Wochenspruch:
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer. (Sach 9,9)
Wochenlied:
EG 4 oder 16
Weitere Liedvorschläge:
EG 16; 19; 416; 629
Liebe Gemeinde!
Unsere Tage werden kürzer. Lang, unendlich lang erleben wir die Nächte. Immer mehr Raum nimmt die Dunkelheit in Besitz. Weit hinter uns liegen Sommerglück und goldene Herbsttage. Jetzt gehen wir dem Winter entgegen. In dieser Zeit des Übergangs wird uns die Vergänglichkeit bewußter als sonst. Vergangene Bilder steigen auf. Wir erinnern voller Trauer an die Menschen, die uns der Tod entrissen hat. In Dämmerung und Dunkelheit spüren wir, was uns wirklich wichtig ist, was uns fehlt. Wie sehr sehnen wir uns nach Licht und Wärme. Heute werden wir die erste Kerze anzünden. Welche Gedanken und Gefühle werden uns dabei begleiten? Advent - Zeit der Erwartung. Zeit, in der wir uns weit öffnen vor Gottes Angesicht.
Der Predigttext des heutigen Sonntags erinnert eindrucksvoll an die Grundbedürfnisse unseres Daseins. Ich freue mich darauf, mit Ihnen gemeinsam Altvertrautes und Neues an diesem Abschnitt des paulinischen Römerbriefes zu entdecken:
8 Seid niemandem etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.
Was ist uns wirklich wichtig? Und wie erreiche ich Glück, inneren Frieden und Erlösung? Diese zwei Fragen treiben uns Menschen seit unendlichen Zeiten um.
In einer Welt immerwährender Bedrohung sehnten sich Menschen nach ordnender Sicherheit. So entwarfen sie Gesetze, entdeckten naturwissenschaftliche Regeln, erahnten himmlische Weisungen. Gebote schufen soziale Spielregeln, Ordnungen formten Traditionen und Riten. Und alle diese Strukturen dienten der gemeinsamen Aufgabe: Übersichtlichkeit und Orientierung, Frieden und Gerechtigkeit zu vermehren.
Es ist wichtig, daß Gesetze und Ordnungen korrekt verwirklicht und angewandt werden. Doch aus Korrektheit entwickelt sich allzu leicht Starrheit, und daraus Lebensfremdheit, Lebensfeindlichkeit. So gerät die Enge der Gesetzesordnung in Konflikt mit der Ordnung unserer Seele. Dann fragen wir: Woran sollte sich denn ein gutes, lebendiges Gesetz orientieren? Wie sieht ein Gesetz aus, das ich mit Freude erfüllen kann?
„Wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt“ - so antwortet Paulus. Wir hören einen vergessenen, ungewöhnlichen Gedanken. Er ist revolutionär für herkömmliches Gesetzesverständnis - damals wie heute. Liebe wird zum Regulativ des Gesetzes. Wäre das Gesetz uns bisher streng erschienen, erhält es spätestens jetzt eine mütterliche Dimension. Die Liebe erscheint im Bild eines unverlöschlichen Feuers, welches das Gesetz durchstrahlt. Dieses neue, verwandelte Gesetz sucht mehr als Gerechtigkeit. Es fördert tieferes Verstehen für die Schwächen des Menschen, es gewährt Barmherzigkeit und Gnade. So ist denn die Liebe die Erfüllung des Gesetzes. Das bedeutet: als Liebende können wir die Weisungen Gottes voller Freude erfüllen. Aus Liebe werden wir nicht töten, was Gott heilig ist: den Reichtum der Natur, die Würde unseres Nächsten, die Unschuld unserer Seele.
„Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ Für diese Erkenntnis bewundere ich Paulus, denn hier wird der Geist Jesu spürbar. Erinnern wir uns an jene biblische Geschichte? Als eine Frau, die in der Stadt als Sünderin galt, die Füße Jesu mit Tränen benetzte, küßte und salbte, da erhielt Jesus bittere Vorwürfe für seine Toleranz, für seine besondere Art, Menschen zu sehen und anzunehmen. Und Jesus erwiderte: ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
So ist nun die Liebe des Gesetzes Maßstab und zugleich auch dessen Gegengewicht. Denn die Liebe bewirkt jenes unsichtbare Guthaben, mit dem unsere Übertretungen - so Gott will - verrechnet werden ...
Das Gesetz Gottes mit Freude erfüllen - das ist für gläubige Juden eine tägliche unverzichtbare Erfahrung. Die Tora ist Weisung und Lehre, frohe Botschaft und Verheißung, Heilsgeschichte und Ethos. Dies können wir miterleben, wenn wir den Nachfahren jener wenigen begegnen, welche die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben. Doch ich kann es nicht verschweigen: Immer noch sind die Köpfe und Herzen so vieler Menschen voller Vorurteile und Zerrbilder über das Judentum. Das christliche Zerrbild von der starren und rachesüchtigen jüdischen Gesetzesreligion hat unermeßlichen Schaden angerichtet.
Unser Eigenanspruch, die christliche Religion als gelebte Liebe, hat sich angesichts der dunklen Spur unserer Geschichte längst ad absurdum geführt. Erst die Grausamkeit des Holocaust öffnet uns, Jahrzehnte später, nun langsam die Augen für eine aufrichtigere Selbstwahrnehmung. - Vielerorts begegnen sich Christen und Juden, lernen voneinander, schöpfen Vertrauen. Auf diesem Weg erleben sich Christen und Juden hoffnungsvoll als Glaubensgeschwister.
Ein geflügeltes Wort kommt mir in den Sinn: „Liebe! - und du kannst tun, was du willst.“ Ist die Liebe ein so einfaches Rezept? Oder kann es vielmehr sein, daß wir bisweilen über- und unterschätzen, was die Liebe vermag? Können wir Liebe erklären? Was ist ihr möglich? Wo sind ihre Grenzen? Natürlich können wir uns an wirklichen Antworten vorbeischummeln. Aber verstehen wir dann unser Leben noch?
Unvergessen bleibt mir die Tafelanschrift einer Deutschstunde. Da stand: „Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Ich warn’ dich.“ Wenn die Liebe es vermag, sogar Berge zu versetzen, dann kann sie auch durchaus erschrecken in ihrem unbedingten Anspruch, in ihrer brennenden Kraft. Haben deshalb viel zu viele Menschen Angst vor der Liebe?
Haben wir vergessen, daß Liebe die einzige Macht ist, welche sich auf Gott berufen darf? Sie kann leblose Rituale in Frage stellen, darf problematische Konventionen sprengen. Sie ist der einzig gültige Maßstab unserer äußeren und inneren Normen und Gesetze. Ob unsere Ordnungen sinnvoll und gut sind, erkennen wir erst durch den offenbarenden Blick der Liebe. Von ihr berührt, können wir glücklichen Herzens den Ruf Gottes wahrnehmen und erfüllen.
So unterschiedlich wir Menschen sind, so sehr unterscheiden wir uns in der Art, wie wir lieben und Liebe verstehen. Und weitaus schmerzhafter lernen wir mit den Jahren: so wie Freiheit und Gerechtigkeit ist auch Liebe ein häufig verratenes und mißbrauchtes Wort. Manchen dient Liebe allein ihrem Geltungsdrang, ihrer maßlosen Sucht nach Anerkennung. Anderen ist Liebe eine Tarnung für ihren Macht- und Herrschaftsanspruch. Bisweilen erscheint sie Menschen als berauschendes Spiel mit dem Feuer, dem man süchtig verfällt. Wer sagt, daß die Liebe leicht und verständlich, unantastbar und dauerhaft sei?
„Es wird kälter in dieser Welt“, sagen wir bisweilen. Wird der Mangel an Liebe immer größer? Blicken wir uns um, sinnen wir nach. Wie soll ein Egoist, ein Materialist, ein Nihilist lieben können, wenn er allein die Dinge schätzt, die er in der Welt und im eigenen Spiegel erblickt? Wie steht es um unser Liebesvermögen, wenn wir ein gestörtes Verhältnis zu uns selbst haben, an großen Widersprüchen, Komplexen und Schuldgefühlen leiden? Je dunkler und zerrissener unsere Innenwelt, desto größer wird unser Hunger nach Liebe. Der Aufschrei „keiner liebt mich wirklich“ belegt jedoch nicht immer das Fehlen empfangener Liebe. Es ist nicht einfach zu begreifen: es ist existentiell wichtiger, selbst lieben zu können, als Liebe passiv zu empfangen.
Die Lebensbedingungen der Moderne haben gerade die eigene Liebesfähigkeit verkümmern lassen. Daß wir uns selbst erfahren, uns klären in hellen und dunklen Schichten, kann der Weg sein, uns selbst liebevoll anzunehmen. Dann begreifen wir erst die biblische Weisheit: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“ Selbstliebe ist nicht mit Narzißmus, mit Selbstvernarrheit zu verwechseln. Selbstliebe ist die unverzichtbare Voraussetzung, daß ich meine Nächsten überhaupt lieben kann.
In uns wurzelt eine Liebeskraft, die stärker und mächtiger sein kann als alles, was wir kennen. Wenn wir uns dessen wirklich bewußt werden, werden wir alles mit neuen Augen sehen. Wir staunen über Gottes Schöpfung wie in Kindertagen. In Licht und Dunkelheit erkennen wir Gottes Spur. Unsere guten Fähigkeiten werden sichtbar. In Liebe und Dankbarkeit nehmen wir uns an. Die kostbare Blüte dieses Glückes ist die Nächstenliebe. Wurzel und Blüte führen zur Frucht: zur innigen Verehrung Gottes. Erst in Gott erfahren wir die letzte Vollendung aller Liebessehnsucht. Hier schließt sich ein Kreis und erinnert an den Anfang. Wo und wann immer wir den Ruf Gottes hören, wird uns die Liebe berühren. Sie ist die kostbarste Gabe des Himmels, für die wir ein Leben lang verantwortlich sind.
Ja, die Liebe ist eine Kunst, die wir ein Leben lang erforschen, erfahren und erlernen. Sie hat viele Gesichter. Sie kann die Welt aus den Angeln heben. Sie ist Dialog und tiefste Zuwendung.
Ein Gedicht von Christa Peikert-Flaspöhler erzählt von dieser Kunst des Liebens:
ich will nicht über dir sein
wie ein mächtiger Fels,
wie ein fallender Stein,
wie ein Kenner,
der seinen Schatz bewacht,
wie ein Reicher,
der sein Gut überdacht,
ich will nicht über dir sein -
ich will für dich sein
wie Atemluft
wie Wolke und Duft
wie Sonne und Erde
wie Brot und Wein
ich will für dich sein.
Die Flamme des Advent will in uns brennen. Und siehe:
unseres Lebens Erfüllung ist die Liebe.
Johannes Proescholdt, Lausitzer Str. 6, 63032 Offenbach
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