Durch Umbrüche wachsen
von Margit Binz
Predigtdatum
:
04.01.2015
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
2. Sonntag nach dem Christfest
Textstelle
:
Lukas 2,41-52
Wenn Sie diese Predigt als Word-Dokument erhalten möchten, tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse ein und klicken Sie auf "Abschicken"
Pfarrerin Margit Binz
Gottesdienst in Heusenstamm, 4.1.15
Die Gnade Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
es gibt Schwellensituationen, Umbrüche im Leben, wo sich in rasanter Weise etwas verändert – innerlich und äußerlich.
Das kann sehr plötzlich kommen. Oder es fängt langsam an und plötzlich merken sie: Das passt mir nicht mehr. Ich möchte etwas Anderes ausprobieren. Ich möchte mich verändern. Das kann so sein, als wären sie aus Kleidern herausgewachsen. Sie passen nicht mehr, sie sind zu groß oder zu klein oder sie gefallen nicht mehr. Jedenfalls ist es an der Zeit, sich zu verändern. Eine andere Arbeit oder eine neue Aufgabe zu suchen, neue Freundschaften zu knüpfen, mehr den eigenen Interessen nachzugehen, eine Beziehung zu verändern, eine andere anzufangen usw. – Es kann auch sein, dass ein Ereignis von außen zur Umbruchssituation führt: Krankheit oder Tod, ein Unfall, eine Kündigung oder – eigentlich vorhersehbar – der Auszug der Kinder. Wie dem auch sei: Umbruchs- und Schwellensituationen gehören zu den aufregendsten Zeiten in unserem Leben. Aufregend in jeder Hinsicht...
Und diese Zeiten stellen nicht nur uns selbst vor besondere Herausforderungen sondern auch unser familiäres oder freundschaftliches Umfeld. Denn das ist wie im Mobile: Bewegt sich ein Teil bewegt sich das gesamte Ensemble. Manche mögen und genießen das, andere nicht. Denen ist das zu viel Aufregung.
Der Predigttext für heute ist so eine Schwellengeschichte oder Umbruchsgeschichte. Es ist die Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel. Sie steht im Lukas-Evangelium, im 2. Kapitel, in dem auch die Weihnachtsgeschichte steht. Direkt nachdem die Hirten gehen, wird von der Beschneidung und der Namensgebung Jesu erzählt. Wir erfahren, dass Jesus von seinen Eltern im Tempel präsentiert wird. Dort wird er vom Propheten Simeon und der 84-jährigen Prophetin Hanna als Messias erkannt. Und dann gibt es einen Zeitsprung, Jesus ist 12 Jahre alt und es wird folgende Geschichte erzählt:
41 Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. 42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. 43 Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht.
44 Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. 45 Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. 46 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. 47 Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. 48 Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. 49 Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. 51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Mit 12 Jahren ist vieles im Umbruch: Pubertät, Wachsen, Erwachsen werden, Geschlechtsreife, Liebe, Leidenschaft, Auseinandersetzungen mit den Eltern, der Wunsch und manchmal auch der Kampf, mehr selbst bestimmen zu können, ständig aus Kleidern herauswachsen, in einen neuen Körper hinein wachsen, Neues suchen, ausprobieren und so weiter und so fort. Viel Bewegung, viel Veränderung. Aufregend!
Das kann in der Familie zu erstaunlichen Auseinandersetzun-gen führen und Aufregung verursachen. So auch in der Familie von Jesus: Der 12-jährige Jesus ist offensichtlich dabei, aus seiner Familie herauszuwachsen. Er macht sich selbständig und bleibt in Jerusalem ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Man könnte das abhauen nennen. Erst nach drei Tagen finden seine Eltern ihn wieder. Und die Reaktion ist dann auch so. Sie regen sich auf und seine Mutter macht ihm Vorwürfe:
Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Seine Reaktion: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?
Im Klartext heißt das: Mein Platz ist nicht bei euch. Und du bist nicht mein Vater, sondern Gott. Also: Du hast mir überhaupt nichts zu sagen.
Hier wächst jemand gerade heraus aus seinen Kleidern, aus der Familienstruktur und stellt die väterliche Autorität in Frage, die damals ganz anders war als heute. Das verursacht Aufregung. Im Rückblick wenn man sie gemeinsam bewältigt hat, sprich, wenn sich das gesamte Mobile verändert hat, sind solche Auseinandersetzungen manchmal amüsant. Wenn man mitten drin ist, nicht unbedingt. Da regen sich alle auf.
Das, was Jesus hier macht, ist ein Verstoß gegen die Erwartungen und Ordnungen seiner Familie. Er enttäuscht seine Eltern schwer, ja, „er tut ihnen etwas an“. Erstmals. Denn später wird er das wieder tun. Als erwachsener Mann legt er irgendwann seine familiäre Rolle und Verpflichtung gänzlich nieder. Als ältester Sohn verläßt er seine Familie, läßt sich taufen und zieht durchs Land. Als er lehrt und großen Zulauf hat, kommt seine Familie und will ihn nach Hause holen, weil sie denken und sagen: „Er ist von Sinnen“. Er antwortet ihnen mit: „Wer ist meine Familie, meine wahren Brüder und Schwestern?“ In Klammern: Ihr nicht! Die mir nachfolgen sind meine Familie und meine wahren Brüder und Schwestern.
Auch die Berufungen seiner Jünger sind so. Sie sollen alles verlassen, auch ihre Familien und ihm nachfolgen.
Insbesondere mit den Familien scheint es daher oft zu Konflikten gekommen zu sein. Denn da sind die Erwartungen und Bindungen ja besonders hoch. Damals wie heute. Die Erwartungen an den ältesten Sohn z.B.: Er soll die Familientradition weiterführen, das Baugeschäft übernehmen, den Namen weitergeben usw. Oder die Erwartungen an die Tochter, häufig auch die älteste: Sie soll die Eltern pflegen, die Mutter unterstützen, sich um Geschwister kümmern usw.
In einer Familie sind Rollen und Erwartungen oft klar verteilt. Einer ist der einzig Vernünftige, der andere ein Nichtsnutz oder das schwarze Schaf. Eine ist die Schlaue, der andere schon immer schwer von Begriff. Eine ist die Träge, die andere das Energiebündel, einer der Sonnenschein, die andere das Sorgenkind, eine die Lustige, ein anderer das stille tiefe Wasser. Es gibt die Jüngsten, die verwöhnt sind, die Mittleren, die weniger beachtet wurden und die Älteren, die alles erkämpfen mussten. Und dann natürlich das einzige Kind, auf dem alle Erwartungen auf einmal lasten.
In Familien gibt es Zuschreibungen, Rollen und Erwartungen, die der jeweiligen Person, ihren Wünschen und Möglichkeiten gar nicht gerecht werden. Und häufig trägt man diese Rollen und Erwartungen ein Leben lang mit sich und versucht, ihnen gerecht zu werden auch außerhalb der Familie, im Beruf oder Freundeskreis oder man kämpft gegen sie an.
Sie können ja zuhause mal überlegen: Welche Rolle hatten oder haben Sie in ihrer Familie? Welche Erwartungen begegnen Ihnen? Und welche davon würden Sie gerne mal enttäuschen? Aber Vorsicht: Es könnte zu Aufregung führen!
Der 12-jährige Jesus seilt sich hier von seiner Familie ab, weil er ahnt, dass das Leben, das sie für ihn vorgesehen haben, nicht ganz passt. Als Zimmermannssohn soll er Häuser planen, Material einkaufen, Statik berechnen, Leute einstellen, Gebäude bauen, solide ein Familienunternehmen führen. Das war es aber nicht für ihn. Und mit 12 Jahren wird das schon deutlich. Er wächst langsam heraus aus dieser Zukunft hinein in eine andere. Die ist noch unklar, rätselhaft. Aber klar ist: Hier ist ein Umbruch, eine Schwelle. Interessanterweise wird durch dieses Ereignis auch nicht gleich alles umgekrempelt. Es führt zu Aufregung, aber dann geht Jesus mit. „Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan.“ Noch, so könnte man ergänzen.
Nun ist Pubertät – und da ist man mit 12 Jahren mitten drin – eine der zentralen Umbrüche im menschlichen Leben. Ein Kind wird erwachsen und muss sich neu erfinden. Das ist gigantisch!
Aber machen wir uns nichts vor: Es hört danach nicht auf. Auch wenn wir erwachsen sind: Wir wachsen weiter. Es gibt Ruhephasen. Phasen des stillen Wachstums und dann kommt ein Umbruch und wir müssen uns wieder neu erfinden.
Umbrüche bringen Unruhe und Aufregung mit sich, weil noch nicht ganz klar ist, was kommt. Es sind kostbare Zeiten, in denen wir lernen, uns anders zu bewegen in der Familie und sonstwo, auch im Beruf oder Freundeskreis, Zeiten, in denen wir wachsen, reifen und uns neu erfinden können. Und nicht nur uns. Vorhin habe ich ja schon das Bild vom Mobile angeführt: Wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich die anderen mit. In Umbruchssituationen werden ganze Beziehungen verändert, neu gestaltet, manchmal auch mal abgebrochen, dann seilt sich jemand ab. Auch für andere verändert sich viel. Das Leben wird beweglicher.
Um beweglich zu werden und zu bleiben, gehört es auch dazu, Erwartungen zu enttäuschen und sich an eigenen Zielen und Maßstäbe zu messen. Jetzt zum Jahreswechsel ist vielleicht sogar eine gute Zeit, sich zu überlegen: Welche Ziele und Wünsche habe ich eigentlich? Und sind das meine? Oder will ich damit anderen gerecht werden? Welche Erwartungen möchte ich vielleicht enttäuschen? Welche Erwartungen habe ich selbst an andere. Und ist manche Enttäuschung vielleicht ganz gut.
Im Lukas-Evangelium ist die Geschichte vom 12 jährigen Jesus so etwas wie eine Vorbotschaft. Sie zeigt die Richtung, in die es gehen wird. Schaut, Jesus wächst schon hier in seine Rolle als Messias hinein; eine Rolle, in der er auch viele Erwartungen enttäuscht hat! Aber das wäre eine andere Predigt.
Wir sind in der glücklichen Situation, dass keiner von uns in eine Rolle als Messias hineinwachsen muss! Und es muss auch hoffentlich keiner von uns solch immense Erwartungen enttäuschen, nur manchmal die ganz alltäglichen Erwartungen von Familie, Chef, Kolleginnen, Freunden.
Die Geschichte vom 12-jährigen Jesus kann uns helfen mit unseren eigenen Umbruchsituationen und Enttäuschungen. Umbruchsituationen müssen weder Katastrophen noch Revolutionen sein, sondern vielmehr Wachstumprozesse! Unvermeidlich und aufregend. Denn zum Leben gehört es, sich zu entwickeln, zu wachsen, sich zu bewegen und zu verändern. Immer wieder bis ins hohe Alter, ja bis zum Tod.
Von Jesus heißt es am Ende der Geschichte: „Und er nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“ Und ich wünsche uns, dass auch wir bei allen Wachstums- und Veränderungsprozessen zunehmen an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.