Lohn und Gnade
von Christoph Bergner (64625 Bensheim)
Predigtdatum
:
11.02.2001
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
Septuagesimae
Textstelle
:
Matthäus 9,9-13
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Wochenspruch:
Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. (Daniel 9,18)
Psalm: 31,20-25 (EG 716)
Lesungen
Altes Testament:
Jeremia 9,22-23
Epistel:
1. Korinther 9,24-27
Evangelium:
Matthäus 20,1-16a
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 495
O Gott, du frommer Gott
Wochenlied:
EG 342
oder EG 409
Es ist das Heil uns kommen her
Gott liebt diese Welt
Predigtlied:
EG 392
Gott rufet noch
Schlusslied:
EG 171
Bewahre uns, Gott
9 Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde!
Vor einigen Jahren ereignete sich im Osten Berlins die folgende Geschichte: Es war am Sonntagvormittag. Eine kleine Gemeinde hatte sich zum Gottesdienst versammelt. Plötzlich ging die Tür auf, ein Junge kam herein. Er ging durch den Mittelgang nach vorn und betrachtete die Gottesdienstbesucher. Dann schüttelte er den Kopf, lief den Gang zurück und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Vielleicht hat der Junge zum ersten Mal eine Kirche von innen gesehen? Fremd scheint ihm der Ort gewesen zu sein, fern und unverständlich der Gottesdienst. Uns, die wir mit der Kirche vertraut sind, ist das schwer verständlich. Kennen wir sie vielleicht schon zu gut? Ist uns vieles selbstverständlich geworden, was sich gar nicht von selbst versteht?
Bei aller Vertrautheit wird das Befremden wachsen, wenn man die Kirche verstehen will. Luther hat treffend gesagt: Ein Christ ist ein seltener Vogel. Unser Glaube versteht sich nicht von selbst, unsere Kirche passt nicht einfach in diese Welt.
Wäre der Junge in der Kirche geblieben und hätte den heutigen Predigttext gehört, hätte er wohl einmal mehr den Kopf geschüttelt.
Da sitzt ein Mensch am Zoll. Wir erfahren nicht, wer er ist. Nur sein Name wird uns mitgeteilt: Matthäus heißt er - wie der Evangelist, der diese Geschichte überliefert. Zöllner sind nicht sonderlich beliebt in Israel. Sie gelten als dienstbare Geister der Römer. Sie sorgen dafür, dass den Besatzern das Geld nicht ausgeht, und sie dürfen sich dafür auch selbst an den Zolleinnahmen bereichern. Für einen frommen Juden sind Zöllner unrein. Mit ihnen setzt man sich nicht an einen Tisch.
Jesus geht zu diesem Mann und sagt zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Kein Wort darüber, warum Jesus das tut. Kein Wort, warum Matthäus ihm folgt. Das ist nicht nur für einen Ostberliner Jungen höchst befremdlich! Wer diese beiden Sätzchen aufmerksam hört, muss staunen: „Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.“ Das ist nicht unsere Welt.
Ein zeitgenössisches Gedicht mag den Unterschied verdeutlichen:
Ich lebe in einer Generation
von Neugierigen einer
Horde von Adressen Nummern und Namen
von Haus aus gutwillig
vom Fenster aus offen
mutig am Telefon
im Suff zuverlässig
Hölzchen von Welt
jederzeit entzündbar
Ich würde wenn...
Das Gegenleben ist so bunt
ein Blick ein Nick schon bist
du dabei ein Deut ein Dreh ade
und steigst wieder um und aus
und ab und auf Trittbretter
der Gesellschaft im Sparclub der
Revolution Gedankenblitze ohne
Donner ein Wetter zum Heimleuchten.
Ist es nicht so? Wir sind sehr neugierig und auch gutwillig, leicht entzündbare Hölzchen. Wir sind schnell dabei, wenn es etwas Neues gibt, etwas Verlockendes, etwas, was die anderen auch alle tun. Und wir sind schnell wieder weg davon. Steigen aus und um und ab. Es passt was nicht, schon sind wir verschwunden oder wir begehren auf.
Die Berufung des Matthäus führt uns in eine andere Welt, ein anderes Reich: Das Reich Gottes. Jesu Wort hat göttliche Vollmacht. Deshalb ist es auch müßig darüber nachzudenken, was den Zöllner damals wohl gerade bewegt hat. Das Wort Jesu trifft ihn, nimmt ihn in Dienst, gibt seinem Leben eine ganz neue Wendung. Es gibt andere Berufungsgeschichten in der Bibel, von Mose etwa, Jesaja oder Jeremia. Da hören wir auch von dieser eigentümlichen Kraft des göttlichen Wortes. Aber da gibt es Widerspruch, entschiedenen Widerspruch sogar, der allerdings am Ende nichts bewirkt. Hier nun fehlt jede Einrede. Nicht einmal eine Frage stellt Matthäus. „Er stand auf und folgte ihm.“ Wir tun gut daran, den tiefen Einschnitt wahrzunehmen. In Jesu Wort leuchtet göttliche Autorität auf.
Wer Gottesdienst feiert, stellt sich dieser Autorität. Wer über die Berufung des Matthäus staunt, zu Recht staunt, wird nicht umhin können, nun auch über sich selbst zu staunen. Schließlich gehören wir auch zu den Berufenen, zu denen, die mitten in dieser Welt zu einer anderen gehören, herausgerufen aus dem Alltag, aus dem ständigen Auf- und Umsteigen. Wir stehen unter dem Anspruch Gottes, wir sind als Christen Zeugen seines Reiches.
Uns geht es dabei wie einst dem Matthäus. Wir werden nicht nach unserer Eignung gefragt, unsere Vorkenntnisse spielen keine Rolle. Bei unserer Taufe hat niemand unsere Leistungsfähigkeit geprüft. Auch das ist höchst befremdlich. Wir - jeder Einzelne von uns - dürfen und sollen Zeugen Gottes sein. Nicht nur Fritz Schmid, der Bürger von XY und ein mehr oder weniger guter Mitarbeiter einer Firma, sondern als ein Mensch, den Gott berufen hat, ein Mitarbeiter Gottes, mit göttlichen Aufgaben betraut.
Das hat Folgen. Der Berufung des Matthäus folgt der Bericht von der Tischgemeinschaft. Jesus isst mit Zöllnern und Sündern. Er hält Gemeinschaft mit denen, die sonst außen vor bleiben. Das war damals anstößig und ist es noch heute. Die Kirche ist keine Gemeinschaft von Gleichartigen. Nationalität, Hautfarbe, Alter oder Mitgliedsausweise spielen keine Rolle.
Die Kirche sprengt die Grenzen der Gemeinschaften, die wir sonst kennen. Auch darüber gibt es Grund zum Staunen. Wir erleben immer wieder, wie Menschen sich gegenseitig ausgrenzen. Denken Sie etwa an die großen Umwälzungen, die wir z. Z. erleben. Die Globalisierung fordert einen hohen Preis. In großen Migrationsbewegungen verlassen Menschen ihre Heimat aus Angst um ihr Leben oder auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Viele sind verunsichert, fühlen sich bedroht. Vielen fehlt eine klare Perspektive.
Doch wir brauchen nicht in die weite Welt zu schauen, um die Probleme zu sehen. Viele Jugendliche wissen nicht so recht, was aus ihnen werden soll. Oft finden sie in den neuen Bundesländern keine Lehrstelle. Mancher gewinnt den Eindruck, er werde nicht gebraucht, seine Begabungen seien überflüssig, sein Leben nutzlos. Finden sie eine Gemeinschaft, die ihnen ein Zuhause gewährt?
„Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, sagt Jesus seinen Kritikern. Wer sind die Kranken unserer Gesellschaft? Jeder von uns kann Antwort geben, wer ausgegrenzt wird und wer sich selbst ausgrenzt. Die Liste ist lang. Ob Arbeitslose, Kinder, Behinderte, Ausländer, Andersgläubige, der Junge in der Klasse, der etwas anders ist, als üblich. Jeder von uns hat seine Erfahrungen und könnte die Liste wohl verlängern. Wichtiger dürfte aber dies sein: Jesus begründet eine neue Gemeinschaft, die sich um die Schwachen kümmert. Die Stärke dieser Gemeinschaft ist, dass sie für die Schwachen da ist. Jesus setzt sich mit den Sündern an einen Tisch. Diese Gemeinschaft ist die Urzelle der Kirche. Die Berufung des Matthäus erinnert an die Herkunft der Kirche und an ihre Aufgabe für die Schwachen einzutreten.
Eine starke Gemeinschaft baut man mit Starken auf. Könner und Macher sind gefragt, Menschen, die erfolgreich sind. Hier nun ist es gerade umgekehrt. Gott gründet seine Kirche auf die Schwachen. „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“, sagt Jesus. Wir meinen oft, wir müssten etwas tun, um zu Gott zu kommen. Dann stehen wir im Zentrum, unser Tun, unser Wille.
Viele Kirchenvorsteher, Pfarrer und Kirchenleitungen denken ähnlich. Es liegt an uns, was aus der Kirche wird, wir müssen für alles sorgen, denken sie. Aber das ist ein Irrtum. Diese Geschichte zeigt uns eine andere Dimension. Nicht wir kommen zu Gott, sondern Gott kommt zu uns. Nicht wir begründen diese Gemeinschaft, sondern Gott. Nicht unsere Leistung ist zuerst gefragt, sondern Gott handelt an uns. Darin unterscheidet sich die christliche Gemeinschaft von allen anderen dieser Welt. „Wir sind’s nicht, die da die Kirche erhalten können. Unsere Väter sind’s auch nicht gewesen. Unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern er ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: Ich bin bei euch bis an der Welt Ende“ (Martin Luther).
Wir haben in diesem Gottesdienst gebetet, dass wir an die Gemeinschaft der Heiligen glauben. Das sind wir. Wir sind durch Gottes Gnade geheiligt. Luther hat einmal gesagt: „Wenn es um deinen Glauben geht, sei so stolz, wie du kannst.“ In Glaubensfragen sind wir heute eher kleinlaut. Wir verbinden Glauben mit Demut und Bescheidenheit. Und manchmal meinen wir, es sei unsere besondere Pflicht, unseren eigenen Glauben zu verschweigen, um niemanden zu bedrängen oder gar intolerant zu wirken.
Zum Glauben gehört auch der Stolz und die Freude, Christsein zu dürfen. Eigenlob stinkt, sagt der Volksmund. Und in diesem Falle hat er Recht. Wir loben uns als Christen allerdings nicht um unserer selbst willen, sondern um Gottes willen. Nicht unsere Leistung zählt in Sachen Glaube und Kirche, sondern Gottes Gnade. Matthäus wird nicht berufen, weil er ein besonders tüchtiger und heiliger Mensch ist. Er ist ein heiliger Mensch, weil er von Gott berufen wird.
Wenn wir hier zusammen Gottesdienst feiern, feiern wir genau diese Umkehrung unserer Lebensverhältnisse. In dieser Umkehr lernen wir uns selbst und Gott neu zu verstehen. Es ist nicht nur für uns, sondern auch schon für die Zeitgenossen Jesu, schwer nachvollziehbar, dass nicht wir über unseren Glauben befinden und unser Verhältnis zu Gott bestimmen, sondern dass Gott selbst das tut.
Eine kleine Begebenheit mag das verdeutlichen. Eine alte Frau kommt vom Gottesdienst. Ihr Enkel fragt: „Wie war’s, was hat der Pfarrer gepredigt.“ Die Frau antwortet: „Es war gut. Aber ich weiß nicht mehr so genau, was der Pfarrer gesagt hat.“ Da sagt der Enkel:“ Warum gehst du dann in die Kirche?“ „Weißt du, das ist wie bei einem Korb. Wenn man Wasser hineinschüttet, läuft’s durch, aber der Korb wird sauber.“
Die Frau hat vielleicht nicht die Predigt verstanden, aber die Sache, um die es geht, hat sie besser erklärt, als es viele Predigten können. In der Kirche dürfen wir Gott für uns da sein lassen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass er für uns da ist, wie Vater und Mutter für uns da sind. Zuletzt und zuerst zählt nicht unsere Leistung, sondern Gottes Barmherzigkeit. Wir sind eben eher ein löchriger Korb, der immer wieder ausgeputzt werden muss.
Wenn wir uns nüchtern in unserer Welt umschauen, dann ist die Botschaft dieses Sonntages höchst befremdlich. Sie erzählt von einer ganz und gar ungewöhnlichen Berufung und einer ebenso ungewöhnlichen Gemeinschaft. Wir können uns abwenden und nach Hause gehen, wie jener Berliner Junge. Wir können uns aber auch auf diese Geschichte einlassen, so einlassen, dass sie unsere Geschichte wird. Dann geht es um unsere Berufung und um die Gemeinschaft am Tisch, den Gott für uns und viele andere gedeckt hat.
Matthäus jedenfalls wirbt mit dieser Geschichte auch um uns. Er möchte uns für diese Geschichte gewinnen. Denn diese Geschichte hat Geschichte gemacht. Und sie hat Zukunft. Es ist Gott selbst, der in dieser Geschichte auf uns zukommt.
Dietrich Bonhoeffer berichtet einmal von einem Gespräch mit einem jungen französischen katholischen Pfarrer, in dem beide sich die Frage stellen, was sie in ihrem Leben eigentlich wollen. Der junge Priester beantwortet diese Frage mit dem Satz: „Ich möchte ein Heiliger werden.“ Bonhoeffer war von dieser Antwort sehr beeindruckt, widersprach aber und antwortete: „Ich möchte glauben lernen.“ Der tiefe Unterschied beider Antworten sei ihm erst viel später bewusst geworden, bemerkt Bonhoeffer. „Glauben lernen“, so sagt er , „bedeutet völlig darauf zu verzichten, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“
Für den Zöllner Matthäus muss es ähnlich gewesen sein. Er stand auf und folgte Jesus. Er verließ alles, um sich auf Gott zu verlassen. Wir sind eingeladen in die Schule des Glaubens zu gehen, den Glauben zu lernen. Wer sich ganz in die Arme Gottes wirft, der wird dabei gute Erfahrungen machen. Er wird die wunderbare Gemeinschaft mit Gott erfahren, die jedem angeboten ist. Und er wird die Aufgaben finden, für die ihn Gott braucht. Wer will solch ein Angebot ausschlagen? Amen.
Verfasser: Pfr. Dr. Christoph Bergner, Darmstädter Str.11, 64625 Bensheim
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Pfarrer Thomas Borchers
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