Wochenspruch: Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40b)
Psalm: 112
Reihe I: Markus 3,31-35
Reihe II: Apostelgeschichte 6,1-7
Reihe III: 1. Mose 4,1-16a
Reihe IV: Lukas 10,25-37
Reihe V: 1. Johannes 4,7-12
Reihe VI: 3. Mose 19,1-3.13-18.33-34
Eingangslied: EG 168, 1-3 Du hast uns, Herr, gerufen
Wochenlied: EG 412 So jemand spricht: Ich liebe Gott
Predigtlied: EG 221, 1-3 Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen
Schlusslied: EG 590 Herr, wir bitten: Komm und segne uns
31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Liebe Gemeinde,
vielleicht geht es Ihnen ja wie mir: dass Sie nach dem ersten Hören dieser Geschichte etwas peinlich berührt sind. Weil wir von außen Zeugen einer konflikthaften Familienszene werden: Jesu Mutter und seine Geschwister stehen vor der Tür und wollen ihn sprechen. Aber Jesus reagiert befremdlich abweisend: nicht sie seien seine Verwandten, sondern „das Volk“, also die Leute, die sich um ihn gesammelt haben und ihm zuhören! Eine schroffe Zurückweisung!
Allerdings hat die eine Vorgeschichte: Markus erzählt uns nur wenige Verse zuvor (Markus 3, Vers 20), dass seine Verwandtschaft dort aufgetaucht ist, wo Jesus predigte und wirkte, um ihn zu „ergreifen“, um ihn also mit Gewalt zurückzuholen in die Familie. Sie nehmen an, Jesus sei „von Sinnen“. Und jetzt stehen sie wieder vor der Tür und lassen ihn rufen – ganz gewiss immer noch mit der Absicht, sein Wirken zu beenden und ihn mit nach Hause zu nehmen. Befremdlich also auch das Verhalten der Familie Jesu, die mit dem jungen, aber längst erwachsenen Mann umgehen wie mit einem durchgedrehten kleinen Kind.
Und spätestens da kommt mir diese Geschichte ganz nahe. Wir kennen das alle: die Familie ist auch ein Ort von Konflikten – wie immer die begründet sind und wie auch immer damit umgegangen wird. Und es ist unendlich befreiend und entlastend, dass die Bibel über solche familiären Schwierigkeiten und Spannungen in der Familie Jesu offen und frei berichtet. Nach der Bibel dürfen solche Probleme angesprochen werden. Sie müssen keine peinlichen Tabuthemen bleiben, und damit alle Beteiligten noch zusätzlich belasten. Wir sind doch Menschen und dürfen Menschen sein. Genau dazu ermutigt uns das Evangelium.
Gewiss ist es harter Tobak, von den Seinen für verrückt erklärt zu werden. Manche Menschen machen diese Erfahrung. Wegen ihrer Ansichten oder wegen ihrer Lebensführung werden sie in der eigenen Familie zu Außenseitern. Ihrer Familie sind sie peinlich. Man würde sie am liebsten verstecken. Schlimmstenfalls werden sie als unerträglich gemieden. Und auch das kennen nicht nur die jungen Erwachsenen: Die Verwandtschaft rückt einem buchstäblich auf die Pelle. Und in ihren Gesichtern ist deutlich der Anspruch zu lesen, man habe jetzt gefälligst zu parieren und der Autorität der Familie Folge zu leisten. „Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.“
Familiengeschichten haben meistens zwei Seiten. Aus der Familie gibt es Geschichten voller Wärme und Geborgenheit. Es gibt darin unbeschwerte und fröhliche Szenen. Erinnerungen an erfahrene Liebe und an familiären Zusammenhalt werden gerne wachgehalten. Auch Jesus hat seine Familie so erfahren. Die Weihnachtsgeschichte lässt uns ahnen, dass er ganz normale, liebevolle Eltern hatte. Trotz gewisser Unsicherheiten im Blick auf die väterliche Abstammung haben sie uneingeschränkt „Ja“ zu ihm gesagt. Und als der 12-Jährige nach dem Passahfest im Tempel sowohl die Eltern als auch die Zeit vergaß und mit den Frommen fröhlich diskutierte, da suchten sie besorgt nach ihm.
Familiengeschichten sind auch Konflikt- und Streitgeschichten. Das ist immer so, wo Menschen einander nahe sind und sich mögen. Da gibt es Geschichten von subtiler Machtausübung, verqueren Gesprächen, von Schuldgefühlen und Abhängigkeit. Der Evangelist Markus schildert in seinem Evangelium ungeschminkt Jesus, unseren Bruder, den wahren Menschen, mit seinen ganz normalen irdischen Zügen. Jesus hat Durst und Hunger. Er ist müde und auch einmal zornig. Er hat Angst und Schmerzen. Und er hat eine Familie. Die wird ebenfalls ganz normal und irdisch geschildert – sehr im Gegensatz zu der frommen Schminke, mit der die Familie Jesu in späterer Zeit zu einer „Heiligen Familie“ umgemodelt wurde.
In unserer biblischen Geschichte treten die Mutter und seine Geschwister massiv und fordernd auf. Sie wollen den Erstgeborenen schlicht aus dem Verkehr ziehen. Wie er auftritt, wie er redet, was er tut – all das ist ihnen suspekt geworden. Sie wähnen ihr eigenes Ansehen in Gefahr. Sie sehen den Familienfrieden gefährdet. Vielleicht fürchten sie sogar – wie die ebenfalls anwesenden Schriftgelehrten -, dass er den religiösen Frieden Israels gefährdet. Was die Leute über Jesus so reden, bestärkt sie in ihrem Ansinnen, ihren Ältesten zumindest für eine Zeit lang in eine Art familiäre Schutzhaft zu nehmen. Und wie in manchen Familien auch heute durchaus üblich, reden sie nicht direkt mit ihrem Sohn, sondern tun das durch andere: „(sie) schickten zu ihm und ließen ihn rufen.“ Deutlicher kann man Macht- und Herrschaftsansprüche über den ältesten Sohn nicht zum Ausdruck bringen.
Und genau diese Ansprüche wehrt Jesus schroff zurück. Denn menschliche und irdische Macht- und Herrschaftsansprüche, liebe Gemeinde, haben bei Jesus nun gerade keinen Stellenwert. Weder seiner Familie noch den nationalen und religiösen Autoritäten Israels in Gestalt der Schriftgelehrten und Pharisäer gesteht es Jesus zu, über seinen Weg, über seine Botschaft und sein Tun zu bestimmen. Auch nicht seinen Jüngern, die von dem Weg und Willen Jesus oft herzlich wenig verstehen.
In Jesus begegnet uns nach den neutestamentlichen Zeugnissen nicht nur ein wahrer Mensch, sondern auch der Sohn Gottes. Auf einzigartige Weise verkörpert er mit seinem ganzen Leben den Willen und das Wesen Gottes. Hellsichtige Menschen erkennen in ihm den Messias. Er sprengt die Grenzen menschlichen Denkens. Er bezeugt einen Gott, dessen Liebe all unsere Vorstellungskraft bei weitem übersteigt. Seine Barmherzigkeit macht bei den Kindern Israels nicht Halt. Sie gilt auch den damals so verhassten Samaritanern und den Römern. Sie umfasst die Griechen und alle Völker diesseits und jenseits der damals bekannten Welt. Er wendet sich nicht nur denen zu, die sein Wort kennen und achten. Seine Augen blicken auch gütig auf die, die davon bislang nichts wissen wollten oder nichts wissen konnten.
Menschen richten untereinander religiöse und nationale Grenzen auf. Für Jesus spielen diese Grenzen kaum eine Rolle. Er überschreitet sie unbekümmert, wenn Menschen jenseits dieser Grenzen seine Hilfe brauchen. Auch die im Orient so wichtige Familie hat nur begrenzte Autorität, wenn sie Gottes Liebe zu allen Menschen in Frage stellt. „Er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Wer die sind, die da um ihn herumsitzen? Es sind ganz einfache, normale Leute – nicht nur seine Jünger. Es sind Männer und Frauen, die nur eines verbindet. Sie wollen in der Nähe Jesu sein und hören, was er sagt. Sie sind, wie Markus zuvor erzählt, mit ihren Krankheiten und Lebensängsten gekommen, die ihnen das Leben schwermachen. Sie vertrauen auf Jesus. Sie lassen sich von seinem Wort anrühren und anstecken. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass auch Mitglieder der Familie Jesu das zu einem späteren Zeitpunkt ebenso getan haben: Maria spielte eine wichtige Rolle in der Urgemeinde und in der entstehenden Kirche. Mindestens einer seiner leiblichen Brüder findet sich später im Kreis der Apostel wieder. Familiengeschichten sind, Gott sei Dank, ganz oft auch Versöhnungsgeschichten!
Die Menschen, die Jesus jetzt als seine Geschwister bezeichnet, die haben das von sich aus weder geplant noch gewollt noch verdient. Er selbst, Jesus, hat das frei entschieden, sie so zu nennen. Er nimmt sie auf in die Familie Gottes. Und die, die er überraschend Brüder und Schwestern nennt, haben nichts weiter zu tun, als sich das schlicht gefallen zu lassen, was ihnen Jesus da zuspricht. Sie können ihr „Ja“ sagen zu dieser FROHEN Botschaft. Sie können sich freuen und einwilligen, zur Familie Gottes gehören zu dürfen. „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister. Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Liebe Gemeinde, heute sind wir das „Volk“, das sich um Jesus versammelt hat und seine Worte hört. Heute sind wir es, die Jesus seine Schwestern und Brüder nennt. Heute sagt er uns zu, dass auch wir einen Gott haben. Er liebt uns bedingungslos und nimmt uns an, wie Vater und Mutter. Jesus stellt uns Schwestern und Brüder auf der ganzen Welt zur Seite. Auch wir gehören zu einer weltweiten Familie. All unsere gesellschaftlichen, religiösen und nationalen Grenzen verlieren in dieser Gemeinschaft an Bedeutung.
Freuen wir uns darüber, liebe Gemeinde, von Jesus zu hören: Seht, ihr seid meine Mutter und meine Geschwister! Ihr gehört zu mir – meine Familie!
Amen
Verfasser: Pfarrer Reinhard Mayr, Barbarossastraße 52, 70327 Stuttgart-Untertürkheim
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