindesliebe, von denen sie besonders beeindruckt waren. Vielleicht aber auch einfach seine Botschaft von der Nähe Gottes für jeden Men-schen, die er predigte und lebte. Und dann erlebten sie, wie er gekreuzigt wurde. Es bedurfte großer Anstrengungen, um zu begreifen, was da geschehen war.
Von den Worten des Propheten Jesaja her fingen sie an, das Kreuz zu verstehen. Heißt es doch bei Jesaja: “Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.”
Von diesen Worten aus konnte man anfangen zu begreifen: Jesus ist ein Opfer geworden - ein Opfer der Gewalt unter Menschen, ein Opfer von Sünde und Schuld. Er hat sich dahingegeben - damit wir Frieden hätten.
Und so schauen wir auf das Kreuz - an diesem Karfreitag. Wir schauen auf das Kreuz - inmitten einer Welt, in der die Gewalt kein Ende gefunden hat. Wir schauen auf das Kreuz - inmitten einer Welt, in der Menschen Tag für Tag aneinander schuldig werden - in Gedanken, Worten und Werken. Wir spüren, wie wir mitten drin sind in diesem verhängnisvollen Geschehen.
Und jede und jeder von uns darf sich sagen lassen: Er hat sich dahingegeben für deine Schuld - damit du Frieden findest!
Das Kreuz Christi ist das Zeichen menschlicher Gewalt und Schuld. Und es ist zugleich Zeichen dafür, daß das Verhängnis von Gott her durchbrochen ist. Es ist zugleich die Botschaft, die uns sagt: Hört auf mit euren blutigen Opfern! Laßt euch von ihm, von Jesus Christus, hineinführen in den Frieden Gottes!
Und dieser Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Verfasser: Pfr. Dr. Volker Jung, An der Kirche 4, 36341 Lauterbach
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