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Kleine Schritte zu Recht und Gerechtigkeit oder: Sei nicht allzu gerecht

von Ulrich Schwemer (64646 Heppenheim)

Predigtdatum : 17.02.2019
Lesereihe : I
Predigttag im Kirchenjahr : Septuagesimae
Textstelle : Prediger 7,15-18
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Wochenspruch: "Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit." (Daniel 9,18)

Psalm: 31,20-25 (EG 716)

Predigtreihen

Reihe I: Prediger 7,15-18
Reihe II: Matthäus 20,1-16
Reihe III: Philipper 2,12-13
Reihe IV: Jeremia 9,22-23
Reihe V: Matthäus 9,9-13
Reihe VI: 1. Korinther 9,19-27

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 644,1–3 Nun ist vorbei die finstre Nacht
Wochenlied: EG 452,1–5 Er weckt mich alle Morgen
Predigtlied: EG 378,1–5 Es mag sein, dass alles fällt
Schlusslied: EG 243,1+2+6 Lob Gott getrost mir Singen

Predigttext Prediger 7, 15 – 17

Von der wahren Weisheit

15 Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.
16 Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

17 Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.
18 Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.

Hinführung

Der Prediger Salomo ist eine Spruchsammlung, die in der Überschrift König Salomo zugeschrieben wird. Sie ist aber in deutlich späterer Zeit entstanden. Die Worte gehören in das 4./3. vorchristliche Jahrhundert und zeugen von einer Krise des Glaubens, die sich in der Weisheitsliteratur ausdrückt. Die Sprüche zeichnen sich durch eine ziemlich kritische Einstellung zur Religion aus, stellen sich gegen eine zu enge Religiosität.

Deshalb aber hatte man auch Anstoß genommen daran, dass diese Texte in den Kanon der Bibel aufgenommen werden sollten.

Vielleicht ist es aber gut so, dass solche Texte, die aufgrund von Lebenserfahrung kritische Fragen an die Religion zulassen, in der Bibel ihren Platz gefunden haben.

Der Verfasser der Sätze des Predigttextes sieht im Alltag Ereignisse, die seinen Glauben in Frage stellen und sucht nach Möglichkeiten, den Glauben in diese Wirklichkeit einzubetten.

Liebe Gemeinde,

vielleicht übertreibt der Verfasser dieser Spruchweisheit, die wir in Prediger 7 finden, ja doch ein klein wenig. Stimmt das wirklich so: Ein Gerechter ist sein Leben lang so gerecht wie es nur irgend geht – und geht doch zugrunde in seiner Gerechtigkeit. Wogegen ein böser Mensch sein ganzes Leben lang nur böse ist – und dem soll es gut gehen bis zum Ende seiner Tage?

Das ist doch nicht gerecht! Denkt sicher der Schreiber dieses Wortes.

Das ist doch nicht gerecht, denke auch ich!

Wozu soll man sich denn da noch die Mühe machen, einigermaßen fromm zu leben. Und dann ist es für nichts gut?

Nun, ich könnte mich ja vielleicht damit beruhigen, dass erst im Jenseits abgerechnet wird, der Böse dann eben sein Fett weg kriegt, seine gerechte Strafe, der Gerechte aber belohnt wird. Schließlich gibt es in der Bibel einige Beispiele dafür.

Denke ich nur an die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Da lebt der Reiche in Saus und Braus, genießt sein Leben, erleidet dann aber in der Hölle ewige Qualen, während der arme Lazarus, der nicht nur arm, sondern auch krank und von Geschwüren entstellt ist, in Abrahams Schoß sitzt (Lk 16, 19 - 31). Könnte das nicht ein bisschen Genugtuung bereiten?

Nur: Der Erzähler gönnt mir diesen Ausweg nicht. Und vielleicht tut er ja auch gut daran. Denn das ist doch ein ziemlich wackeliger Trost. Was nützt mir denn die Hoffnung auf das Jenseits, wenn ich hier in der Welt mit der Ungerechtigkeit nicht klar komme?

Und mir scheint, dem Prediger geht es nicht anders.

Aber kann ich seiner Lösung für diese offenkundige Ungerechtigkeit wirklich folgen? Darf der Prediger wirklich sagen: „Sei nicht allzu gerecht - sei nicht allzu gottlos“? - mit dem Hintergedanken: dann erleidest du nicht das Schicksal eines Gerechten und hast vielleicht sogar etwas mehr vom Leben, wie es scheinbar dem Bösen geschenkt wird. Ist dann aber mein Glaube nicht ziemlich beliebig?

Ich reibe mir die Augen. Kann das wirklich alles so in der Bibel stehen?

Dort gibt es doch ganz andere Forderungen nach Glaubenstreue, nach Leidensbereitschaft bis hin zur Selbstaufopferung für den Glauben:

  • Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll (1 Mose 22,2)
  • Jeremia, der für seinen Glauben in eine Zisterne geworfen wird (Jeremia 38,6)
  • Jesus, der als Opferlamm bis ans Kreuz geht
  • Paulus, der mehr als einmal ins Gefängnis geworfen wird

Sind das nicht die wahren Zeugen des Glaubens? Und muss ich denen nicht viel eher folgen?

Nun steht allerdings in unserem Predigttext nicht einfach, dass da irgendein frommer Mensch am Ende seines Lebens elend stirbt. Die Rede ist von einem Gerechten, von einem, der vor Gott gerecht ist. Auf Hebräisch steht da „Zaddik“. Und als Zaddik werden bis zum heutigen Tage Menschen bezeichnet, die in besonderer Weise ihren Glauben bewähren.

Was uns als eine besondere Ehre erscheint, als ein Ausdruck starker Glaubensfestigkeit und Religiosität, wird nämlich von denen, die zu den Gerechten gezählt werden, überhaupt nicht als eine besondere Ehre oder Geistesbegabung verstanden. Sie schrecken viel mehr davor zurück, wären lieber keine Gerechten. Denn einer der Gerechten zu sein, heißt für seinen Glauben zu leiden, ja zu sterben.

Eine jüdische Legende erzählt, dass es in jeder Generation der Menschheit 36 Gerechte gebe, die dafür einstehen, dass diese Welt nicht untergeht. Ein Gerechter zu sein, heißt dann aber auch, um des Glaubens willens Leid, Verfolgung, Gewalt und Tod auf sich zu nehmen.

Im Lexikon lese ich dazu: „Die Legende von den 36 Gerechten (...) besagt, dass es auf der Welt stets sechsunddreißig Gerechte gibt, um derentwillen Gott die Welt, trotz ihrer Sündhaftigkeit, nicht untergehen lässt. Die Sechsunddreißig sind namenlos, niemand weiß, ob sie arm oder reich, Wasserträger, Hausmeister, Schuhmacher, Soldaten oder Kaufleute sind – aber ohne ihre selbstlosen Werke wäre die Welt längst zerstört. Die Sechsunddreißig treten nur selten in Erscheinung – besonders in Notlagen, wenn Juden in Gefahr sind. Dann soll ein Zaddik Gottes Auftrag erfüllen und die Juden mit einer plötzlichen Wundertat retten – und anschließend gleich wieder verschwinden, denn seine Identität darf nie aufgedeckt werden. Sobald einer der 36 Gerechten stirbt, wird ein weiterer Gerechter geboren.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/36_Gerechte, Download 21.08.2018)

Muss ich aber wirklich die Augen davor verschließen, dass diese uneingeschränkte Glaubenstreue den Gerechten nichts gebracht hat als Leid, ja, sogar Tod. Und vor allem: wäre ich überhaupt fähig, solch einen Leidensweg zu gehen?

Das mag für mich schon gelten. Sollte dann aber nicht wenigstens die Bibel da kompromisslos sein. Dürfen in ihr solche kleinen Fluchten angeboten werden, dass man nicht ganz so gerecht und nicht ganz so böse sein soll? Gehört solch ein Text überhaupt in die Bibel? Wird da nicht der ganze Glaube beliebig?

Diese Frage wurde tatsächlich gestellt. Es wurde angezweifelt, ob der Prediger Salomo würdig sei, in den Kanon der biblischen Schriften aufgenommen zu werden, wo doch die Bibel von großen Glaubenszeugen erzählt, nicht aber von solchen Hintertürchen des Glaubens.

Aber muss oder kann wirklich jede und jeder Gläubige an diesem Maßstab gemessen werden, oder sich selbst daran messen? Die jüdische Tradition tut gut daran, die Zahl der Gerechten auf 36 zu begrenzen. Denn seinen Glauben zu leben, ist eine Sache, ihn in der Verfolgung oder Unterdrückung zu bezeugen, eine andere.

Wie wenige Christen gab es, die in der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich Widerstand geleistet haben. Wie viel Kraft und Mut hat es gebraucht, um sich der Verfolgung durch die Schergen des „3. Reichs“ auszusetzen. Diese Kraft hatten nicht viele. Und keiner von uns heute weiß, ob ich selber, ob wir - hier versammelt - wirklich diese Kraft aufgebracht hätten. Wir sind vielleicht nicht geboren und geprägt, um Leistungen wie z. B. Dietrich Bonhoeffer oder Paul Schneider, die beide in Konzentrationslagern ermordet wurden, zu vollbringen, die ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit dem Leben bezahlten.

Wenn wir aber nicht alle solche Gerechte sein können, nicht alle für Gott ein solches Glaubenszeugnis ablegen können, dann kann dieser Predigttext helfen, die Ansprüche an unseren eigenen Glauben herunter zu schrauben, die eigene Unvollkommenheit anzunehmen und kleinere, bescheidenere Ziele im Glauben anzustreben.

Es geht nicht um eine ideale christliche Lebensform, sondern um das Bewähren in der Welt, trotz aller Unvollkommenheit des Glaubens. Dann messen wir das Verhalten der Menschen an der Liebe zum Nächsten und an der Liebe zu Gott.

Davon erzählt uns das Neue Testament an verschiedenen Stellen:

  • über das unbotmäßige Verhalten Jesu, ob er den Zöllner Matthäus beruft und dann mit ihm isst,
  • über Jesu Verhalten gegenüber dem Zöllner Zachäus, der auf einen Baum steigt, um diesen besonderen Menschen bei seinem Zug durch Jericho überhaupt sehen zu können. Ein Ausgestoßener, ein Sünder, bei dem Jesus sich ausgerechnet zum Essen einlädt.
  • über Paulus, der kein Problem damit hat, Götzenopferfleisch zu essen.

Nach den Regeln der Religion hätte nämlich Jesus nicht mit diesem Sünder essen dürfen, er hätte ihn am Wegesrand unbeachtet lassen müssen und wäre damit bei den Frommen seiner Zeit sicher gut angekommen.

Und Paulus hätte sich Konflikte mit der Urgemeinde erspart, wenn er sich an die Regeln gehalten hätte.

Der Weisheitsspruch aus dem Prediger Salomo legt hier den Finger in die Wunde: Es geht im Leben in dieser Welt nicht um den Trost, wenigstens in der jenseitigen Welt einen Lohn für sein Verhalten auf dieser Welt zu bekommen, sondern es geht darum, dass sich der Glaube an und in der Gegenwart bewähren muss.

Jesus ging zu den Sündern und Ausgestoßenen, die aus der Gesellschaft verbannt waren. Diesem Vorbild sollten wir versuchen zu folgen.

Gerade in einer Zeit, in der es chic zu sein scheint, die Schwächeren aus der Gemeinschaft auszustoßen, Fremde zu ächten, die Grenzen gegen Hilfesuchende zu verschließen, haben wir als Kirche den Auftrag für Gerechtigkeit für alle Menschen einzutreten.

(Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Zeilen schreibe, im Sommer 2018 rufen Menschen auf der Straße „absaufen, absaufen“ im Blick auf die Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken. Wir erleben den Ausdruck tiefster Menschenverachtung, von dem es auch nicht mehr weit ist bis zum Ruf nach Gaskammern und Konzentrationslagern. Hier darf die Kirche nicht schweigen. Und es ist zu befürchten, dass auch im Februar 2019 ähnliche Beispiele aufzuzählen sind.)

Der Prediger Salomo schließt seinen Gedankengang mit der Überzeugung, dass wir das richtige Maß des Glaubens selber in der Hand haben: die Ehrfurcht Gottes. Aus ihr schöpfen wir die Kraft, die unseren Glauben alltagstauglich macht. Ob wir selber ein Gerechter sein können, wissen wir nicht. Die kleinen Schritte zu Recht und Gerechtigkeit können wir aber machen.

Sei nicht allzu gerecht, sei nicht allzu töricht - aber vertraue auf Gott und sein Liebe.

Amen

Verfasser: Pfarrer Dr. Ulrich Schwemer, Kiliansweg 1, 64720 Michelstadt


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