Die große Krankenheilung
von Uwe Wiegand (64287 Darmstadt)
Predigtdatum
:
03.09.2006
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
10. Sonntag nach Trinitatis - Israelsonntag: Gedenktag der Zerstörung Jerusalem
Textstelle
:
Apostelgeschichte 3,1-10.(11-12)
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Wochenspruch:
Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
(Jesaja 42,3)
Psalm: 147,1-3.11-14a oder 113 (EG 745)
Lesungen
Altes Testament:
Jesaja 29,17-24
Epistel:
Apostelgeschichte 9,1-9 [10-20]
Evangelium:
Markus 7,31-37
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 328
Dir, dir, o Höchster, will ich singen
Wochenlied:
EG 289
Nun lob, mein Seel, den Herren
Predigtlied:
EG 66
Jesus ist kommen
Schlusslied:
EG 171
Bewahre uns, Gott
Vorbemerkung:
Der Text schildert eine klassische Heilungsgeschichte, wie sie mehrfach aus dem NT bekannt ist. Vermutlich hat Lukas eine ältere Überlieferung aufgegriffen und in seine Komposition des Streites um die Lehre der Apostel eingearbeitet (Apostelgeschichte 3+4). Eine Besonderheit ist der Blickkontakt zwischen Petrus und dem Gelähmten, sowie die starke Betonung des Namens Jesu für die Heilung. Neben dem üblichen Erstaunen der Zuschauer bewirkt die Heilung besonders das Lob Gottes durch den Geheilten. In diesem Lob liegt meines Erachtens das eigentliche Ziel der Heilung.
Ich schreibe diese Predigt nicht nur als Gemeindepfarrer, sondern auch als Vater eines schwer körperbehinderten Kindes. Mir liegt zum einen daran, das Staunen über das Wunder, das in das Lob Gottes mündet, zu wecken. Andererseits will ich die Erfahrung des Wunders damals kontrastieren mit Fragen der Integration behinderter Menschen heute. Deshalb habe ich mich entschieden, die Deutung des Wunders in zwei Teilen zu entfalten. Die Hinführung zum Text mit Hilfe des Liedtextes ist eine Möglichkeit, die ich selbst in Predigten gern wähle. Sie kann aber auch - in entsprechend modifizierter Form - erst nach der Verlesung des Textes verwendet werden. Dann würde sie zur Einleitung der Auslegung dienen.
Liebe Gemeinde,
Wunder gescheh’n,
ich hab’s geseh’n,
es gibt so vieles, was wir nicht verstehen.
Wunder gescheh’n,
ich war dabei,
wir dürfen nicht nur an das glauben,
was wir sehen.
„Wunder gescheh’n“ singt die Popsängerin Nena in einem ihrer bekanntesten Songs. Sie beschwört in diesem Lied das Vertrauen gegen die Angst, die Hoffnung gegen die Verzweiflung. Wunder gescheh’n - davon waren die Menschen des 1. Jahrhunderts weitgehend überzeugt. Viele Geschichten von Wundertätern wurden erzählt. Von religiösen Leitfiguren wurden sie geradezu erwartet. Wir alle kennen bis heute die Wunder Jesu, die im Neuen Testament berichtet werden. Vor allem waren es Heilungen, aber auch die Herrschaft über die Naturgewalten oder die Speisung von vielen tausend Menschen.
Wunder geschahen damals vor den Augen vieler Menschen, und sie hörten auch mit Jesu Abschied nicht auf. Seine Jünger nahmen seinen Auftrag an, zu den Menschen zu gehen. Sie redeten von dem, was sie glaubten, und sie wurden tätig im Sinne Jesu. Dabei geschah auch Wunderbares, wie beispielsweise in der folgenden Geschichte aus Apostelgeschichte 3:
1 Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
In Jesu Namen wird ein gelähmter Mensch geheilt - das Wunder, das die Jünger tun, wird zum Ausgangspunkt ihrer Verkündigung an die Menschen. Worin aber, liebe Gemeinde, besteht das Wunder eigentlich? Was ist so wunderbar an diesem Geschehen, dass es als erstes Wunder nach Pfingsten in der Apostelgeschichte geschildert wird?
Auf den ersten Blick ist es natürlich die Heilung selbst. Ein von Geburt an gelähmter Mensch galt nicht nur damals als unheilbar. Auch heute stößt die Medizin dabei meistens an Grenzen. Einem Gelähmten war der Zugang zum inneren Bereich des Tempels und zum Gottesdienst verwehrt. Er war schon für den Weg in den Außenbezirk auf Hilfe angewiesen. Diese Hilfe besaß der namentlich nicht Genannte offenbar, denn er hatte seinen festen Platz am so genannten „Schönen Tor“. Er bettelte für seinen Lebensunterhalt und war auf die Freigiebigkeit der Gottesdienstbesucher angewiesen.
Als Petrus und Johannes zur festgelegten zweiten Gebetszeit des Tages in den Tempel wollen, spricht er sie an und bittet um eine Gabe. Anders als erwartet spenden die beiden nicht. Vielmehr schaut ihn Petrus an und spricht ihn an: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Fast verlegen klingt der Verweis auf den leeren Geldbeutel der Jünger, umso kraftvoller dann die Erwähnung des Namens Jesu. Dieser Name bewirkt das Wunder, dass die Knöchel fest und die Beine des Gelähmten beweglich werden. Er kann, was er nie konnte, nämlich umhergehen. Dass er Gott lobt und preist, krönt das Wunder, das hier geschehen ist. Wie bei den Heilungen, die Jesus selbst vollbracht hat, bezeugt diese Geschichte die Macht Gottes. Gott kann tun, was Menschen nicht möglich ist. Gott hat keine medizinischen Grenzen. Der Name Jesu überwindet das menschlich Vorstellbare.
Es braucht jedoch einen zweiten Blick, um die tiefere Dimension des Wunders wahrzunehmen: Eine Besonderheit dieser Heilung ist der Blickkontakt zwischen Petrus und dem gelähmten Mann. Bettler am Wegrand werden nur selten so intensiv angesehen. Lieber schauen wir weg, lieber geben wir flüchtig eine Münze, um guten Gewissens an dem Notleidenden vorbei zu kommen.
Petrus, der angebettelt wird, schaut nicht weg. Er sieht dem Gelähmten am Tempeltor in die Augen und tut damit den ersten Schritt, dessen Not zu überwinden. In diesem Moment hat er keinen namenlosen, unbekannten Menschen vor sich, sondern nimmt sich dessen Lage zu Herzen. Ein Gespräch führen die beiden nicht, aber der Blick ist die Basis für die Heilung. Das Wunder besteht keineswegs nur in der Überwindung der Krankheit, sondern auch schon darin, dass hier ein Mensch angesehen wird, nicht am Wegrand liegen gelassen wird und voller Hoffnung wahrgenommen wird. Petrus sieht in ihm nicht den hilflosen Bettler, sondern einen Menschen, der ein wunderbares Geschöpf Gottes ist und an dem Gott Wunderbares tun kann. Damit, liebe Gemeinde, ist das Wunder dieser Geschichte immer noch nicht ausgeschöpft, denn es lohnt sich, noch einen dritten Blick darauf zu werfen:
Der Geheilte wird zum Vorbild für die Gemeinschaft. Der vorher Ausgegrenzte steht auf einmal im Mittelpunkt, denn sein lautes Lob Gottes ist nicht zu überhören. Um ihn entzündet sich die Diskussion des Glaubens, die anschließend geführt wird. Wer die folgenden Verse in der Apostelgeschichte liest, wird sehen, dass seine Heilung zum Beleg für die Wirksamkeit des Glaubens an Jesus dient. Die anderen lernen durch ihn und die ganze Gemeinschaft erfährt etwas Neues durch einen Menschen, den sie zuvor nur an seiner zum Betteln ausgestreckten Hand erkannten. Auch dies ist ein Wunder, wenn ein einzelner Mensch zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft wird, vor allem, wenn er zuvor ausgegrenzt war.
Wunder gescheh’n, und sie sind auf unterschiedliche Weise wahrzunehmen. Jede dieser Sichtweisen verdient auch eine Betrachtung aus heutiger Sicht. Dabei kann es durchaus verschieden sein, wo unser eigener Berührungspunkt mit dem Wunder liegt.
Die medizinische Seite des Wunders erstaunt bis heute, stellt aber auch für viele Menschen ein großes Fragezeichen dar. Wenn Jesus und seine Jünger das konnten - warum geschieht es heute nicht mehr? Wie kommt es, dass an wenigen Stellen - vor allem in der Welt der Bibel - Gottes Macht so greifbar ist, wir aber immer wieder erfahren, dass Krankheiten nicht geheilt und Menschen lebenslang von Behinderungen gezeichnet bleiben?
Wenn heute Wunder erwartet werden, dann zumeist weniger aus Glaubenskräften, als von den Möglichkeiten der Medizin. Viele Krankheiten können mittlerweile gut behandelt und oft auch geheilt werden. Viele Infektionen, die früher eine große Gefahr darstellten, kommen heute kaum noch vor. Auch manche Behinderung kann inzwischen operativ gemildert oder sogar geheilt werden. Anderseits bleiben manche schweren Krankheiten unheilbar, und es ist immer wieder traurig, wenn ein solches Leiden einen Menschen trifft. Die Erwartungen und Hoffnungen an unsere Medizin sind hoch, doch Wunder sind trotz allem selten.
Auch im Glauben sprechen wir vom Heil, das uns Jesus Christus schenkt. Er macht uns heil, indem er die Trennung zwischen und Gott überwindet.
Dennoch bewirkt er nicht, dass Krankheiten oder Behinderungen der Vergangenheit angehören. Auch als Christen/innen bleiben wir gesunde oder kranke, mehr oder weniger behinderte oder nichtbehinderte Menschen. Diesen Schmerz halten wir aus in der Spannung unseres Glaubens. Dennoch haben wir auch immer wieder Grund zu staunen, welche Wunder manchmal möglich sind. Da gibt es das große Wunder, dass der vermeintlich unheilbare Krebs doch besiegt werden kann. Da geschieht es, dass schlimme Prognosen Lügen gestraft werden und dass der Strohalm der Hoffnung tatsächlich trägt. Kaum kleiner ist das Wunder, wenn neue Hilfsmittel Möglichkeiten eröffnen, die es vorher nicht gab oder wenn sich Menschen finden, die einen Menschen am Rande abholen und ihm Wege in die Gemeinschaft ebnen.
Das Wunder des Blickes zwischen Petrus und dem Gelähmten kann sich vielfach wiederholen. Ein von Geburt an sehbehinderter und inzwischen erblindeter Mann sagte mir: „Schlimm ist nicht meine Behinderung - damit kann ich leben. Aber dass die anderen immer meinen zu wissen, was ich nicht kann, das ist schrecklich.“. Die Einbildung der anderen, dass ein Blinder vieles nicht kann, behindert ihn zusätzlich. Es erschwert Wege, die durchaus möglich wären.
Deshalb ist so wichtig, genau hinzuschauen. Ein behinderter Mensch besteht nicht nur aus seiner Behinderung, sondern immer auch aus vielen, vielleicht unbekannten Möglichkeiten. Es liegt auch am Zutrauen der anderen, was ein behinderter Mensch kann. Es ist wichtig, ihn oder sie selbst bestimmen zu lassen, wo Hilfe nötig ist.
Bei der Integration behinderter Kinder in unserem Kindergarten machen wir die Erfahrung, dass schlummernde Fähigkeiten geweckt werden und erstaunliche Dinge möglich sind, weil die Kinder nicht nur die Behinderung sehen, sondern den Freund, der einfach zu ihrer Gruppe gehört.
An diesem Beispiel erschließt sich auch die dritte Perspektive unseres Wunders für unsere Zeit. Der Geheilte vom Tor des Tempels hat die Gemeinschaft verändert, indem er Gottes Lob anstimmte. Er hat mit seiner Lebensgeschichte den anderen gezeigt, wie es ist, die Spuren Gottes im eigenen Leben zu finden. Die Aufnahme behinderter Menschen verändert und beglückt beide Seiten. Die Kinder im Kindergarten entdecken, dass es ganz normal ist, verschieden zu sein und auch Defizite zu haben. Sie lernen, die eigenen Schwächen besser anzunehmen, wenn klar ist, dass nicht jeder Mensch alles kann.
In der Szene am schönen Tor hat es die medizinische Heilung gebraucht, damit der ehemals Gelähmte dazu gehören konnte. Erst jetzt war es ihm möglich, mit den anderen im Tempel Gottesdienst zu feiern. Es gibt für uns heute verschiedene Wege, Gemeinschaft zu ermöglichen und Menschen vom Rand herein zu holen. Manchmal sind es schlicht und einfach technische Barrieren oder Stufen, die abgebaut werden müssen. In vielen anderen Fällen braucht es jenen anderen Blick, von dem unsere Geschichte erzählt. Kranke oder behinderte Menschen sind nicht nur das Produkt ihrer Krankheit, sondern wie wir selbst Menschen, die Hilfe brauchen, aber auch der Gemeinschaft vieles geben können.
Es gibt viele Lebensbereiche, in denen das entdeckt werden kann: Den Kindergarten habe ich erwähnt, doch es gilt genauso für die Schule. Es lohnt sich, Hindernisse abzubauen, die Gemeinschaft verwehren und miteinander zu entdecken, welchen Reichtum Gott uns mit verschiedenen Gaben, aber auch Grenzen geschenkt hat.
Auch in der Erwachsenenwelt, etwa in der Eröffnung beruflicher Möglichkeiten oder im Erschließen öffentlicher Räume liegen große Chancen, voneinander zu lernen und zu profitieren. Das setzt voraus, das auch die behinderten Menschen als Gegenüber, als handelnde Personen wahrgenommen und respektiert werden. Es sind nicht nur die einen, die helfen und die anderen die Hilfsbedürftigen - vielmehr verhilft der ehemals Gelähmte hier den anderen dazu, Gott loben zu können. Er macht sie fähig zu staunen und sorgt dafür, dass ihre Herzen in Bewegung kommen.
Es sind, nach meiner Erfahrung nicht wenige sogenannte Behinderte, die das können, trotz oder wegen ihres Handicaps. Hier, im Staunen und im Lob Gottes finden die Menschen unserer Geschichte zusammen. Darin liegt unser gemeinsames Ziel und auch der Zweck aller Wunder. Sie sind nicht um ihrer selbst willen da, und sie dienen auch nicht dazu, vermeintliche Zauberkräfte zu beweisen.
Wunder gescheh’n, damit wir Menschen Gemeinschaft erfahren. Wunder gescheh’n, damit keiner mehr am Rand sitzen muss. Wunder gescheh’n, damit jeder und jede als Person vor Gottes Angesicht angesehen, geschätzt und auch unterstützt wird, wo es nötig ist. Wunder gescheh’n, wenn wir Gottes Liebe vertrauen. Wunder gescheh’n, indem wir uns in aller Verschiedenheit zusammenfinden und das tun, was der ehemals Gelähmte tat: Staunen über Gottes Taten in unserem Leben und ihn dafür loben. Amen.
Verfasser: Pfr. Uwe Wiegand, Flotowstr. 29A, 64287 Darmstadt
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