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Die verheißene Erlösung

von Achim Schaad (Löhnberg – Niedershausen)

Predigtdatum : 04.12.2011
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 2. Advent
Textstelle : Jesaja 63,15-16.(17-19a).19b; 64,1-3
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Wochenspruch: "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!" (Lk 21, 28)

Psalm: 80, 2 - 7.15 - 20

Lesungen

Altes Testament: Jesaja 63, 15 - 16 (17 - 19 a) 19 b; 64, 1 - 3

Epistel: Jakobus 5, 7 - 8

Evangelium: Lukas 21, 25 - 33

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 5, 1 - 3 Gottes Sohn ist kommen

Wochenlied: EG 6, 1 - 3 Ihr lieben Christen, freut euch nun

Predigtlied: EG 11, 1 - 4 Wie soll ich dich empfangen

Schlusslied: EG 17, 1 + 2 Wir sagen euch an den lieben Advent

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

es war eine dunkle Zeit in der Geschichte des alttestamentlichen Vol-kes Israel, wenn nicht gar die dunkelste überhaupt: die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Schon immer waren die Israeliten ein kleines und innerhalb der damaligen Weltgeschichte eher unbedeutendes Volk gewesen. Leider nur lebten sie in einer strategisch äußerst wichtigen Gegend, eingeklemmt zwischen ständig mal mehr, mal weniger starken Großmächten. Und so wurde Israel immer wieder zu deren Spielball, war mal von dieser, mal von jener Großmacht abhängig, mal diesem, mal jenem Volk fronpflichtig.

So um das Jahr 600 vor Christus waren es die Babylonier, die die Vorherrschaft in der Region zu gewinnen begannen und dabei natürlich auch vor Israel nicht Halt machten. Sie eroberten das Land, zuletzt auch die Hauptstadt Jerusalem. Sie zerstörten den Tempel, das eine und einzige Heiligtum – das Haus, in dem Gott wohnte. Und um jeden Widerstand zu brechen, verschleppten sie die israelitische Oberschicht und hielten sie fortan in Babylon gefangen.

Die Jahre, die folgten, waren für die Israeliten traumatisch. Das gelobte, ja heilige Land schien für immer verloren, der Bund mit Gott zerrissen – das konnte nur eine Strafe Gottes sein, die Strafe für Verfehlungen des Volkes in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vor dem Exil. So jedenfalls verstanden es diejenigen, die in Babylon fern der Heimat leben mussten. Und es war wohl genau dieses Verständnis, das sie zusammenschweißte und verhinderte, dass ihnen das Bewusstsein verloren ging, ein eigenes Volk zu sein.

So gab es dann auch rund ein halbes Jahrhundert nach Beginn des Exils in Babylon noch Menschen, die sich als Israeliten, als Gottesvolk verstanden. Und deren Freude muss unglaublich gewesen sein, als sie erfuhren, dass sie wieder in ihre Heimat, in das gelobte Land zurückkehren durften. Der Perserkönig Kyros, der die Babylonier mittlerweile besiegt hatte, erlaubte es. Und er erlaubte darüber hinaus sogar den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem. Alles schien sich damit zum Guten zu wenden: das gelobte Land war wieder Heimat, das Heiligtum war neu errichtet, der Bund mit Gott wieder lebendig. Die Zeit der Strafe, das Exil schien überwunden.

Allerdings mischten sich sehr schnell auch Zweifel in die Freude des Neuanfangs. Ja sicher, Gott schien nun wieder an der Seite seines Volkes zu stehen – doch das heilige Land war trotzdem immer noch besetzt, nun eben von den Persern. Israel war auf deren Gnade angewiesen, war nicht Herr der eigenen, von Gott gegebenen Heimat. Doch hatte eben dieser Gott nicht versprochen, selbst zu erscheinen, um nun endlich nach der langen Strafe des Exils sein Reich zu errichten? Nichts davon war sichtbar. Wo war Gott? Warum kam er nicht, um seinem Volk zu helfen? So lebten die Israeliten in einer großen Zerrissenheit, hin- und hergeworfen zwischen der Freude und Dankbarkeit über den Neuanfang und den tiefen Zweifeln im Blick auf die angeblich anbrechende Heilszeit.

Mittendrin einer mit Namen Jesaja – der, der unseren heutigen Predigttext verfasst hat. Ob er nun wirklich Jesaja hieß, sei einmal dahingestellt, jedenfalls findet sich das, was er einst schrieb, heute im Buch des Propheten Jesaja. Und dort heißt es am Ende des 63. und am Anfang des 64. Kapitels:

LESUNG: JES 63, 15 – 64, 3

Ein seltsamer Text, ungeschliffen, scheinbar unbedacht und unvernünftig, geradezu verwirrend. Und das nicht nur, wenn man ihn – wie Sie jetzt gerade – hört, wenn er sozusagen akustisch an einem vorbeizieht. Auch, wenn man diese Verse liest, sich also mehr Zeit fürs Verstehen nehmen kann, werden sie nicht unbedingt klarer und verständlicher. Denn wie passt das zusammen, der Satz: „Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich“ – und keine drei Zeilen weiter dann: „Du, Herr, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘, das ist von alters her dein Name.“? Oder wie reimen sich diese beiden Sätze zusammen: „Warum, Herr, lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?“ – und dagegen dann dieser: “Kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.“?

Nein, das ist kein Text in schöner, gesetzter Sprache, den Jesaja hier schreibt – im Gegenteil: er ist unverständlich, verwirrend. Mal geht er mit Gott ins Gericht, mal lobt und preist er ihn – und das alles sozusagen in einem Atemzug. Man kann sich diesen Jesaja direkt vorstellen: am Tisch sitzend, vor sich Papyrus und Tinte – und dann beginnt er zu schreiben. All seine Klagen, sein Leid, seine Verwirrung bringt er zu Papier. Und noch heute, etwa, wenn man liest: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab ...“, dann spürt man, wie es in diesem Moment wohl um ihn bestellt war, tief in seinem Innersten: zutiefst zerrissen war er, uneins mit sich und mit Gott.

Von dem fühlte er sich vergessen – und er wusste zugleich, dass Gott seine Menschen niemals verlässt. Er wusste, dass Gott barmherzig ist, und konnte diese Barmherzigkeit doch nicht mehr glauben. Er war sich sicher, dass Gott kommen würde, sein Reich aufrichten würde, seinem Volk helfen würde, aber er mochte nicht mehr länger darauf warten. Er wusste, dass Gott keinen Menschen verstockt, und doch kam es ihm so vor, als müsste es sein, dass Gott die Herzen verdunkelt und ihr Vertrauen und ihren Glauben immer noch, auch nach dem Exil, allzu hart prüft. Er, Jesaja, wusste und verstand alles – zugleich aber verstand er auch nichts. Der Mut wollte ihn verlassen – und doch hatte er noch nicht aufgehört zu klagen und zu hoffen. Und er erinnert Gott an den Bund, den er mit seinem Volk geschlossen hat: „‘Unser Erlöser‘, das ist von alters her dein Name.“

Betrachtet man unseren Predigttext vor diesem Hintergrund, mit dem Bild des mit Gott hadernden und zugleich ihm vertrauenden Jesaja vor Augen, da werden diese Verse gleich ein wenig verständlicher und eingängiger. Denn so etwas gibt es doch auch in unserer Welt, in unserer Zeit: Menschen, die hadern, die nicht im Reinen sind mit sich und mit Gott, die hin und her gerissen sind und auch mitten in ihrem Glauben nicht mehr verstehen und begreifen können. Immer wieder kann man solche Geschichten hören, und manches Mal auch selbst erleben – im Familien- und Freundeskreis, bei Verwandten und Bekannten.

Da ist zum Beispiel die Frau, die schon immer sehr gläubig war. Jeden Sonntag war sie im Gottesdienst. Und auch das tägliche Gebet war ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Sie hatte, um es in einem Satz zu sagen, eine schöne, eine gelungene Beziehung zu Gott – voller Glauben und Vertrauen. Heute allerdings ist das nicht mehr ganz so. Ihre Mutter ist vor gut einem halben Jahr pflegebedürftig geworden. Natürlich hat diese Frau sie zu sich genommen – da gab es für sie gar keine Frage. Aber was damit auf sie zukam – so schlimm und nervenaufreibend hatte sie sich das nicht vorgestellt! Tagsüber hat sie seither keine freie Minute mehr. Und auch nachts muss sie immer wieder aufstehen, wenn die Mutter etwas braucht oder wieder einmal nicht schlafen kann. Diese Frau, sie ist seit einem halben Jahr eigentlich nur noch müde, angestrengt, ja verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Ihre Familie muss darunter leiden, andere Beziehungen – zu Freundinnen und Freunden etwa – sind ganz eingeschlafen. Und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Wie denn auch? Sollte sie etwa wünschen und hoffen, dass ihre Mutter bald stirbt? Schon allein den Gedanken daran will sie sich nicht erlauben. Darüber reden kann sie schon gar nicht – wer würde sie auch verstehen? Sie bemüht sich nach Kräften, sich vor ihrer Mutter nichts anmerken zu lassen. Die alte Frau kann ja auch nichts dafür. Aber andererseits: lange hält sie das alles nicht mehr durch. Wo ist Gott bei alledem? Ja, sie betet auch heute noch täglich – aber ihre Gebete sind anders geworden als früher, ganz anders. Eigentlich drehen sie sich nur noch um eines: dass endlich vorbei sei, was sie nicht mehr bewältigen und tragen kann. Ich denke, diese Frau könnte mit Jesaja diese Worte sprechen: „Gott, wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“

Ein zweites Beispiel: ein Mann, der erfolgreich war im Beruf wie im Privatleben. Ein engagierter Christ, Mitglied im Kirchenvorstand, der sich immer für die Belange seiner Gemeinde einsetzte. Ob nun das Gemeindehaus zu renovieren war oder alte und kranke Gemeindeglieder besucht werden sollten – dieser Mann stand zur Verfügung, er war da trotz der wenigen Zeit, die ihm sein Beruf ließ. Dann, vor ein paar Monaten, hat er seine Arbeitsstelle verloren, von einem Tag auf den anderen, weil die Firma in Konkurs ging. Er muss seitdem zwar keine finanzielle Not leiden, aber er kann mit seiner Situation auch nicht fertig werden. Jetzt erst beginnt er zu merken, wie wichtig seine Arbeit für ihn gewesen ist. Er spürt, dass sein Beruf so etwas wie der Grund war, auf dem sein Selbstvertrauen und die eigene Wertschätzung gewachsen sind. Und weil er Arbeit hatte, die ihn trotz aller Mühen zufrieden machte, konnte er sich auch außerhalb engagieren, in der Kirche zum Beispiel. Das fehlt jetzt. Die Bestätigung, dass er wichtig ist und seine Leistung gebraucht wird, ist weg, da kann er auch in der Gemeinde nicht mehr mitarbeiten. Irgendwie spürt er zwar, wie wichtig jetzt der Dienst in der Kirche wäre – auch und gerade für ihn selbst. Doch er kann nicht. Und er hadert mit Gott. Warum, so fragt er immer wieder, warum ausgerechnet ich? Habe ich das, was ich immer für andere eingebracht habe, nicht auch für Gott getan? Ich könnte mir vorstellen, dass auch dieser Mann mit Jesaja beten könnte: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“

Geschichten wie diese – von zerrissenen Menschen, die nicht im Reinen sind mit sich selbst und mit Gott, die einerseits glauben und vertrauen, aber andererseits vieles erleben und erleiden müssen und nicht verstehen, nicht begreifen können – Geschichten wie diese geschehen immer wieder. Auch heute noch geht es vielen Menschen so wie dem Jesaja. Auch heute noch passt in einigen Lebensgeschichten nicht alles glatt zusammen. Da gibt es gute, wunderbare Erfahrungen mit Gottes Macht und Liebe – und auf der anderen Seite das Schwere und Problematische, ja mitunter auch Leid und Verzweiflung. Wie lässt sich das zusammenbringen? Und noch weiter gefragt: Wie lässt sich dieser Zwiespalt überwinden?

Die Antwort auf diese Fragen, sie steckt – denke ich – in unserem heutigen Predigttext, sie steckt in einem kleinen Satz aus diesem Text, in den Worten nämlich: „Du, Herr, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘, das ist von alters her dein Name!“

Zwei Dinge sind daran wichtig. Zum einen: dieser Satz, er ist eine Erinnerung. In ihm steckt – wenn man ihn einmal sozusagen andersherum formuliert – eine Aufforderung Jesajas an Gott, nämlich: „Erinnere dich daran, Gott, dass du versprochen hast, uns zu erlösen – und tue es auch!“ So verstanden, können diese Worte auch heute noch Mut dazu machen, Gott zu erinnern, ihn zur Hilfe aufzufordern, ja sogar mit ihm ins Gericht zu gehen. Wie Jesaja, so dürfen auch wir mit Gott streiten, wenn es uns schlecht geht, uns mit ihm auseinandersetzen und ihn an seine Versprechen von Heil und Barmherzigkeit für die Menschen erinnern.

Wie Jesaja, so dürfen auch wir immer wieder neu fragen: „Schau herab auf mich, auf uns und meine, unsere Situation – wo ist denn nun dein Eifer und deine Macht? Warum lässt du mich, warum lässt du uns alleine in der großen Not?“

Und – das ist das zweite – wir dürfen bei allem, was uns widerfährt, und genauso auch in allem Streit und aller Auseinandersetzung mit Gott darauf vertrauen: er ist da, er hört uns und er sieht unser Leben an. Er weiß, wie es um uns steht, um jede und jeden von uns. Denn er ist unser aller Vater; „Erlöser“, das ist von alters her sein Name!

Dieses Versprechen, diese Zusage steckt in unserem heutigen Predigttext. Was immer uns in unserem Leben bedrückt, verwirrt oder gar verzweifeln lässt, wir dürfen es vor Gott bringen – und er wird uns helfen, er wird uns erlösen. Diese Hilfe, diese Erlösung, sie wird dabei sicherlich nicht immer so sein, wie wir sie erwarten. Sie wird auch nicht immer genau zu dem Zeitpunkt kommen, zu dem wir sie uns erhoffen. Doch wir dürfen darauf vertrauen, dass sie kommt.

Auch die Israeliten, auch Jesaja selbst, haben das erlebt. Sie konnten schließlich einen Weg finden, sich im Land ihrer Väter einzurichten und sich mit der Situation zu versöhnen, in der sie sich befanden. Gott hatte sie nicht vergessen oder gar verlassen, keinen Augenblick. Er half ihnen, er erlöste sie aus aller Zerrissenheit – so, wie er es noch heute an uns tut, auch wenn das Wie und das Wann seiner Hilfe und Erlösung nicht in unseren Händen liegt. Aber wir dürfen darum bitten und zugleich darauf vertrauen, dass er da ist und es tut. Denn „kein Ohr hat je gehört, keine Auge je gesehen einen Gott außer ihm, der so wohl tut denen, die auf ihn harren“.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


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