Wochenspruch: Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Mt. 25,40)
Wochenlied: EG 343
Weitere Liedvorschläge: EG 232; 413; 397; 631
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Liebe Gemeinde!
Es gibt Dinge in unserem Leben, die kann ich gar nicht oft genug sehen: Ich denke an ein besonderes Schmuckstück, geerbt von einem lieben Menschen. Materiell wertvoll ist es nicht. Doch mir bedeutet es sehr viel. Jedesmal, wenn ich es ansehe, wird mir warm um’s Herz, Erinnerungen ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Für mich eine Kostbarkeit!
Ähnlich ergeht es mir auch mit einigen Spielfilmen, die ich immer wieder mit Gewinn sehen kann. Und wie verblüffend, manche Szenen hätte ich vor dem erneuten Sehen genau beschreiben können und bei anderen kommt es mir vor, als würde ich sie zum ersten Mal sehen. Ich entdecke Neues. Staune über meine Wahrnehmung, die so wählerisch ist. Es gibt aber auch Dinge, Menschen und Ereignisse, die ich zwar sehe, aber die ich gleich wieder vergesse. Die ich kaum oder gar nicht wahrnehme. Weil sie mich nicht betreffen, nicht interessieren oder weil anderes meine Auf merksamkeit in Anspruch nimmt.
Warum ich davon erzähle?
Bei einigen biblischen Geschichten ergeht es mir ähnlich. Sie sind mir aus frühster Kindheit vertraut. Ja, manchmal meine ich, diese oder jene Geschichte könnte ich wortwörtlich nacherzählen. Und wenn ich sie dann höre oder lese, war mir doch etwas Wichtiges entgangen. Auch hier entdecke ich immer wieder Einzelheiten, die mir völlig neu scheinen.
Auch die Erzählung vom barmherzigen Samariter ist so eine Geschichte, die ich sehr gut kenne. Ich lade sie ein, heute gemeinsam mit mir diese für viele von uns ‘alte Bekannte’ anzusehen. Liebevoll und kritisch, aber vor allem auch voller Erwartung, etwas Neues zu entdecken. So wie ein Sprichwort sagt: Man sieht wohl etwas hundertmal, tausendmal, bis man es zum ersten Mal richtig sieht. Natürlich muß dies nicht ausgerechnet heute passieren, aber wer weiß ...
Heute soll es also vor allem um die eigentliche Erzählung gehen. Weniger um das ‘Drum-herum’. Im sogenannten Rahmen dazu diskutiert Jesus mit einem Schriftgelehrten. Plötzlich steht eine Frage im Raum - „Wer ist denn mein Nächster?" Jesus ist gefragt: Wen wird er nennen? Wie reagiert er?
Jesus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter statt einer Antwort. Nein, sogar als Antwort. Nur so, daß die Hörer und Hörerinnen selbst mitdenken müssen. Sie sollen überlegen, wie die Geschichte zu verstehen ist.
Worum geht es also? Lassen Sie uns die Szene betrachten als sähen wir ein Bild vor uns: Ein Mensch ist unterwegs, von Jerusalem noch Jericho. Ein anstrengender Weg - gut eine Tagesreise. Viele Höhenmeter sind zu bewältigen, denn Jericho liegt erheblich tiefer. Eine eher gefährliche Gegend. Die Straße führt durch felsige Schluchten der judäischen Wüste. Es geht fast ständig bergab.
Unterwegs ist ein ‘Mensch’. Wir erfahren nichts von ihm, außer dem Ausgangspunkt und Ziel seines Weges. Da steht einfach nur ‘ein Mensch’. Es ist völlig unwichtig, wie er heißt, welche Religion, Hautfarbe oder welches Geschlecht dieser Mensch hat.
Dieser Mensch wird von Räubern überfallen, ausgezogen, geschlagen und halbtot liegen gelassen. Da liegt er nun. Ohne Wasser und Verpflegung hat er in der öden Gegend dort kaum eine Chance zu überleben.
Trotzdem kommen zwei, sehen ihn - und gehen vorbei. Zuerst ein Priester und dann ein Levit. Beide haben vermutlich im Tempel in Jerusalem Dienst gehabt und gehen nun denselben Weg wie der Ausgeraubte.
Der Dritte, der kommt, ist ein Samariter. Also einer, der im Gebiet um die Stadt Samaria lebte und dessen Religion eine besondere, vom Judentum abgespaltene war. Einer, der jüdischen Menschen damals als unrein galt. Einer zu dem keinerlei Körperkontakt erlaubt war. Ausgerechnet er bleibt nicht beim Sehen. Eben dieser Samariter versorgt die Wunden für’s Erste, bringt den Verletzten in eine Herberge und kümmert sich dann sogar noch um sein weiteres Wohl.
In der Geschichte geht es um das Sehen. Um unterschiedliches Sehen. Alle drei, die dazukommen, haben das gleiche Bild vor Augen: Da ist ein Mensch in Not. Klar ist, ohne Hilfe ist er verloren, wird er wohl bald sterben. Doch - Sehen und Sehen ist nicht unbedingt dasselbe...
Das eine Sehen ist eher ein Zusehen oder Übersehen. Von dem Priester und dem Levit heißt es jeweils: „Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.“ Dieses Sehen bewirkt nichts. Der Zuschauer oder Passant bleibt völlig passiv. Mit Erschrecken können wir feststellen, daß wir alle sehr oft Zuschauer sind. Im Theater, Kino oder vor dem Fernseher hat das Zuschauen seinen Platz und sein Recht. Doch auch im Alltagsgeschehen nimmt das Zuschauen, bei dem sich die Betroffenen seltsam passiv verhalten, erschreckend zu. Mag sein, daß wir alle das Zuschauen stärker als frühere Generationen gewohnt sind und uns deshalb auch sonst manchmal vorkommen, als seien wir ‘im Film’. Doch das ist gefährlich.
Im Frühjahr erschütterte mich die Schlagzeile ‘Siebzehnjährige in S-Bahn vergewaltigt’. Berichtet wurde von einer Gewalttat in Hamburg. Besonders alarmierend war dabei, daß dies geschehen konnte, obwohl im benachbarten Abteil Mitfahrende zu sehen und zu hören waren. Aber sie reagierten nicht. Niemand kam dem Opfer zur Hilfe. Nur ein Beispiel für die erschreckend zunehmende Bereitschaft zum Wegschauen. Oft sicher aus der Sorge, selbst etwas abzubekommen. Oder der Wunsch, nicht in anderer Leute Probleme hereingezogen zu werden, steckt dahinter. Wenn Sehen Zusehen bleibt, ist Vorsicht geboten. Gerade, weil im Fernsehen so häufig Gewalt und Elend zu sehen ist, müssen wir uns in Acht nehmen, damit wir nicht völlig abstumpfen.
Ganz anders ist das Sehen des Samariters. Wie kommt er dazu, dem Überfallenen zu helfen? Sicher war das auch damals gefährlich. Vielleicht waren die Räuber ja noch in der Nähe? Warum sieht der Scimariter den, der Hilfe brctucht, mit cinderen Augen? Warum bleibt sein Sehen nicht so passiv, sondern bewirkt etwas? Es heißt- und als er ihn sah, jammerte er ihn'. Darin liegt der Unterschied. ber Samariter laßt das, was er sieht, in sich herein. Was er sieht, geht ihm zu Herzen. Er leidet mit dem Verwundeten. Ein Mensch hat Mitleid mit einem anderen. Die Frage: Wer verdient meine Hilfe und wer nicht, wird gar nicht gestellt.
Der Samariter kommt dem Menschen, der Hilfe braucht, nahe. Im griechischen Text steht das Wort für ‘sich jemandem nähern’. Das entscheidende Nahesein' ist ein Nahe-kommen, Nächstersein heißt Nächster-werden'(Gollwitzer) Das hat Jesus für den Schriftgelehrten im Sinn. Denn die Geschichte ist ja eine Antwort auf die Frage, Wer ist denn mein Nächster?
Wir können einander zu Nächsten werden. Wir finden uns nicht als Ferne oder Nahe vor, unabänderlich. Alle Grenzen, die Menschen voneinander trennen sind überwindbar. Es ist vor allem eine Sache des richtigen Sehens: es darf nicht beim Sehen allein bleiben, sondern: „Als er ihn sah, jammerte er ihn“. Das Mitleid ist entscheidend. Oder wie Martin Luther es in einer Predigt formuliert hat: -Die Nächsten sind die, die vor Gott zusammengehören, einer, dem es mangelt, und einer, der hilft; da bleibt es nicht bei Worten, sondern kommt in die Tat“.
Und noch etwas ist bemerkenswert: in der ganzen Geschichte ist von Gott nicht die Rede. Das Wort ‘Gott’ kommt in Jesu Erzählung nicht vor. Trotzdem ist deutlich, daß es immer auch um Gott geht. Denn Gott ist überall da unter uns, wo wir im Gesicht unseres Gegenübers einen Menschen, einen Nächsten sehen. Gott wird erfahrbar, wo wir, wie es der Samariter tat, an denen, die es nötig haben, - seine Stelle vertreten.
Mag sein, daß wir das Leid der Menschen unsrer Erde viel zu oft im Fernsehen sehen und es dort sehr ‘fern’ bleibt. Doch wie gut tut es uns - und auch anderen - wenn wir Menschen begegnen, die sich uns zuwenden und uns ansehen, die bewußt nach uns sehen und fragen - die uns zu Nächsten werden.
Fernsehen ist oft fernbleiben. Das Heil liegt jedoch im Nahekommen, im folgenreichen Ansehen. So werden wir einander zu Nächsten. Amen.
Pfarrerin Renate Schubert
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