Die Gemeinde der Sünder
von Andreas Klodt (56370 Dörsdorf)
Predigtdatum
:
13.07.2003
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
3. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Lukas 6,36-42
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Wochenspruch:
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater 6,2)
Psalm: 42,2-12 (EG 723)
Lesungen
Altes Testament:
1. Mose 50,15-21
Epistel:
Römer 14,10-13
Evangelium:
Lukas 6,36-42
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 133
Zieh ein zu deinen Toren
Wochenlied:
EG 428
oder EG 495
Komm in unsre stolze Welt
O Gott, du frommer Gott
Predigtlied:
EG 240
Du hast uns, Herr, in dir verbunden
Schlusslied:
EG 157
Lass mich dein sein und bleiben
Einführung zur Predigt:
Was in der Luther-Bibel unter der Überschrift „Von der Stellung zum Nächsten“ steht, ist bei näherem Hinsehen eine Dreiecksbeziehung: Denn mein Weg zum Nächsten führt für Jesus unweigerlich über Gott: Nur über Gott ist eine positive Einstellung zum Nächsten zu erreichen. Im Einzelnen argumentiert Jesus so:
1. Gottes Handlungsweise soll Richtschnur sein für die Jünger. Ohne Gott tappen die Jünger, so die Verse 39-42, im Dunkeln. Aber wenn Gott wirklich ihr Vater (Vers 36) ist und sie seine Kinder (Vers 35), dann können sie ihn nachahmen. Natürlich muss man dafür Gottes Handlungsmaxime kennen. Die stellt Jesus dann auch heraus und bringt sie für mich wunderschön in der Formulierung „gütig gegen Undankbare und Böse“ (Vers 35) auf den Punkt. Genau darin besteht Gottes Barmherzigkeit (Vers 36) – und hoffentlich auch die seiner Kinder.
2. Die Verse 37 und 38 zielen dann auf den Nutzen ihres „göttlichen“ Verhaltens für die Jünger selbst: Die Barmherzigkeit, die sie üben, wird auch ihnen gegenüber zur Anwendung kommen. Vers 35 sagt es mit dem für protestantische Ohren anstößigen Wort „Lohn“ ausdrücklich.
Die Predigt versucht diesen Gedankengang nachzuzeichnen und bezieht in den Predigttext ausdrücklich Lk 6,35 mit ein; die Einteilung der Luther-Bibel mit ihrer Unterscheidung zwischen Feindes- und Nächstenliebe scheint mir bei näherem Hinsehen eher formal zu sein.
Liebe Gemeinde,
Für einen geliebten Menschen finden wir immer neue Namen und Kosewörter. Wir sagen dazu: Ein liebes Kind hat viele Namen. Der liebe Gott hat auch viele Namen!
In der islamischen Frömmigkeit gibt es die Vorstellung, dass Gott einhundert verschiedene Namen hat. Neunundneunzig davon sind allgemein bekannt und werden in der kunstvoll verschlungenen arabischen Schönschrift immer wieder aufgeschrieben. Der einhundertste Name ist noch verborgen. Niemand kennt ihn – außer dem Kamel. Deshalb trägt es auch den Kopf so hoch.
Einhundert verschiedene Namen für Gott bekomme ich nicht zusammen. Ich finde trotzdem, dass wir heute morgen allen Grund haben, uns wie das Kamel zu fühlen. Denn unser Predigttext aus dem Lukasevangelium hält einen wunderschönen Gottesnamen für uns bereit. Gott heißt dort gütig gegen die Undankbaren.
Hat man so etwas schon einmal gehört?
Sicher, auch bei Matthäus heißt es: Gott lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Doch das geht ja auch kaum anders: Wie sollte Gott beim Regnen auch zwischen gut und böse unterscheiden? Das sähe ja lustig aus, eine Stelle feucht, fünf Meter weiter alles knochentrocken. Nein, die Ungerechten werden halt auch, und das ist entscheidend: auch! mitbedacht.
Aber dass seine Güte ganz direkt denen gilt, die danach gar nicht fragen, dass Gott sich für die Undankbaren einsetzt – da sträubt sich mein Gerechtigkeitsempfinden ganz schön. Steht das denn wirklich so in der Bibel?
Es steht. Und zwar in unserem heutigen Predigttext im Lukasevangelium. Da gibt es die so genannte Feldrede. Diese Feldrede ist der kleinere Bruder der bekannten Bergpredigt. Nur ist die Feldrede kompakter und kürzer – statt drei nur ein Kapitel lang. Für so eine kurze Rede lohnt es sich nicht, extra auf einen Berg zu steigen, das kann genauso gut auf dem flachen Land, auf einem Acker, geschehen. Daher der Name Feldrede. Sie könnte auch Ackerpredigt heißen.
Sie steht im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums. In den Versen 36 bis 42 sagt Jesus:
Jesus sprach: 36 „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“
Gütig gegen die Undankbaren: Ich finde diese Aussage unglaublich. Da hat sich etwas geändert. Bisher beschrieb die Bibel Gott anders: Im zweiten Buch Mose zum Beispiel: „Herr Gott, barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Treue, der das Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, aber ungestraft lässt er niemanden, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskinder.“
Gott scheint mit sich selbst noch nicht einig zu sein: Vergibt er nun oder straft er? Ist er Barmherzigkeit oder Heimsuchung?
Beides ist möglich.
Und jetzt kommt Jesus und sagt: Er ist gütig gegen die Undankbaren. Das heißt doch: Da gibt es Menschen, die wissen nicht zu schätzen, was Gott für sie tut. Dass er sie geschaffen hat, erhält, ernährt, errettet, tagtäglich und erst Recht in der Not.
Das lässt sie völlig kalt. Wo doch Dank das Mindeste ist, was man erwarten kann. Wenn Gott sich jetzt abwenden würde, dann könnte man das gut verstehen. Aber diese Undankbarkeit lässt Gott kalt. Er ist kein bisschen irritiert über ausbleibende Reaktionen. Er lässt sich von seiner Barmherzigkeit durch absolut nichts abbringen. Barmherzigkeit, das ist Gott selbst.
In mir löst das, was Jesus sagt, ein zwiespältiges Gefühl aus. Es tut mir gut, wenn Jesus so klar von Gott spricht. Aber ist ein unglaublich hoher Anspruch verbunden. Denn ich werde mit Gott verglichen: Wie der himmlische Vater soll ich sein. Genauso barmherzig. Genauso liebevoll, vorurteilsfrei und verzeihend gegen Groß und Klein, Alt und Jung, Freund und Feind.
Da wird die Messlatte aber wirklich gleich sehr hoch gelegt. Wo es mir schon schwer genug fällt, meinen eigenen, weit bescheideneren Idealen zu entsprechen. Wo es mir schon schwer genug fällt, wenigstens selbst nicht zu vergessen, Danke zu sagen für Gottes Barmherzigkeit.
Das alles interessiert Jesus nicht: Für ihn kommt alles darauf an, es Gott nachzumachen: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und kaum habe ich diesen Vergleich wenigstens geschluckt, wenn auch noch nicht verdaut, da kommt schon wieder starker Tobak, nur diesmal in die andere Richtung:
Bilde dir bloß nichts ein! Du bist blind! Du hast ein Brett vorm Kopf! Du weißt gar nicht, wo’s lang geht! Ein Heuchler bist du! An dieser Stelle haken viele ein. Den Dämpfer finden sie gut.
Sie sagen: Barmherzig zu sein wie Gott, das ist Größenwahn. Das kannst du gar nicht. Probiere es doch lieber eine Nummer kleiner: Liebt eure Feinde ist ein zu großer Brocken. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist bescheidener. Einfach realistischer. Und Nächstenliebe sei deshalb für die ersten Christen auch das Entscheidende gewesen: In der Gemeinde soll man füreinander da sein; die anderen interessieren nicht.
Andere meinen: Jesus hatte gut reden. Der war allein und besaß nichts außer den Kleidern, die er anhatte. Er hatte ja nichts zu verlieren. Da kann man leicht barmherzig sein. Mit Familie und Verpflichtungen kann man sich das gar nicht leisten.
Und wieder andere sind sich sicher: So radikal redet nur jemand, der glaubt, dass bald das Weltende kommt. Sonst wäre das gar nicht zu schaffen. Jesus dachte, dass wir nur noch eine kurze Zeit so perfekt wie Gott sein müssen, dann kommt sowieso der Jüngste Tag.
So wird seit fast zweitausend Jahren gestritten. Alle diese Einwände gegen die Barmherzigkeit sind mir sehr sympathisch, weil sie mich entlasten.
Aber wenn ich ehrlich bin, dann überzeugen sie mich nicht: Auch den ersten Christen war die Feindesliebe wichtig, sonst hätten sie das Gebot Jesu nicht überliefert.
Auch Jesus hat eine Menge aufgegeben, bevor er durch Galiläa zog. Und vom baldigen Weltende, auf das man damals angeblich gestarrt hat wie das Kaninchen auf die Schlange, lese ich hier überhaupt nichts. Nein, auch ich soll meine Feinde lieben und soll meinen Besitz für andere einsetzen, ob die Welt nun in fünf Minuten, in fünf Monaten oder in fünftausend Jahren untergeht.
Angenommen, ich möchte das einmal versuchen. Angenommen, ich lasse mich darauf ein. Wie mache ich das dann ganz konkret? Barmherzigkeit zeigt sich ja in ganz bestimmten Taten: Wie sollen die aussehen? Die „Ausführungsbestimmungen“ fehlen. Kein Wort kommt Jesus zu dieser Frage über die Lippen. Das scheint mir ganz wichtig zu sein.
Jesus traut uns zu, selbst zu entscheiden, wie wir Gottes Barmherzigkeit entsprechen! Gott geht uns mit gutem Beispiel voran. Als Menschen dürfen wir von ihm lernen. Aber wir brauchen ihn nicht nachzuäffen. Wir sind keine Kopien unseres Schöpfers im Himmel. Das wäre eine schlechte Barmherzigkeit, wenn Gott uns mit der Nase auf die Arbeit stoßen und ständig gängeln würde.
Es kann nur so funktionieren: Was wir an göttlicher Barmherzigkeit erleben, daraus machen wir das Beste und versuchen es umzusetzen. Was wir an göttlicher Liebe empfangen, das geben wir weiter – so gut wir können.
Barmherzig zu sein, das musst du lernen. Das geht nicht so einfach wie Fingerschnippen. Es heißt also jetzt: Scheuklappen entfernen. Beobachten, wie gütig Gott ist. Und dann: Üben. Üben, üben und nochmals üben.
Jesus verspricht uns: Wenn es dann geklappt hat mit dem Üben, dann bekommen wir noch einen weiteren Namen. Dann wird man uns nennen: Kinder des Allerhöchsten. Kinder dessen, der gütig ist gegen die Undankbaren. Der liebe Gott hat viele Namen. Liebe Kinder auch. Amen.
Verfasser: Pfr. Andreas Klodt, Hochstraße 16, 55128 Mainz
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