Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn [und Heiland] Jesus Christus. (2Kor 1,2)
Liebe Gemeinde,
Die Familie genießt besonderen Schutz, denn sie ist die unentbehrliche Lebensschule für jeden. Wir wachsen auf in der Familie. Hier lernen wir gehen und sprechen und fassen Vertrauen ins Leben. Wir erleben das Zusammenwirken von Mann und Frau, von Geschwistern, an ihnen können wir uns messen. Familie ist Ort der Auseinandersetzung, des gesunden Streites, aber auch ein beschützender Raum vor Gefahren. Sie schenkt Tröstung, wenn wir draußen einen auf die Nase bekommen haben. Sie ist Testraum für die ersten Versuche, mutig und selbstständig eigene Schritte zu gehen. Welche Rolle aber spielt sie nach der Kindheit?
In unserem Text hören wir, wie Jesus als junger Erwachsener, also am Anfang seines Wirkens seine Familie behandelt.
hier lesen: Mk 3,31-35: Jesu wahre Verwandte
Herr, segne unser Reden und Hören durch deinen heiligen Geist. Amen
Wie Jesus sich da gegenüber seiner Familie verhält, das erscheint doch ziemlich respektlos. Schließlich haben seine Mutter und seine Geschwister einen 40km langen Fußmarsch auf sich genommen und der Herr Sohn läßt sie brüsk abweisen, läßt sie draußen vor der Tür stehen. Das ist doch sehr irritierend. Obendrein bezeichnet er auch noch die Menschen, die um ihn im Kreise sitzen als seine Familie.
Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass Jesus, der Freund aller Menschen, der Freund der Kinder und der Frauen, dass ausgerechnet er seiner Familie die kalte Schulter zeigt, sie auf Nimmerwiedersehen verlässt und nicht mehr nach ihnen fragt. Nein, Jesus geht es, glaube ich, nicht um die Erzählung einer Familientragödie, nicht um die Abwertung der Familie.
Vielmehr erfüllt Jesus hier seine Aufgabe als Gottessohn, indem er uns allen, der Menschheit seine neue Familie zeigt. Er lebt praktisch vor, dass die Aufgaben der biologischen Familie begrenzt sind auf die Kindheit. Erwachsen geworden sucht der junge Mann seine neue Familie selbst aus. Das wirkt auf uns heutzutage durchaus wie selbstverständlich. Aber es war nicht immer so.
In der Tradition ist die Familie die zentrale Gemeinschaft für jeden Menschen. Sie bestimmt, wer einer ist und was einer ist. Das ist in der Kindheit von Jesus nicht anders. Er ist fest eingebunden in die Familie. Mt 1,1-17 und Lk 3,23-38 nennen uns sogar seine Ahnenreihe bis hinunter zu Abraham (Mt) bzw. Adam (Lk). Mit diesem stattlichen Stammbaum wird seine Bedeutung in der Welt aufgezeigt. Rund um die Geburt Jesu geschieht mancherlei Merkwürdiges. Aber dann geht alles seinen gewohnten, seinen traditionellen Gang. Die großen Besonderheiten beginnen mit der Taufe Jesu.
»... da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn ...« (Mt 3,16b-17) Da ist es ausgesprochen: Jesus Christus ist der Sohn Gottes.
Mit der Taufe nimmt Jesus seinen Auftrag als Gottes Sohn auf. Was das bedeutet, zeigt sich sogleich. Jesus beruft seine Jünger (Mk 1,16-20), er heilt viele Kranke und treibt böse Geister aus (Mk 1,34). Und er löst sich von seinen Blutsbanden (»Laßt uns anderswohin gehen, in die nächsten Stadt, dass ich dort predige, denn dazu bin ich gekommen«, Mk 1,38) Die Menschen strömten zu ihm »von allen Enden« (und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür, Mk 1,33; s.a. Mk 1,45; Mk3,7f), er zieht viel Volk an, also Anständige und weniger Anständige, Zöllner und Sünder, Frauen und Kinder, Kranke und Gesunde. Da ist keine und keiner, der nicht zu seiner neuen Familie gehören könnte, ob jung oder alt, arm oder reich, verzweifelt, gescheitert oder zufrieden. Als diese Menschen Jesus erleben, wollen sie sogleich zu ihm gehören, sie wollen ihm folgen. Jesu neue Familie umfasst sie alle, er ist aller Bruder.
Denn Jesus ist der »Heilige Gottes« (Mk 1,24). All das, seine Lehre, sein Tun, das kann er und das tut er mit Vollmacht« (Mk 1,22.27; Mk 2,10). Das ist das Entscheidende. Er ist der Sohn Gottes und er tut den Willen des Vaters mit Vollmacht.
Und das ist eine Zeitenwende, nichts ist mehr, wie es war. Dieses Handeln Jesu fällt völlig aus der Tradition, es ist etwas völlig Neues in der Gesellschaft. Denn bis zu Jesu Wirken war die Familie alles und ohne Familie lebte man im Elend. Denken Sie an das Schicksal von Witwen in Palästina. Da verwundert es nicht, dass Jesu biologische Familie ihn nach dem Eindruck seines ersten Wirkens für verrückt hält (Mk 3,21), und die Schriftgelehrten ihn für einen Gehilfen des Beelzebub, des Teufels selbst halten (Mk3,22).
Nicht nur diese radikale Ablösung von der biologischen Familie ist neu. Auch das Kriterium seiner Auswahl seiner neuen, der gewählten Familie ist neu. Er erwartet nämlich von ihren Mitgliedern, dass sie dem Willen Gottes folgen (V35) und nicht mehr den Anweisungen des Familienoberhaupts oder der Autoritäten, also den Schriftgelehrten und Pharisäern. Statt Gehorsam und Anpassung fordert er eine eigene, eine persönliche Entscheidung! Denn der Wille Gottes ist nicht einfach in Vorschriften und Gesetze gegossen, er muss Fall für Fall erst gefunden werden – und zwar von jedem Menschen selbst für sein eigenes Leben.
Bitte bedenken Sie, was das bedeutet! Jesus eröffnet den Menschen völlig neue Freiheiten, ja die persönliche Freiheit beginnt erst mit Jesu Absage an Familie und Autoritäten. Jesus Christus offenbart hier der Menschheit, dass eine neue Stufe der Entwicklung erreicht ist. Bisher war der Mensch nur ein Glied in der Erbfolge, die Blutsbande bestimmten sein Leben. Jetzt tritt etwas Neues hinzu. Der Mensch kann sich seine Gemeinschaft selbst auswählen.
Der neue Maßstab ist: »Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.« (V35). Dieses Tun, dieses freiwillige Tun ist es, was zum Mitglied der Familie, oder der Gemeinde macht. Jesus ersetzt die Blutsverwandtschaft durch die Seelenverwandtschaft, an die Stelle einer naturgegebenen Gemeinschaft tritt eine frei gewählte Gemeinschaft, die ihre Aufgabe im Tun des Willens Gottes findet. Das ist die Gemeinde Christi. Sie findet ihre Ziele in dem, was Christus uns vorlebt, also letztlich in allem, was sie aus Glaube, Liebe und Hoffnung schafft, alles, was sie in Wahrheit und Gerechtigkeit tut, alles, was Heil und Wohl von Menschen fördert und das Zusammenleben gelingen lässt.
Zugleich öffnet Jesus einen neuen Hafen der Sicherheit: Indem er die neue Freiheit auf das Tun des Willens Gottes gründet, muss niemand befürchten, nun im Elend zu landen oder unterzugehen. Schon all die Heilungsgeschichten zeigen: Wer an Jesus glaubt, wer ihm vertraut, der wird geheilt, der kann gesund, der kann heil mit neuer Kraft weitergehen in seinem Leben.
Was einst mit Jesus begann, das können wir heute überall sehen, wenn wir in die Gesellschaft blicken. Denn heute sind alle Menschen sozusagen in die moralische Freiheit entlassen. Überall lösen die Familienbande sich auf. Großfamilien gibt es kaum noch; wer kennt noch seine Ureltern oder entfernte Verwandte? Viele Ehen halten nur noch begrenzte Zeit und werden durch neue Bindungen abgelöst. Kinder wachsen oft nicht mehr in ihrer biologischen Familie, sondern in Patchwork-Familien auf. Oft leben die Alten einsam oder werden in Heimen gepflegt. Der Stammbaum hat ausgedient, die alten Bindungen tragen nicht mehr. Der Mensch ist heute in die Freiheit entlassen.
Aber die neue Freiheit führt nicht automatisch dazu, auch den Willen Gottes zu tun. Der Mehrheit genügt ihr äußerer Wohlstand, also Konsum und Urlaub, Wellness und Beauty, Sex statt Liebe. Spirituelles wird im Esoterik-Sumpf oder exotischen Religionen gesucht. Als Gemeinschaft genügen ihnen Events, wo Tausende sich treffen, um sich unterhalten zu lassen (Fußball, Pop-Konzerte) oder sogenannte soziale Medien, die gar keine persönlich Begegnung mehr kennen. Diese Menschen überhören die Stimme in ihrem Inneren oder sie weichen ihr aus, sehr oft weil sie scheinbar keine Zeit haben.
Das hat Folgen. Letzte Woche (Mi, 30. Aug) las ich im Wiesbadener Kurier (S.11) einen Bericht über die vielen Ängste in unserer Gesellschaft (Terror, Krieg, Armut, Katastrophen(?), Krankheit, ja sogar vor Hunger) („Früher war alles schlimmer!“, von Guido Mingels). Diese Ängste seien angewachsen, obwohl die angegebenen Gründe für die Ängste faktisch kleiner geworden seien. Es steht also nicht gut um die seelische Ruhe der Menschen
Da frage ich: Vielleicht sind die angegeben Gründe gar nicht die wahren Gründe für die wachsenden Ängste. Wo aber sind seelische Stützen? Familien geben heutzutage kaum noch Halt. Die Beschränkung des Lebens auf Arbeit, Wohlfühlen und Wohlstand vermittelt keine seelische Sicherheit, sondern führt zum Ersterben des spirituellen Lebens, die Seele leidet, sie hungert und dürstet nach Liebe. Dabei wissen wir doch, dass alle Liebe letztlich allein von Gott, von Jesus Christus kommt und uns im Heiligen Geist geschenkt wird. Diese Liebe vertreibt alle Ängste. Sie schenkt Sicherheit und seelische Ruhe. Aber wir müssen diese Liebe, das Geschenk des Vaters, auch annehmen und in unser Leben einfügen. Es ist die Liebe Gottes, die aus einer Gruppe von Menschen eine Gemeinschaft, eine Familie macht, die trägt in guten wie in schlechten Tagen. Und dort, umfangen und umhegt von der Liebe Gottes, gibt es keine Angst, da fällt das Leben und Tun nach dem Willen Gottes leicht, denn der Wille Gottes ist Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit, ist alles was Heil und Wohl der Menschen fördert und Zusammenleben gelingen läßt.
Wir müssen nur den Weinberg des Vaters pflegen, wie es im Predigttext vor zwei Wochen hieß.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. (Phil 4,7) Amen