Wochenspruch: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103,2)
Psalm: 146 (EG 757)
Reihe I: 1. Mose 28,10-19a(19b-22)
Reihe II: Lukas 19,1-10
Reihe III: 1. Thessalonicher 5,14-24
Reihe IV: Jesaja 12,1-6
Reihe V: Lukas 17,11-19
Reihe VI: Römer 8,14-17
Eingangslied: EG 454 Auf und macht die Herzen weit
Wochenlied: EG 365 Von Gott will ich nicht lassen
Predigtlied: EG 589 Komm, bau ein Haus
Schlusslied: EG+ 112 Wir haben Gottes Spuren festgestellt
11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. 12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14 Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. 15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme 16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. 17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? 18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Die Perikope gehört zum Sondergut des Lukasevangeliums. Charakteristisch für das Lukasevangelium im Allgemeinen und diese Perikope im Besonderen ist, wie Bewegung und Unterbrechung von Bewegung geschildert wird. Diese Perikope hat zwei Höhepunkte: Die Heilung der Zehn und die Rückkehr des Einen. Das zweite Wunder übersteigt dabei das erste. Die Heilung eines Aussätzigen wurde in der Antike mit der Auferweckung von den Toten vergleichen.
Eine Grenzgeschichte
Liebe Gemeinde,
eine Geschichte auf dem Weg wird uns erzählt. Eine Geschichte zwischen Samaria und Galiläa, in einem gottverlassenen Grenzdorf (noch nicht einmal der Name ist uns bekannt), durch das Gottes Sohn kommt. Eine Geschichte auf dem Weg zwischen Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Einsamkeit und Nähe. Eine Weg-Geschichte zwischen Glauben und dem Warten auf Glauben. Eine Geschichte, die unter die Haut geht.
Eine Weggeschichte wird uns erzählt. Im Lukasevangelium ereignen sich gegensätzliche Bewegungen, während Jesus auf dem Weg nach Jerusalem ist. Wenn Jesus ruht, hält er seine Umgebung zum Aufbruch an und wenn Jesus unterwegs ist, fragt er nach dem Innehalten. Eine ziemlich mehrdeutige Angelegenheit.
Auf dem Weg durch das gottverlassene Dorf begegnet der durch Galiläa und Samaria eilende Gottessohn zehn Männern. Im Gegensatz zu ihm sind sie bewegungslos. Sie dürfen sich ja nicht nähern, sie stehen hinter einer unsichtbaren, doch damit nicht durchlässigeren Grenze. Im Gegenteil. Sie dürfen die Grenze zu den Gesunden nicht übertreten. Sie stehen von ferne. Diese zehn Gestalten bringen den Eilenden zum Stehen.
Auf dem Weg nach Jerusalem spielt die Geschichte - und dabei werden Grenzen überschritten. In Judäa leben die Rechtgläubigen, in Samaria die, die etwas anders glauben. Die einen wollen mit den anderen nichts zu tun haben. Doch bei den Aussätzigen spielen diese Gegensätze keine Rolle mehr. Die zehn Männer kommen aus den verschiedenen Landesteilen. Was sie ausschließt aus der Gemeinschaft der anderen, gerade das schweißt sie zusammen. Sie sind ausgeschlossen von den Menschen. Sie sind ausgeschlossen vom Heil, denn sie dürfen nicht zum Tempel, also dahin, wohin Jesus unterwegs ist.
Aussatz - welche Krankheit das genau war, darüber streiten sich die Exegeten. Wahrscheinlich war es nicht Lepra. Diese Krankheit gab es damals in dieser Gegend kaum. Aussatz, das waren wohl verschiedene Hautkrankheiten, Schuppenflechte zum Beispiel. Krankheiten, denen eines gemeinsam ist: Man kann sie von außen sehen.
Hautkrankheiten betreffen die sichtbare Grenze zwischen Innen und Außen des Menschen. Unsere Haut ist unser größtes Organ. Sie schützt uns, sie verrät uns aber auch. Sie offenbart die Spuren des Lebens, sie gibt - blass oder gut durchblutet - viel von unserem Lebensstil preis. Sie errötet, wenn wir uns schämen. Und sie zeigt, wenn wir krank sind. Die Haut offenbart schonungslos, schamlos die Krankheit. Aussatz ist sichtbar. Die Haut, die schützen soll, wird zum Fluch, zum aus-der-Haut-fahren ist das. Doch es mag sich einer die kranke Haut vom Leibe kratzen und reißen wollen, sie wächst doch übel nach. Und das für jeden offenbar. Die kranke Haut setzt eine Grenze, die unüberwindbar scheint. Sie schafft Distanz.
Die Aussätzigen stehen von ferne.
Zehn Menschen halten Jesus auf dem Weg nach Jerusalem auf, jenseits eines gottverlassenen Dorfes, irgendwo zwischen Samaria und Galiläa. Die Zahl Zehn ist kein Zufall. Die Zahl Zehn steht symbolisch für Vollkommenheit. Diese Männer sind vollkommen verloren und sehnen sich nach vollkommener Annahme. Möglicherweise können wir uns das heute nicht mehr vorstellen, wie vollkommen die Verlorenheit dieser Menschen war, die sowohl aus der Gemeinschaft der Menschen als auch aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen waren. Im Grunde ist das die Hölle auf Erden - aus jeglicher Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein.
Die zehn Männer müssen fernbleiben. Sie dürfen mit Haut und Haar nicht die Grenze überschreiten, mit ihrer Stimme dürfen sie es sehr wohl. Zehn Stimmen, wie ein Schrei! Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Bis zu diesem Schrei ist es eine leise Geschichte. Eilige Schritte im Staub, eine verlassene Dorfstraße, verschlossene Fensterläden, flirrende Hitze des Tages. Der zehnfache Schrei unterbricht die Stille, überschreitet die Grenze, läuft auf Schallwellen schneller als auf Füßen. Der Schrei weiß etwas, nimmt das Ziel der Geschichte vorweg, läuft zu Gott und erreicht sein Ziel. Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Wenn wir wissen wollen, wie intensiv die zehn Männer geschrien haben, dann müssen wir nicht weit suchen. Jenseits der Grenzen schreien Menschen so. Mag sein, wir haben verlernt, uns so zu sehnen. Es ist unser Glück, dass wir im richtigen Land geboren sind. Möglicherweise erinnern sich noch die Alten an die Flucht aus der Heimat in ein Deutschland, das sie gar nicht willkommen hieß. „Die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge werden wir nicht mehr los“, das war so ein Spruch damals. Die zehn Männer sind auf der falschen Seite der Grenze.
Die Stimmen überwinden die Grenze, der Schrei erreicht den, dem sie sich nicht nähern dürfen. Jesus hört und erkennt. Hörend erkennt er diese Menschen, sieht in den Stimmen, die sein Ohr erreichen, ihre Geschichte, ihr Elend. Erbarme dich, lieber Meister! Er bleibt stehen, unterbricht seinen Lauf. Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!
Wie eine Heilung bestätigt wird ist klar vorgeschrieben im biblischen Gesetz. Eine Art Quarantäneregel aus antiker Zeit. Wer geheilt vom Aussatz war, musste sich waschen, sich scheren, sich wiederholt den Priestern zeigen, opfern und wurde dann als geheilt erklärt. Das ganze Prozedere dauerte mindestens eine Woche.
„Geht, zeigt euch!“. Das muss für die zehn Männer eine ungeheure Herausforderung gewesen sein. Mit Sicherheit eine noch größere Anstrengung als der Ruf der Verzweiflung. „Geht, zeigt euch“. Ohne ein Zeichen der Heilung. Nur diese Worte. Die Haut sieht – noch – krank aus. Geht. Geht dahin, wo keine liebevollen Augen warten, sondern kühle Sachlichkeit. Es gibt kein ein bisschen gesund oder etwas krank. Entweder sind sie gesund in den Augen der Priester, oder sie werden zurückgeschickt ans Ende der Welt. Zurückgeworfen in die Hölle der Isolation.
Diese Geschichte an der Grenze ist eine der radikalsten Geschichten des neuen Testaments. Gerade deshalb, weil es keine Sofortheilung gibt. Diese Geschichte ist radikal, weil Jesus den Männern zumutet, ohne Visum und Sicherheitscode, einfach auf sein Wort hin, nach Jerusalem zu gehen. Geht! Es ist im Grunde unglaublich, dass die Zehn sich auf den Weg machen.
Sie könnten auch bleiben, in ihren Grenzen, und darin weiterleben. Dann bliebe alles beim alten Leben. Wenn dieses Leben denn das Wort Leben verdient. Aber - kann nach diesem Schrei alles beim Alten bleiben? Dieser Schrei ist ihnen vorausgelaufen und hat seine Stimme zurückgetragen. Geht!
Auf sein Wort hin wagen sie es. Nehmen in Kauf, sich lächerlich zu machen, gedemütigt zu werden. Wenn sein Wort nicht trägt - das ist klar - werden sie sterben. Das Leben jenseits der Grenze ist nicht mehr zu ertragen.
Sie glauben und gehen. Und während sie gehen, heißt es ganz schlicht, werden sie rein.
Einer kommt zurück. Während die anderen weitergehen zu den Priestern, trennt er sich von seinen Leidensgenossen. Er läuft zurück zu Jesus.
Jetzt gibt es die Auslegung, dass er zurückkommt, weil er sowieso nicht nach Jerusalem zum Tempel hätte kommen können. Seine Hautfarbe – ja, schon wieder die Haut! - hätte ihn schon verraten als einen, der - bei Todesstrafe - niemals den inneren Tempelbereich betreten durfte. Dieser Bereich war dem Samaritaner von vornherein verschlossen.
Kein Andersstämmiger durfte in diesen innersten Tempel.
Mich überzeugt eine andere Auslegung.
Wer umkehrt, kann zuweilen denen voraus sein, die ihren Weg weitergehen. Der Samariter ist seinen Leidensgenossen zumindest vorläufig voraus. Er ist zurückgekehrt dahin, wo seine Heilung ihren Anfang nahm.
Der Ort des Schreckens ist zum Ort des Heils geworden. Aus dem gottverlassenen Dorf am Ende der Welt ist ein Platz geworden, an dem das Heil zum Niederknien nahe ist.
Steh auf und geh - damit weist Jesus den Menschen, der vor ihm liegt, zurück in die Welt der Lebendigen.
Jesus muss weitergehen, dieser Mann auch. In eine Welt, in der er nun eine Aufgabe hat: Zu verkünden, was ihm geschehen ist. Eine neue Grenze ist zu überwinden. Jesus schenkt ihm Wegzehrung: Dein Glaube hat dir geholfen, das gibt er ihm mit. Was er erlebt, erlitten, gesehen hat, begleitet ihn von nun an. Er ist geheilt, an Leib und Seele, und wird zum Segen werden für alle, die ihm fortan begegnen. Sein Zeugnis wird überzeugend sein.
Und die, die weitergegangen sind? Sie fehlen. Das macht die Geschichte deutlich. Es steht noch aus, dass sie kommen und danken. Das Heil gilt aller Welt. Erst die Zehn ist die vollkommene Zahl. Alle Menschen sollen heil werden und teilhaben dürfen am Glück der Gottesnähe, sollen teilhaben dürfen an der Gemeinschaft, sollen teilhaben dürfen am Leben. Einer ist zurückgekehrt, neun fehlen noch. Sie erinnern uns daran, dass noch etwas fehlt. Auch in unserem Land.
Eine Geschichte auf dem Weg wird uns erzählt. Eine Geschichte auf dem Weg zwischen Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Einsamkeit und Nähe. Eine Weg-Geschichte zwischen Glauben und dem Warten auf Glauben.
Spüren wir die Sehnsucht, fühlen wir, was uns fehlt? Wissen wir, wohin wir gehen sollen? Und welche Grenze wir überwinden müssen?
Amen.
Verfasserin: Pfarrerin Prof. Dr. Angela Rinn
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