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Jesu Kreuzigung

von Andrea Thiemann (64404 Bickenbach)

Predigtdatum : 15.04.2022
Lesereihe : IV
Predigttag im Kirchenjahr : Karfreitag
Textstelle : Lukas 23,32-49
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Wochenspruch: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Johannes 3,16)

Psalm: 22,2-9.12.16.19–20 (EG.E Nr. 38)

Lesungen

Reihe I: Johannes 19,16-30
Reihe II: 2. Korinther 5,(14b-18)19-21
Reihe III: Jesaja 52,13-15;53,1–12
Reihe IV: Lukas 23,32-49
Reihe V: Kolosser 1,13-20
Reihe VI: Matthäus 27,33-54

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 81,1-4.6-8 Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen
Wochenlied: EG+ 10 In einer fernen Zeit
Predigtlied: EG 85,1.2.4.5 O Haupt voll Blut und Wunden (spätere Melodie)
Schlusslied: EG 97,1-6 Holz auf Jesu Schulter

Predigttext: Lukasevangelium 23,32-49 BigS

32 Es wurden aber zwei weitere als Übeltäter abgeführt, um mit ihm hingerichtet zu werden.
33 Sie kamen zu dem Ort, der Schädel heißt, und dort kreuzigten sie ihn und die beiden Übeltäter, einen zur Rechten und einen zur Linken.
34 Jesus aber rief: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Darauf warfen sie das Los, um seine Kleider unter sich zu verteilen.
35 Das Volk stand dabei und sah es. Die Oberen aber spotteten und sagten: »Andere hat er gerettet. Er rette sich selbst, wenn er der Gesalbte Gottes, der Auserwählte ist!«
36 Aber auch die Soldaten verspotteten ihn, wenn sie zu ihm hintraten, um ihm Essig zu bringen,
37 und sagten: »Wenn du der König über das jüdische Volk bist, rette dich selbst!«
38 Über ihm war nämlich eine Schrifttafel angebracht worden mit den Worten: »Dieser ist der König des jüdischen Volkes«.

39 Einer der Übeltäter, als sie am Kreuz hingen, verhöhnte ihn mit den Worten: »Bist du nicht der Christus? Rette dich und uns!«
40 Der andere aber entgegnete ihm ärgerlich: »Fürchtest du denn Gott überhaupt nicht? Du bist ja genauso verurteilt.
41 Wir sind gerechterweise verurteilt, denn was wir empfangen, wiegt gleich schwer wie das, was wir getan haben. Aber er hat keinen Verstoß begangen.«

42 Und er sagte: »Jesus, denk an mich, wenn du in dein Königreich kommst!«
43 Er sagte zu ihm: »Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.«
44 Es war um die sechste Stunde, da kam Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
45 Das Sonnenlicht verlosch, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.
46 Und Jesus schrie auf: »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« Mit diesen Worten hörte er auf zu atmen.
47 Als der Hauptmann das sah, lobte er Gott und sprach: »Dieser Mann war wirklich ein Gerechter.«
48 Und alle die vielen Menschen, die bei diesem öffentlichen Spektakel dabei gewesen waren, sahen, was sich da ereignete, schlugen sich an die Brust und kehrten um.
49 Alle, die mit ihm befreundet waren, standen in der Ferne, auch die Frauen, die ihn von Galiläa her begleitet hatten, und sahen dies.

Predigt

Liebe Gemeinde!

Ein Text voller Miniaturen, gefüllt mit einzelnen kleinen Geschichten, die die Welt bedeuten. Eine Art „Wimmelbild“ entsteht vor dem inneren Auge - ähnlich eines Gemäldes von der Kreuzigung. In der klassischen Malerei der Frühen Neuzeit gibt es sie zahllos zu entdecken: Viele verschiedene kleine Szenen werden in einem Bild entfaltet. Sie spielen sich gleichzeitig, aber auch hintereinander ab. Im Dunkeln jedoch bleibt, wie es weitergeht. Noch ist kein Licht am Horizont zu sehen.

Wird die ganze Welt am Ende in Finsternis versinken?

In den Text hinein sind kunstvoll, wie ein goldener Faden, Motive aus den Psalmen gewebt. Auch hier scheint sie wieder auf, die enge Verbindung von Altem und Neuem Testament. Sie liest sich wie ein Schlüssel zum Verstehen unserer christlichen Glaubensgeschichte im Angesicht der viel älteren, engen Bindung Gottes an das Volk Israel, von der die Psalmen so eindrücklich zeugen.

Im Gegensatz zu Matthäus und Markus zitiert Jesus bei Lukas die Psalmworte meistens nicht wörtlich. Aus Psalm 22, den wir in Teilen gemeinsam gebetet haben, findet sich in den Versen 8, 9 und 22 die Verspottung Jesu wieder und die Aufforderung, sich selbst zu helfen. Dort heißt es:

8 »Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.»
(und sie sagen):

9 »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«
22 »Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst. »

Und in Vers 19: »Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. »

In der alten Versauswahl des Evangelischen Gesangbuchs wurden diese Verse einfach weggelassen. Warum?

Warum sollte die enge Verbindung der Kreuzigung Jesu mit Texten des Alten Testaments nicht sichtbar werden?

Jesu Todesgebet, erweitert um die intime Anrede: „Vater“, folgt wörtlich Psalm 31, Vers 6a.

»In deine Hände befehle ich meinen Geist; »

Die fernstehenden Freunde und Frauen finden ihren Anklang in Psalm 88, Vers 19:

»Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis. »

Auch wir stehen in der Ferne und sehen nur von außen zu, was dort geschieht.
Wir befinden uns im Dunkeln, außerhalb des Bildes.
Noch sind wir nicht Teil des Geschehens!
Das Wort vom Kreuz ist uns fremd.

Der Theologe Friedrich Wilhelm Marquardt hat einmal geschrieben:

„Das Wort vom Kreuz – keine Theorie über Sünde, Tod und Teufel, die wir glauben müssten, kein Katechismus Satz über Opfer, Strafe, Sühne, stellvertretendes Leiden, den wir in unseren Köpfen auswendig lernen und theoretisch begreifen müssten. Das Wort vom Kreuz ist eine Geschichte, und Geschichten sind da zum Erzählen, und Erzählungen sind da zum Zuhören – Geschichten zuhören, wozu? Vielleicht finden wir in einer Geschichte unseren Platz: Ach ja, das kommt mir doch bekannt vor; da erkenne ich doch dich wieder – und vielleicht auch mich; ach und weh: wie sonderbar dies, wie merkwürdig das, wie abstoßend jenes! Und noch einmal: Ach ja, ein wie bedrückender, aber vielleicht doch auch aufrüttelnder Sinn in dieser Geschichte! Da erfährt man doch einmal etwas Tiefes von der Wirklichkeit des Menschen, vom Gang der Welt, von der Unbegreiflichkeit Gottes. Und Dinge, die uns tief berühren, können uns auch weiterhelfen in unserem Alltag.“ Ende Zitat.

Über Geschichten also, die das Leben schreibt, können wir uns „dem Wort vom Kreuz“ nähern.
Der Weg ist beschwerlich.
Aber jetzt sind wir zu dem Ort gekommen, der Schädelstätte genannt wird. Wir bringen die kleinen Geschichten aus unserem Alltag mit, Sie und ich, unsere Bilder mit wenigen Strichen dahingeworfen, und tragen sie ein in das große Wimmelbild der Weltbühne.

Beim Wort Schädelstätte bin ich schon gestolpert über die kahl geschorenen Schädel, die in meinem Kopf auftauchen. Ich „sehe“ Bilder von Frauen, Männern und Kindern in den Konzentrationslagern von Ausschwitz, Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen, Treblinka…

Menschlicher Würde entkleidet, verspottet und dahin gemetzelt…
Sie waren keine Verbrecher*innen.
Nur ganz wenige haben überlebt!

„Hass breitet sich aus“, lesen wir auch heute wieder in den Zeitungen. Vor einigen Jahren waren die kahl geschorenen Schädel der Skin-Heads ihre politische Hass-Botschaft.

Heute erschrecken wir, wenn Menschen ihren noch fast kahlen Kopf vorsichtig entblößen und der zarte Flaum von Krebs und Chemotherapie zeugt.
Haben sie die Krankheit überwunden? Wer kann das wissen!
Ihr Leben liegt, ebenso wie unser aller Leben, in Gottes Hand.

Albert Einstein hat einmal an einen Physikerkollegen geschrieben: „Es scheint hart, dem Herrgott in die Karten zu gucken. Aber dass er würfelt (…), kann ich keinen Augenblick glauben.“

Gott würfelt nicht und er wirft nicht das Los über uns!
Und doch kann uns jederzeit schweres Los treffen.
Tödlich getroffen hat der Hass… (bitte aktuelles Beispiel einsetzen).

»Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« - Ist das so?

Mit dieser Frage setzt sich der gleichnamige US-amerikanische Spielfilm aus den 50er Jahren auseinander. Im Drama „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Rebel Without a Cause) spielt James Dean einen jungen Mann, der als Rebell um Liebe und Anerkennung ringt.

Jim Stark, ein Jugendlicher aus der oberen Mittelschicht, ist gerade mit seinen Eltern nach Los Angeles gezogen. Er hatte offenbar auch schon an seinen vorherigen Wohnorten Ärger und landet nun mitten in der Nacht bei der Polizei wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Als Grund dafür gibt er gegenüber einem Polizisten an, dass seine Eltern ständig streiten, er sich unverstanden fühle und keinen Respekt vor seinem Vater haben könne, der unter dem Pantoffel seiner Frau und seiner Schwiegermutter stehe.

An der neuen Schule wird Jim schnell mit einer Bande gleichaltriger, gelangweilter Rowdys konfrontiert, deren Mitglied auch das Mädchen Judy aus Jims Nachbarschaft ist. Der Anführer Buzz versucht, Jim zu provozieren und in einen Kampf zu verwickeln. Als Jim Ruhe bewahrt und sich zu verteidigen weiß, fordert Buzz ihn zu einer Mutprobe heraus.

Am Abend desselben Tages trifft sich Jim an der Küste mit der Bande zur Mutprobe. Buzz und Jim rasen dabei in gestohlenen Autos auf eine Klippe zu.

Wer zuerst aus dem Auto springt, ist der Feigling. Während Jim kurz vor der Klippe herausspringt, bleibt Buzz mit dem Jackenärmel am inneren Türgriff hängen und stürzt mit dem Auto in die Tiefe...

Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Schuldig oder nichtschuldig?

Von einer Sekunde auf die andere ist das Leben nicht mehr dasselbe; die Unschuld, unwiderruflich verloren.

35 Das Volk stand dabei und sah es.

Menschen schauten zu. Sie ließen die Verspottung und die Kreuzigung Jesu geschehen. Sie waschen ihre Hände Unschuld. Wie oft stehen wir dabei, sehen, hören und können doch nichts tun!

Noch eine Geschichte: Die Enkelin, die nach dem Tod ihrer Mutter jeden Halt verloren hat, auf Abwege gerät, plötzlich verschwindet, sich nicht mehr meldet und für niemanden mehr erreichbar ist.

Jedes Wort bleibt mir bei den Schilderungen der Großeltern im Halse stecken. Die Zunge klebt am Gaumen, weil die Wirklichkeit bitter schmeckt, essigsauer unsere Hilflosigkeit!

Vater, vergib uns!

INRI: Der König des jüdischen Volkes ist gestorben, um uns die Last von den Schultern zu nehmen. Er entlastet uns, weil er vor Gott für uns eintritt! Seine Fürbitte bei Gott eröffnet unseren Weg zur Umkehr und zur Vergebung – auch untereinander!

Aber die Zeit läuft uns davon…
Schon jetzt lasten viele Todesfälle auf den Seelen unserer Schwestern und Brüder.
Die sechste Stunde naht…Das öffentliche Spektakel neigt sich dem Ende.
Der Vorhang im Tempel reißt mitten entzwei und Dunkelheit senkt sich auf die Bühne herab.

Es wird finster um uns, in der Loge ebenso wie auf den billigen Plätzen…

Jesus schrie auf:
»Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!«
Mit diesen Worten hörte er auf zu atmen.
Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach:
Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!

Wir haben gehört, was sich an jenem Schauplatz ereignete!
Wir erleben täglich, was in unserem Leben passiert!
Alles ist so nah beieinander.

48 Und all die vielen Menschen, die bei diesem öffentlichen Spektakel dabei gewesen waren, sahen, was sich da ereignete, schlugen sich an die Brust und kehrten um.

Und wir, die wir uns als Freunde und Freundinnen Christi verstehen, sind wir „dem Wort vom Kreuz“ noch immer fern, wenn wir auf unsere eigenen Geschichten schauen?

Das Wort vom Kreuz ist für uns Christ*innen Zeichen der Treue Gottes, wie sie dem Bund Gottes mit dem jüdischen Volk entspricht.

Im 5. Buch Mose 7,9 heißt es:
So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten (…).

Im 1. Brief an die Korinther 1,9 versichert der Apostel Paulus uns dieser Treue Gottes:

Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn.

AMEN.

Verfasserin: Pfarrerin Andrea Thiemann, ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau

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Anmerkungen:
Wichtige Anregungen und z. T. wörtliche Zitate aus: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe III. Hrsg. Studium in Israel e.V., Wernsbach 2010, Karfreitag: Lukas 23,33-49 von Ernst Michael Dörrfuß, S. 170-175.


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