Der starke Trost
von Dirk Römer (64646 Heppenheim)
Predigtdatum
:
19.09.1999
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
14. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Klagelieder 3,22-26. 31-32
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Wochenspruch:
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.
(2. Timotheus 1,10b)
Psalm: 68,4-7a.20-21 oder 146 (EG 757)
Lesungen
Altes Testament:
Klagelieder 3,22-26.31-32
Epistel:
2. Timotheus 1,7-10
Evangelium:
Johannes 11,1 [2] 3.17.27 [41-45]
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 162
Gott Lob, der Sonntag kommt herbei
Wochenlied:
EG 113
oder EG 364
O Tod, wo ist dein Stachel nun
Was mein Gott will, gescheh allzeit
Predigtlied:
EG 236
oder EG 613
Ohren gabst du mir
Freunde, daß der Mandelzweig
Schlußlied:
EG 347,4-6
Ach, bleib mit deinem Segen
Vorbemerkung:
Jerusalem liegt zerstört am Boden (Klgl. 1,1ff). Die Lage nach der Eroberung der Heiligen Stadt im Jahre 587 v. Chr. durch König Nebukadnezar ist trostlos. Das judäische Königshaus und die Führungsschicht des Volkes sind ins Exil nach Babylon verbracht worden. Zurückgeblieben ist ein Rest, der sich zu Klagefeiern trifft und dabei die in den Klageliedern enthalten fünf Gesänge anstimmt. Totenklage und Leiderfahrung wechseln sich ab mit der Hoffnung, daß Gott seinen Zorn über die Sünden Jerusalems wendet.
Wegen der historischen Nähe zu Jeremia wurden die Texte in der Septuaginta und ebenso in der Lutherbibel dem Jeremiabuch zugeordnet. In der hebräischen Bibel stehen sie jedoch unter den Schriften. Sie tragen die Überschrift ,Wehe’. Innerhalb des jüdischen Gottesdienstes werden die kunstvoll gestalteten Klagelieder (basierend auf der Zahl 22 des hebräischen Alphabets) jährlich zur Erinnerung an die Eroberung Jerusalems (587 v. Chr.) und an die Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) vorgetragen. Eingeständnis der eigenen Schuld, sowie Tiefe und Ernst der Klage können zu einem verborgenen Weg aus dem Zusammenbruch führen.
Das dritte Kapitel mit dem Klagelied eines Individuums bietet sich an als gesonderte Lesung in der Liturgie. Die Verse 27-30 können die Predigt konkretisieren. Zu fragen wird sein, wie und wo heute persönliche und/oder kollektive Erfahrungen von Leid als Klage ausgesprochen werden. Ferner gilt es zu erahnen, wie Gottes Erbarmen heute erhofft wird und sich ausdrückt, nicht zuletzt auch in Bezug auf das Volk Israel.
22 Die Güte des HERRN ist‘s, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. 31 Denn der HERR verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Liebe Schwestern und Brüder!
Ein Mann leidet. Er schreit seinen Kummer heraus. Er muß Elend sehen und ist in die Finsternis, statt ins Licht geführt worden. Er fühlt sich gefesselt und ummauert. Kieselsteine sind sein täglich Brot und Gift sein Getränk. Auf verstopfte Ohren trifft seine Klage. Hohn und Spottlieder werden über ihm ausgeschüttet. Als Spinner und Weichling ist er in Verruf gekommen.
Ein solcher Mann ist Christian in dem dänischen Film “Das Fest”, der zu Beginn dieses Jahres in die deutschen Kinos kam. Der älteste Sohn des Großindustriellen Helge Klingenfeldt wirft seinem Vater bei der Feier zum 60. Geburtstag vor, ihn und seine verstorbene Schwester Linda sexuell mißbraucht zu haben. Die Mutter habe alles gewußt. Sie sei gegen ihren Ehemann nicht eingeschritten. Linda habe sich vor Jahresfrist das Leben genommen, weil sie das familiäre Schweigen über die Untaten des Vaters nicht mehr ausgehalten habe.
Christians jüngerer Bruder Michael versucht, die peinliche Anklage während des Festbanketts gewaltsam zu unterbinden, was ihm trotz aller Aggressivität nicht gelingt. Helene hingegen, die drogenabhängige Schwester, findet in dem schloßartigen Gutssitz der Klingenfeldts einen versteckten Abschiedsbrief von Linda. Die junge Frau bekräftigt darin den Vorwurf des Kindesmißbrauchs gegenüber dem Vater.
Nach einer langen durchzechten Nacht trifft sich morgens die Familie zum Frühstück. Doch der alternde Helge findet dort keinen Platz mehr. Er muß den Raum in das gleisende Morgenlicht verlassen.
Thomas Vinterberg, der Regisseur von “Festen”, so der dänische Titel des Filmes, hat seinen Protagonisten bewußt ihre Namen gegeben:
Linda, die Sanfte, die an der Gewalt in der Welt scheitert. Helene, die Licht ins Dunkel bringt. Michael, der als Racheengel für Ordnung sorgen will, und schließlich Christian, der in einer selbstgewissen Umwelt für die Wahrheit einsteht, auch wenn sie schmerzlich und im fröhlichen Festgetriebe scheinbar unpassend ist. Christian wird von der illustren Abendgesellschaft verachtet und verspottet, doch der aufkommende Tag hilft, mit der ungeschminkten Wahrheit leben zu lernen. - Die Filmjury der Evangelischen Kirche in Deutschland hat deshalb im Januar 1999 “Das Fest” als “Film des Monats” gewählt.
Sexuelle Gewalt in der Familie und in der Nachbarschaft ist an der Tagesordnung, wie uns der Blick in die Tagesschau oder die Tageszeitung leider zeigen. Sicher gibt es eine Verzerrung der Häufigkeit durch die Art, wie die Medien arbeiten. Aber als christliche Gemeinde können wir nicht so tun, als ob uns das alles nichts anginge. Der krankhaft sexuelle Umgang mit Schutzbefohlenen ist Sünde. Er erzeugt Leid, das sich fortsetzt.
Die in einen Menschen eingebrannte negative Erfahrung, läßt ihn nur schwer wieder lebensfroh werden. Der selbstgewählte Tod erscheint als Spitze des Eisberges. Kummer über Kummer, den der Junge oder das Mädchen mit sich herumgetragen hat. Sprachlos und gehemmt, dem Spott der Unbedarften ausgeliefert.
Doch während die eine innerlich zerfressen wird, wendet der andere seine Aggressivität nach außen und wird zum Täter in der zweiten Generation. Unverarbeitet läßt die Erfahrung von Mißbrauch aus dem früheren Opfer einen Nachfolgetäter werden. Das ist wohl gemeint, wenn es von Gott zu Beginn der Zehn Geboten heißt: “Er ist ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.”
Christian, um nochmals auf den Film zurückzukommen, scheint ein Mann zu sein, der durchaus in Übereinstimmung mit den Klageliedern (Vers 27 - 30) “das Joch seiner Jugend” lange getragen hat. Der “einsam und schweigend” da saß. “Der seinen Mund in den Staub” steckte über das, “was Gott ihm auferlegt hat”. Der “die Backe dem darbot, der ihn schlug und ihm viel Schmach antat”.
Können wir uns Gott so grausam vorstellen? Wir müssen es wohl tun, wenn wir die Tiefe des Leidens, die der klagende Beter herausschreit, ernst nehmen wollen und sie nicht vorschnell zu glätten versuchen.
Christian zerbricht an der Dunkelheit Gottes nicht. Er hält “Hoffnung” in aller Ausweglosigkeit für möglich. “Vielleicht ist noch Hoffnung da”, das hört sich wie ein Strohhalm an, den ein Ertrinkender im morastigen See ergreift, um wieder Land unter die Füße zu bekommen. “Denn der Herr verstößt nicht ewig”, bekennt der Beter (Vers 31). Seine skeptische Hoffnung mündet in der Erkenntnis:
“Gott betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte”. Die bittere Erfahrung von übergroßem Leid und die überraschende Rettung daraus ist in das Bekenntnis zu Gott eingeschlossen.
“Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben” formuliert das Apostolische Glaubensbekenntnis für die bittere Erfahrung von übergroßem Leid, wie sie Jesus, den wir den Christus nennen, ertragen hat. “Laß diesen Kelch an mir vorübergehen, aber nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe”, betet Jesus in Getsemane. Damit öffnet Jesus sich der Unfaßbarkeit Gottes.
Christian ist wie Christus in den Strudel Gottes hineingeraten und droht darin zu ertrinken. Gott läßt Jesus und die Jünger an Ostermorgen erfahren: “Die Güte des Herrn ist’s, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu”. Gott erweist sich als der, dessen Treue unendlich ist.
Die Treue Gottes gilt auch allen Opfern von sexueller Gewalt. Allen, die in welcher Form auch immer, unter Mißbrauch ihrer menschlichen Würde leiden. Die sich gefesselt fühlen in ein Zwangskostüm von Konventionen und Abhängigkeiten. Mögen es familiäre Traditionen sein, an denen Jugendliche in der Pubertät zu scheitern drohen, oder betriebliche Anforderungen, denen ältere Arbeitnehmer, beziehungsweise Langzeit-Arbeitslose nicht mehr entsprechen können. Mögen es auch nach mehr als fünfzig Jahren die überlebenden Opfer des Holocaust an den deutschen und europäischen Juden sein, der Roma und Sinti, der Homosexuellen und politischen Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Diktatur. Allen, im Tal der Todesschatten, um einen Ausdruck Kurt Martis aufzunehmen, gilt die Treue Gottes, die mich und dich durchs “finstere Tal” führt.
Die kleine Hoffnung läßt Christian aufbegehren. Die kleine Hoffnung läßt Jesus von dem Glauben sprechen, der Berge versetzt. Die kleine Hoffnung hält daran fest, daß Jesus von sich selber sagt: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben”. Die kleine Hoffnung rechnet damit, daß der Mut, auf die Sünden der Väter und eigene Schuld zurückzuschauen, “Barmherzigkeit erweist Tausenden, die Gott lieben und seine Gebote halten”. Amen.
Verfasser: Pfr. Dirk Römer, Bensheimer Weg 25, 64646 Heppenheim
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