Die Gemeinde der Sünder
von Harald Müller (63075 Offenbach)
Predigtdatum
:
16.07.2000
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
3. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
1. Petrus 3,8-15a.(15b-17)
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Wochenspruch:
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater 6,2)
Psalm: 42,2-12 (EG 723)
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 50,15-21
Epistel:
Römer 14,10-13
Evangelium:
Lukas 6,36-42
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 450
Morgenglanz der Ewigkeit
Wochenlied:
EG 428
oder EG 495
Komm in unsre stolze Welt
O Gott, du frommer Gott
Predigtlied:
EG 593
Licht, das in die Welt gekommen
Schlusslied:
EG 157
Lass mich dein sein und bleiben
8 Seid allesamt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig. 9 Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt. 10 Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen. 11 Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach. 12 Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun« (Psalm 34,13-17). 13 Und wer ist's, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert? 14 Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht; 15 heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen. [Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, 16 und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen. 17 Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen.]
Liebe Gemeinde,
es gibt manchmal Situationen in unserem Leben, da sind wir gefragt, ob wir anderen etwas mitgeben wollen. Ich meine hiermit nicht ein Stück Brot oder einen Geldschein, sondern sozusagen “geistige Nahrung”, etwas was den Anderen stärken und unterstützen soll, worauf er/sie zurückgreifen kann, wenn er/sie die nächsten Schritte unternimmt - Wegzehrung.
Es ist dann weniger ein bestimmter Rat gefragt, sondern eher eine Haltung, eine Lebenseinstellung. Eine solche Situation gab es z. B. in der vergangenen Woche, als wir in einem Gottesdienst die 17 Kinder aus der Kindertagesstätte verabschiedet haben, die nach den Ferien in die Schule gehen. Bei den Wünschen der anderen Kindergartenkinder und der Erzieherinnen hieß es dann wohl: “Wir wünschen dir neue, gute Freunde, wohlwollende und freundliche Lehrerinnen und Freunde”. Doch es waren bei den Wünschen auch Mut, Ausdauer, Vertrauen und die Verbundenheit mit Jesus dabei.
Es gibt viele solcher Gelegenheiten, bei denen wir unsere Verbundenheit mit einem anderen Menschen über den Tag hinaus ausdrücken können: Wenn ein Sohn/ eine Tochter mit 18 volljährig wird, wenn ein Patenkind konfirmiert wird, vielleicht auch bei einer Hochzeit, und auf alle Fälle, wenn jemand schwer erkrankt ist und er selbst und wir um sein Leben bangen müssen. Ich weiß nicht, wann sie zuletzt in einer solchen Situation gewesen sind und wie Sie sich da verhalten haben, was sie gesagt oder geschrieben haben.
Wir tun uns dabei oft schwer, vielleicht aus der Befürchtung heraus, der andere könnte es als aufdringlich oder als Ermahnung oder Besserwisserei verstehen. Doch habe ich auch die Vermutung, dass eine gewisse Verlegenheit daher rührt, dass wir da von uns selbst etwas preisgeben, wenn wir davon reden, was unsere innerste Überzeugung ist. Wir zeigen uns da mit unseren Sehnsüchten, Gewissheiten und Zweifeln.
Und während wir das zu formulieren versuchen, da überprüfen wir zugleich unwillkürlich bei uns selbst: Ist das wirklich stimmig? Stehe ich da - immer noch - dahinter? Oder ist es vielleicht jetzt nur eine Floskel, eine leere Worthülse, mit der ich mir den anderen vom Leib halte? Bin ich aufrichtig? Kann ich dafür wirklich einstehen?
Wenn ich von dem zu reden beginne, was mich trägt und worauf ich mich verlasse, dann spielen sozialer Status, Geld, besondere Fähigkeiten und Erfolge keine große Rolle; dann sind auch meine Fehler und Schwächen, meine Misserfolge und Verletzungen nicht von großer Bedeutung; dann zeigt sich vielmehr, wie angewiesen ich bin. Ich kann nicht aus mir selbst leben, kann meine Leben letztlich nicht sichern und bleibend erhalten. Ich bin angewiesen darauf, dass mir Leben immer wieder zukommt, dass ich mit dem Grund des Lebens verbunden bin, da ich selbst mein Leben nicht hervorbringen oder behaupten kann.
Ich bin angewiesen darauf, dass mir gesagt wird: “Ich stehe zu dir, ich setzte mich für dich ein, ich mag dich.” Wir Menschen können uns dies immer wieder gegenseitig sagen - doch können wir das nur begrenzt. Wir erfahren immer wieder Ablehnung oder vollziehen selbst Trennungen, und wir kennen auch die zeitlich Begrenzung, spätestens durch den Tod. Umfassender ist da der Zuspruch Gottes, der selbst die Liebe ist und in dessen Liebe wir unser Leben festmachen, “verankern” oder “gründen” können.
Wenn wir uns darauf einlassen, welche Einstellung zum Leben ist dann angemessen? Mir scheint, dass unser heutiger Predigttext genau darauf eine Antwort geben will. Er wurde von einem unbekannten Verfasser, wahrscheinlich im Jahre 90 oder 95 nach Christus - also noch vor der systematischen staatlichen Christenverfolgung - verfasst und richtet sich an die Gemeinden im kleinasiatischen Raum, die eine soziale Minderheit und erheblichem Druck ausgesetzt waren. Ihre Situation lässt sich vielleicht mit der von Ausländern heute bei uns vergleichen. Man hat das Ziel dieses Rundschreibens beschrieben: als “Anweisung für ein Leben aus der Hoffnung unter verschlimmerten Bedingungen”. Wie sieht nun diese Anweisung aus? Zunächst werden fünf Adjektive genannt. In der Lutherübersetzung heißen sie: gleichgesinnt, einmütig, brüderlich, barmherzig, demütig. Der Sinn einiger Worte erschließt sich unmittelbar, bei anderen ist sicher hilfreich, den Hintergrund aufzuhellen.
Das Wort, das mit “gleichgesinnt” übersetzt ist, lässt sich vielleicht eher mit dem Wort “einmütig” beschreiben. Auch dieses Wort klingt etwas altertümlich. Gemeint ist nicht, dass alle immer die gleiche Meinung haben sollten und vielen dann tatsächlich nur das oft beschriebene “Nicken” übrig bleibt. Nimmt man das deutsche Wort als Hilfestellung - einen Mut haben - so deutet das bereits an, dass man stets danach streben soll, das, was einem als Christ und als Menschen mit anderen verbindet, im Auge zu behalten, damit nicht das Trennende sondern das Verbindende stärker bleibt.
Für uns als Gemeinde heute bedeute dies etwa intern, dass nicht einzelne Gruppen mit sich selbst zufrieden sind und an den anderen vorbeileben, sondern dass unsere Miniclubs und die “Aktiven Senioren”, die Kantorei und der Kreativkreis allesamt darum wissen, dass sie eine Hoffnung verbindet, dass sie zu einer Gemeinde gehören. Diese “Einmütigkeit” - heute würde man vielleicht “Solidarität” sagen - zeigt sich meines Erachtens nicht nur nach innen, sonder auch nach außen gegenüber anderen Menschen, denen ein gutes Leben vorenthalten wird, die benachteiligt werden.
Dies sind wohl oft Menschen am Rande, Ausländer, Arbeitslose, körperlich und geistig Kranke, Kinder und oft genug auch alte Menschen. Die erste Anleitung zu einer christlichen Lebenshaltung heißt also: seid einmütig, seid solidarisch.
Das zweite Adjektiv, das mit “mitleidig” wiedergegeben ist, ist wohl treffender durch das Wort “mitfühlend” zu übersetzen. Im griechischen Text steht hier ein Wort, das unserem Wort “sympathisch” zugrunde liegt. Dem Anderen so zu begegnen, dass wir für ihn sympathisch sind, dass wir uns sympathisch ihm gegenüber verhalten, das verlangt von uns innere Anteilnahme ab, lässt uns immer wieder neu den Versuch machen, die Anonymität und Gleichgültigkeit zu durchbrechen, unter der heute so viele Menschen leiden.
Manchmal kann das schon ein Lächeln oder ein verständnisvoller Blick in der S-Bahn sein, der dem/der anderen sagt: ich sehe dich als Mensch, ich zeige dir meine Empfindungen, du bist für mich nicht Teil einer anonymen, bedrohlichen Masse.
Das nächste Adjektiv wird oft mit “brüderlich” wiedergegeben, obwohl es von seiner griechischen Wortbedeutung genauso “geschwisterlich” heißen kann. Wenn wir uns an die Bedeutung “geschwisterlich” halten, so kommt dies unserem heutigen Bestreben nach einer gerechten Sprache, in der Männer und Frauen in gleicher Weise berücksichtigt werden, entgegen. Wenn das Wort “geschwisterlich” mit Bedacht gewählt wird, so verweist es uns auch darauf, dass wir alle letztlich zu einer Familie gehören, dass Gott unser aller Vater ist und die Schöpfung mit all dem, was dazu gehört, uns anvertraut wurde. Das Wort “geschwisterlich” enthält so auch den Aspekt der Gerechtigkeit gegenüber unseren Mitmenschen und der Schöpfung.
Schließlich wird noch “barmherzig” und “demütig” genannt. Der barmherzige Samariter, der ein warmes Herz hat und einfach hilft, wo Hilfe gebraucht wird, ist uns allen vertraut. Doch sich tatsächlich nicht zu entziehen, wenn es darauf ankommt, ist noch einmal eine andere Sache. Hier sind wir immer wieder aufs neue gefordert.
Das Wort “demütig” ist für uns meist weniger zugänglich. Wir verwechseln es oft mit unterwürfig. Gemeint ist eher: nicht viel Aufhebens darum machen, “schlicht” oder sich nicht “von oben herab” verhalten.
Wenn zunächst die Anleitung zum christlichen Handeln mit diesen fünf Adjektiven solidarisch, mitfühlend, geschwisterlich, warmherzig und ohne besondere Einbildung beschrieben wird, so wird im Folgenden eine besondere Situation besonders hervorgehoben, bei der diese ganzen Haltungen sozusagen ihre Probe bestehen müssen. Was sollen wir tun, wenn uns jemand etwas Böses zufügt? Sollen wir dann mit gleicher Münze zurück zahlen? Ganz in der Tradition Jesu formuliert unser Text “vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet viel mehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt” (Vers 9).
Wir versuchen oft mit gleicher Münze zurückzuzahlen, weil wir etwas, das uns angetan worden ist, nicht “auf uns sitzen lassen” wollen. In dem wir dem anderen selbst wieder etwas zufügen, versuchen wir das, was uns angetan wurde, los zu werden. In sehr vielen Fällen führt dies dazu, dass sich Vorwürfe und Aggressionen immer weiter ausbreiten, dass es zu einer Eskalation kommt. Die Ablehnung der Vergeltung hilft, diese Eskalation zu unterbinden, in dem Gegner nicht die Ausgeburt des Bösen zu erblicken und vor allen Dingen dafür zu sorgen, dass auch wir selbst für ihn vertrauenerweckend sein können.
Ohne den Mut zu einem kalkulierten Risiko werden wir oft nicht sogenannte “vertrauensfördernde Maßnahmen” ergreifen können. Dies fängt bereits mit der Sprache an. Deshalb heißt es: “Hüte deine Zunge”. Auch wenn uns vielleicht manchmal ein heftiges Wort herausrutscht, so kann uns die Ablehnung einer Vergeltungshaltung doch dazu bringen, den Teufelskreis der gegenseitigen Bezichtigungen hinter uns zu lassen. Wir gewinnen die Freiheit, nicht mehr nur zu reagieren und brauchen uns letztlich auch nicht selbst zu vergiften. So können wir - wie es im Zitat von Psalm 34 so schön formuliert ist - das Leben lieben, dem Bösen widerstehen und dem Frieden nachjagen. Wenn wir das Leben lieben und dabei uns dem Geber des Lebens anvertrauen, dann mag es uns wohl auch gelingen, an der Grenze des Lebens darauf zu vertrauen, dass wir in Gottes Hand bleiben. Diese Liebe zum Leben und das Vertrauen in den Geber des Lebens wünsche ich uns allen. Amen.
Verfasser: Pfr. Harald Müller, Schloßgartenstr. 5, 63075 Offenbach
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