Gott und sein Volk
von Mechthild Böhm (55122 Mainz)
Predigtdatum
:
09.08.2015
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
9. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle
:
Lukas 19,41-48
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Wochenspruch:
"Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!" (Psalm 33, 12)
Psalm: 106, (4) 5a. 6. 47a (48a)
Lesungen
Altes Testament: 2. Mose 19, 1 - 6
Epistel: Römer 9, 1 -8. 14 - 16
Evangelium: Lukas 19, 41 - 48 oder Markus 12, 28 - 34
Liedvorschläge
Eingangslied: EG 452, 1+2 +5 Er weckt mich alle Morgen
Wochenlied: EG 293, 1 - 2 Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all
Predigtlied: EG 545, 1 - 4 Wir gehn hinauf nach Jerusalem
Schlusslied: EG 426, 1 - 3 Es wird sein in den letzten Tagen
Vorbemerkung
Die Predigt für den Israelsonntag beschränkt sich auf den ersten Teil des Predigttextes: Jesus weint über Jerusalem. Hier, in dieser „Stadt des Friedens“, über die die größte biblische Friedens-Verheißung ausgesprochen ist (Jesaja 2, 1 - 5), prallen damals wie heute krasse Gegensätze poli-tischer und religiöser Haltungen aufeinander, vom Frieden ist sie weit entfernt. Auch der palästinensisch-israelische Konflikt muss hier m. E. angesprochen werden. Die Predigt stellt die Frage: Wie leben wir zwischen Unfrieden und Ver-heißung?
Predigt
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und Jesus Christus, unserem Bruder und Freund. Amen.
Liebe Gemeinde,
auf dem Ölberg bei Jerusalem steht die kleine Kirche „Do-minus flevit“, zu Deutsch: der Herr weinte“. Die fromme Legende lokalisiert hier den Ort, wo Jesus beim Anblick der Stadt in Tränen ausbrach. „Dominus flevit“ hat tatsächlich die Form einer Träne, ein bisschen kitschig ist diese kleine Kirche schon. Aber der Blick von dort auf die Stadt Jeru-salem ist phantastisch. Bei gutem Wetter glitzert die gol-dene Kuppel des muslimischen Felsendomes auf dem Tem-pelberg in der Sonne. Die schützende Stadtmauer grenzt die Stadt zum Kidrontal hin ab. Dort, im Kidrontal sind die Grä-ber von abertausenden jüdischen Gläubigen. Über den eng zusammengerückten Dächern der Häuser in der Stadt er-heben sich die Kuppeln und Türme von Synagogen, Kirchen und Moscheen. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Men-schen, die hier leben, ist der Stadt schon von weitem anzu-sehen. Und was besonders schön ist: Die Stadt scheint dem Himmel so nah.
Nichts in der Umgebung liegt höher als Jerusalem.
Als ich im Februar dieses Jahres dort auf dem Ölberg bei „Dominus flevit“ stand und auf Jerusalem blickte, fragte ich mich: Hier Tränen vergießen?! Hier hat Jesus geweint?! Es ist doch so schön!
Natürlich ist mir klar, dass die Stadt zurzeit Jesu anders aussah als heute. Aber ihre erhabene Lage über allen um-gebenden Bergen und Hügeln ist unverändert. Unverändert ist auch die Vielfalt der Menschen in ihr, für die diese Stadt heilig ist. Heilig auf jeweils so unterschiedliche Weise.
Und der Blick Jesu auf diese Stadt war ein anderer, als der Blick, den ich mit meinem Fotoapparat festgehalten habe.
Jesus sieht die Stadt und weint. Der Blick Jesu ist ein an-derer. Ich stelle mir vor: ein eindringlicherer Blick ist es, der unter die Oberfläche geht. Ein Blick, der die Menschen wahrnimmt, die in dieser Stadt leben. Die nicht zum Frieden finden, obwohl ihnen allen diese Stadt heilig ist. Die ihre Verschiedenheit nicht bereichert, sondern ängstigt und aggressiv macht.
Jesus sieht die Stadt und weint. Ein extremer Gefühlsaus-bruch. Dass Jesus weint, wird in den Evangelien nur hier ge-schildert. Er fühlt mit den Menschen in dieser Stadt. Es macht ihn traurig zu sehen, wie wenig sie aufeinander Acht geben, wie wenig sie sich verstehen. Wie sehr jeder auf seinen Vorteil bedacht ist. Es ist zum Weinen, diese Recht-haberei und der Hass unter ihnen. Sie nehmen Rechte für sich in Anspruch und lassen sie nicht für andere gelten.
Jesus kann nur noch in Tränen ausbrechen, wenn er sieht, dass sie einander nicht beistehen und nicht helfen. Dass Achtung und Respekt untereinander fehlen.
Es ist zum Weinen, dass die Menschen alle Einladungen zum Frieden untereinander nicht annehmen. Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen! Es ist zum Weinen, dass sie die Ideen zum Friedenstiften, die es ja gibt, nicht auf-greifen. Es ist zum Weinen, zu sehen, wie sehr sie sich in Hass und Feindschaft verstrickt haben.
Und heute? 2015? Hat sich daran etwas geändert?
Jesus sieht die Stadt und weint. Als wären die Worte Jesu wahr geworden ist ein Wall rund um den arabischen Teil der Stadt aufgeworfen, schlimmer noch: die Israelis haben eine Mauer gebaut. Sie soll Sicherheit vor palästinensischen At-tentätern bieten, denn die Angst vor Anschlägen ist groß. Doch diese Mauer verhindert auch, dass palästinensische Menschen sich im eigenen Land frei bewegen können, dass sie zu ihren Gärten und Äckern kommen. Wege sind ver-sperrt, Möglichkeiten genommen. Angst und Aggression werden auf beiden Seiten weiter geschürt.
Jesus sieht die Stadt und weint. Er weint mit Mohammed, einem Palästinenser aus Ramallah. Der hat ein kleines Fo-togeschäft in der Altstadt von Jerusalem. Seit drei Gene-rationen führt seine Familie schon dieses Geschäft. Viele Touristen und Pilger kaufen dort. Ein sicheres Einkommen für die Familie. Doch vor drei Monaten ist Mohammed die Erlaubnis entzogen worden, den Checkpoint an der Mauer zwischen dem Palästinensergebiet und Israel weiterhin täg-lich zu passieren. Mohammed hat keine Ahnung, warum. Er darf nicht mehr nach Jerusalem. Er kommt nicht mehr an seinen Arbeitsplatz, in sein Geschäft. Er verdient nichts mehr. Aus Angst um seine Familie protestiert er nicht. Jetzt hat er eine Stelle als Nachtwächter in Ramallah angenom-men, damit wenigstens ein bisschen Geld reinkommt.
Jesus sieht die Stadt und weint. Er weint mit Nathan, einem jungen orthodoxen Juden. Mit Mitte zwanzig ist er verhei-ratet, hat schon zwei Kinder, das dritte ist unterwegs. Dass er nicht nur die Thora studiert, sondern sich abends in den Cafés und Bars gerne auch mit muslimischen und christ-lichen Gleichaltrigen trifft, wissen seine Freunde nicht, noch nicht mal seine Frau. Sie würden es nicht verstehen, dass er gerne die Ansichten der jungen Christen und Moslems hört, mit ihnen diskutiert. Er tritt ihnen mit Achtung gegenüber, ihren Respekt genießt er. Mit ihnen zusammen malt er sich aus, wie Frieden miteinander aussehen könnte. Nein, seine Freunde könnten nicht nachvollziehen, dass Nathan die Ver-schiedenheit anzieht und fasziniert.
Jesus sieht die Stadt und weint. Er weint über Yad Washem. Die Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, auch sie ge-hört zu Jerusalem. Die unvorstellbare Grausamkeit der Ju-denverfolgung ist hier dokumentiert. Für die Stadt Jerusa-lem und für das jüdische Volk ist die Last der Geschichte hier so präsent, dass es kaum zu ertragen ist. Die Erinne-rung daran kann nicht vergehen und sie darf nicht verge-hen. Die Geschichte ragt mit aller Härte in die Gegenwart hinein.
Jesus sieht die Stadt und weint.
Zurzeit Jesu wie auch heute gibt es viele Gründe zu weinen.
Heute ist Israel-Sonntag. Der Sonntag, an dem wir Christen uns in besonderer Weise die Verbundenheit mit Gottes aus-erwähltem Volk Israel bewusst machen. Das jüdische Volk ist und bleibt Gottes auserwähltes Volk. Das gilt es gerade für uns Christen und für uns Deutsche immer wieder fest-zuhalten. Es ist beschämend und zum Weinen, wie oft das vergessen und verdrängt wurde.
Heute ist Israel-Sonntag. Im Kirchenjahr der 10. Sonntag nach Trinitatis, auch „Gedenktag an die Zerstörung Jeru-salems“. Meist fällt er in den August und somit in die zeit-liche Nähe zum jüdischen Gedenktag Tischa beAv . Juden gedenken damit der Zerstörung des ersten Tempels am 9. Av. Für Juden ein Tag der Trauer. An der Stelle des jüdi-schen Tempels steht heute der moslemische Felsendom.
Jesus sieht die Stadt und weint.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Es geht mir heute nicht darum, nur zu weinen. Um die Verbindung von Sehen und Weinen geht es. Genau und ohne Beschönigung hinse-hen, was ist. Was nicht nach Gottes Willen ist. Was falsch ist. Was sich ändern muss. Darüber klagen und weinen. Und es auch klar aussprechen und benennen.
Mit den Menschen fühlen. Um sie weinen. Und für sie die Stimme erheben.
Für die Menschen in Jerusalem. Und für die Menschen in Mainz. (hier die eigene Stadt und ihre speziellen Probleme und Herausforderungen benennen)
Es ist zum Weinen, dass viele Mainzer Flüchtlinge will-kommen heißen wollen, aber doch bitte nicht in ihrer Nach-barschaft. In der Vierzehn-Nothelfer-Straße etwa scheint das nicht zumutbar.
Es ist zum Weinen, dass die neue Synagoge in der Neustadt solch extremen Polizeischutz braucht.
Jesus ist nicht weinend vor den Toren der Stadt stehen ge-blieben. Er ist hineingegangen. Mit Tränen in den Augen. Und mit Wut und Tatkraft im Herzen.
Wir sind nicht Jesus. Abe wir könnten wie er genau hin-sehen. Nicht aufhören, darüber zu weinen und zu klagen, was in Jerusalem fürchterlich ist. Und es auch benennen! Diese heilige Stadt – und unsere Städte - im Herzen behal-ten.
Nicht aufhören auf den zu hoffen, der die Menschen alle zum Frieden ruft. Und der Frieden schaffen kann.
In Jerusalem ganz besonders. Aber auch in unseren Städten. Frieden, wie ihn der Prophet Jesaja in Gottes Auftrag über Jerusalem verheißen hat:
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel er-haben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völ-ker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Stei-gen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Verfasserin: Pfarrerin Mechthild Böhm
Im Münchfeld 2, 55122 Mainz
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