Die Gemeinde als Sünder
von Stefan Claaß (55122 Mainz)
Predigtdatum
:
27.06.2010
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
3. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Römer 14,10-13
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Wochenspruch:
"Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." Galater 6, 2)
Psalm: 42, 2 - 12 (EG 723)
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 50, 15 - 21
Epistel:
Römer 14, 10 - 13
Evangelium:
Lukas 6, 36 - 42
Im 14. Kapitel seines Briefes nach Rom reagiert Paulus auf Konflikte in der Gemeinde. Offensichtlich sind Rangstreitigkeiten im Gange, wer das deutlichere und bessere christliche Profil zeige. Zu erkennen ist dies an den Streitereien, welche bisherigen Speise- und Verhaltensregeln denn auch für Christen noch gelten sollen. Die einen sagen: „Keine! Davon hat uns Christus befreit.“ Die anderen sagen: „Wer alle guten alten Traditionen über Bord wirft, ist dadurch Gott noch nicht näher.“ Paulus warnt davor, das Gemeindeleben auf diese Weise schleichend zu vergiften. Seine Medizin: Nicht gegenseitig niedermachen, sondern gemeinsam auf Gott schauen. Rechenschaft vor Gott abzulegen heißt für Paulus nicht: „Die anderen waren schlechter als ich!“ Sondern: „Wer bin ich? Wie lebe ich? Was wird Jesus zu meinem Leben sagen?“ Für das Verständnis ist es notwendig, den ganzen Abschnitt Römer 14, 1-13 zu lesen.
(Ein kleiner Versuch)
Liebe Gemeinde,
schließen Sie bitte für einen Moment die Augen. Sie sehen vor sich auf dem Boden eine große Skala mit den Zahlen 1 bis 10. Jetzt kommt die Frage: Verglichen mit allen anderen Menschen in unserer Gemeinde – wie christlich sind Sie? „1“ bedeutet: sehr wenig. „10“ bedeutet: perfekt. Also: wie christlich schätzen Sie sich ein? Wie friedfertig, wie tolerant, wie hilfsbereit, wie gläubig? Suchen Sie sich Ihre Zahl und stellen Sie sich im Geist zu dieser Zahl. Halten Sie die Augen immer noch geschlossen.
Angenommen, Sie stehen nicht selbst auf der „10“. Wie viele Leute vermuten Sie rechts neben sich auf den höheren Platzziffern der Skala? Mit welchen Gefühlen schauen Sie dorthin? Und dann wenden Sie innerlich den Blick nach der anderen Seite zu den Leuten, die näher an der „1“ stehen als Sie selbst. Mit welchen Gefühlen schauen Sie in diese Richtung?
Auf welcher Seite stehen mehr Leute: links oder rechts von Ihnen?
Jetzt dürfen Sie die Augen wieder öffnen. Einige haben die Augen vielleicht die ganze Zeit offen gehalten und gedacht: Was ist das den jetzt wieder für ein Schnickschnack?
(Paulus sorgt sich: Nebensächliches wird in der Gemeinde zu wichtig genommen.)
Wenn Sie jetzt den Kopf schütteln und denken: Dafür bin ich eigentlich nicht in die Kirche gekommen! – dann können Sie etwas von dem nachempfinden, was der Apostel Paulus verspürt haben könnte, als er seinen Brief an die Gemeinde in Rom geschrieben hat.
Dieser Brief ist das große theologische Vermächtnis des Paulus. Er hat die großen Linien nachgezeichnet, mit denen Gott seine Geschichte malt. Er predigt, erklärt, fragt, tröstet und schreibt mit seinem Herzblut von der Liebe Gottes zu seinen Menschen.
Wie schade, dass die Vollendung der Welt noch nicht ganz da ist. Sie ist nahe gekommen, aber sie ist noch nicht da. Noch müssen wir uns in der Gegenwart zurechtfinden. Dazu gehört das Leben in den politischen Zusammenhängen, das lesen wir in Kapitel 13.
Dazu gehört auch das Leben in der Gemeinde. Nicht nur nebeneinander, sondern miteinander!
Leider klappt das nicht so, wie Paulus sich das wünscht. Aus Rom hat man ihm erzählt, dass viel übereinander gelästert wird. Die einen leben asketisch, die anderen feiern die Freundlichkeit Gottes. Aber sie akzeptieren sich nicht gegenseitig. Verächtlich nennen sie die Asketen: „unsere Gemüseesser“. Dafür sagen die anderen: „Euer wichtigster Körperteil ist der Bauch, ihr Fleischfresser!“ Das kommt nicht so liebevoll, wie Paulus sich das vorstellt.
(Wir sind auch Römer! Wir vergleichen uns genauso gern!)
Liebe Gemeinde,
wo sind die Handwerker unter uns? Wer schon einmal eine Mustertapete überstrichen hat und zu dünne Farbe verwendet hat, kennt den Kummer: das alte Muster scheint immer wieder durch. Genau diese Entdeckung beschäftigt hier den Apostel Paulus.
Auf Christus getauft in ein neues Leben? Ja, das sind die Leute in der Gemeinde in Rom. Sie wollen gute Christen sein! Die Frage, die sich dann stellt: wie gut bin ich eigentlich?
Und das ist das alte Muster, das in uns steckt – egal, ob wir im 1. Jahrhundert in Rom leben oder im 21. Jahrhundert in ....Wie gut bin ich im Vergleich mit anderen? Dieses Muster steckt in uns. Und wir pflegen es. In der Schule durch Noten auf der Skala von 1 bis 6. In der Ausbildung pausenlos. Tests, Beurteilungen, Rangfolgen. Wir sind da noch viel geübter als die Römer. Es gibt kaum noch eine Zeitschrift ohne solche Rangfolgen, neudeutsch: Ranking. Überall. Die besten Zahnärzte, die besten Schönheitskliniken, der beste Obstsaft, die angesagtesten Schuhe, die erfolgreichsten Musiktitel.
Wir vergleichen uns gern. Vor allem, wenn wir nicht ganz am unteren Ende der Skala stehen.Wir gewinnen gute Gefühle, Selbstbewusstsein, Zufriedenheit daraus, dass wir besser dastehen als andere. Dieses Lebensmuster funktioniert. Leider nur zu gut.
(Ein hoher Preis)
Leider zahlen wir auch einen hohen Preis dafür. Denn das Verhältnis zu den Leuten, die wir für geringer halten als uns selbst, kann nie gut werden. Denn sie spüren, dass wir uns besser einschätzen. Ernten wir dafür Respekt oder gar Liebe? Niemals. Paulus em-pfindet solches Vergleichen als schleichende Vergiftung im Gemeindeleben.
Das können wir spüren, wenn wir hinhören, wie wir übereinander reden. Anders als in Rom geht es nicht mehr um „Gemüseesser“ und „Fleischfresser“. Aber zetteln Sie einmal eine Diskussion zwischen jüngeren und Älteren in der Gemeinde an über Musik im Gottesdienst, Orgel und Bandmusik, Verstärker und Buxtehude. Da finden Sie auch bei uns nicht nur Verständnis und Liebe füreinander. (Vielleicht eignet sich auch ein anderes Beispiel aus der eigenen Gemeinde an dieser Stelle.) Wie sieht es aus in der Diskussion zwischen Soldaten und Zivildienstleistenden? Gibt es da ein „besser“ oder „christlicher“?
(Paulus verdreht uns den Kopf)
Damit können wir uns lange beschäftigen. Was gibt es zu gewinnen? Lassen Sie uns noch einmal hineinhören in den Brief nach Rom: 6 Wer auf den Tag achtet, der tut's im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch. 7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. 10 Du aber, was richtest du deine Geschwister? Oder du, was verachtest du deine Geschwister? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden... 12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Re-chenschaft geben.
Wenn ich die Verse aus dem Römerbrief lese, dann spüre ich förmlich die Hände des Paulus an meinem Kopf, spüre, wie er ihn dreht und sagt: „Vergleich dich doch nicht immer mit den anderen. Damit machst du entweder die anderen oder dich selbst unglücklich. Schau lieber darauf, dass Gott zu dir sagt: Ich habe dich geschaffen, wie du bist. Ich habe dir Talente, Stärken, Gaben geschenkt für dein Leben. Mir kommt es nicht darauf an, was andere mehr oder weniger haben, mir ist wichtig, dass du hast, was du zum Leben brauchst. Fürchte dich nicht, schwing dich aber auch nicht auf als Richter über andere. Das kannst du mir überlassen.“
Ich finde darin eine große Befreiung, liebe Gemeinde. Wenn Paulus vom „Richterstuhl Gottes“ spricht, spüren wir zuerst vielleicht nur die Gefahr verurteilt zu werden. Wenn ich länger über die Botschaft des Paulus nachdenke, dann breitet sich aber auch das Gefühl der Befreiung aus. Wie in der alten jüdischen Anekdote von Susa.
Susa macht sich vor seinem Tod Sorgen über alle seine Fehler. Er denkt nur darüber nach, was er alles falsch gemacht haben könnte. Da tröstet ihn sein Freund: „Susa, wenn du vor Gott stehst, wird er dich nicht fragen, warum du nicht Mose gewesen bist in all seiner Weisheit und Stärke. Er wird dich fragen: Warum bist du nicht einfach Susa gewesen?
Verfasser: Pfarrer Stefan Claaß, Am Fort Gonsenheim 151, 55122 Mainz
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