Wochenspruch: Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,14b)
Psalm: 71,1–3b.5.9.20a.21.23 (EG 732)
Reihe I: Matthäus 2,13-18(19-23)
Reihe II: Hiob 42,1-6
Reihe III: Lukas 2,(22-24)25-38(39-40)
Reihe IV: 1. Johannes 1,1-4
Reihe V: Jesaja 49,13-16
Reihe VI: Johannes 12,44-50
Eingangslied: EG 54,1-4 Herbei, o ihr Gläub’gen
Wochenlied: EG 34,1-4 Freuet euch ihr Christen alle
Predigtlied: EG 13,1-3 Tochter Zion
Schlusslied: EG 51,1-5 Also liebt Gott die arge Welt
1 Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens –
2 und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,
3 was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.
4 Und dies schreiben wir, auf dass unsere Freude vollkommen sei.
Wie sind Sie durch diese Weihnachtstage gekommen? Hatten Sie eine fröhliche, entspannte Zeit oder sind Sie eher gestresst, vielleicht entnervt von endlosen Corona-Diskussionen oder müde vom Schichtdienst? Ist Ihr Gottvertrauen gestärkt worden oder überwiegt immer noch die Sorge? Konnten Sie das Miteinander in der Familie genießen oder haben Sie sich einsamer gefühlt als im Alltag? Vielleicht war es auch eine Mischung aus alledem.
Das Schöne an den Weihnachtsgeschichten der Bibel ist – unter anderem –, dass unsere ganzen Befindlichkeiten darin Platz haben. Die Freude über ein neugeborenes Kind vermischt sich mit der Angst in einer brisanten politischen Lage, Reiserouten und Nachtdienste geraten durcheinander, junge Leute brauchen ein Dach über dem Kopf und fühlen sich nirgendwo willkommen – das ist alles sehr lebensnah, das kennen wir, da können wir andocken. Aber der Bibeltext, um den es heute geht, ist völlig anders. Kein Baby, keine Schafe, keine Hirten, kein König Herodes, kein einziger Engel weit und breit. Wo ist Weihnachten geblieben?
Johannes stellt das alles zurück, denn sein Thema sind die ganz großen Linien der Heilsgeschichte. Er erzählt nicht von Weihnachten, er steigt völlig anders ein. Sein Ziel ist, so steht es im Text, „dass ihr zusammen mit uns erlebt, was es heißt, mit dem Vater und mit seinem Sohn, Jesus Christus, verbunden zu sein.“ Und weiter: „damit wir alle, ihr und wir, die Freude, die Gott schenkt, in ihrer ganzen Fülle erleben.“ Da geht es nicht um ein bisschen festliche Stimmung, um so ein wohliges Gefühl. Stattdessen: erleben, was es heißt, mit Gott verbunden zu sein. Die Freude, die Gott schenkt, in ihrer ganzen Fülle erleben. Mein lieber Mann! Da nimmt jemand den Mund ziemlich voll. Aber Johannes kann das, weil es ihm um die ganz große Perspektive geht.
Es ist im Grunde so ähnlich wie in den Bergen. Ich persönlich bin überhaupt kein Bergmensch, schon gar nicht um diese Jahreszeit. Aber mein Bruder wohnt südlich von München und der schleppt mich manchmal mit in die Alpen. Wenn wir dann bei trübem Winterwetter in engen, dunklen Tälern unterwegs sind, dann fällt es mir ziemlich schwer, einem solchen Ausflug etwas abzugewinnen. Und auch, wenn es in Serpentinen durch den düsteren Wald nach oben geht, weiß ich immer noch nicht so recht, was ich hier eigentlich soll. Aber dann öffnet sich plötzlich die Landschaft und Dutzende von schneebedeckten Berggipfeln glänzen in der Sonne und die Weite ist grenzenlos. Und alles, was vorher da unten war an Alltagsgrau und Enge, das wird plötzlich klein und irgendwie unbedeutend. Es ist nicht verschwunden, ich kann die Täler und die Wälder ja sogar sehen, aber ich habe eine andere Perspektive darauf, nämlich den Blick von ganz oben. Und wenn ich mich da oben sattgesehen habe, dann kehre ich auch anders nach unten zurück.
Johannes geht es um diese ganz große Perspektive. Wenn er von Jesus Christus redet, dann erzählt er deshalb nicht von Bethlehem. Dass dort in einer fremden, überfüllten Stadt ein sehr junges Mädchen ohne ihre Mutter in den Wehen liegt und ihr erstes Kind gebiert, dass dieses Kind in einem Futtertrog schläft, dass der Vater von Anfang an um das Überleben seiner kleinen Familie kämpfen muss, darüber schweigt Johannes. Das sind die engen, dunklen Täler der Heilsgeschichte. Johannes will uns aber mitnehmen auf den Gipfel. Wir sollen sozusagen den Panoramablick auf das Heil Gottes bekommen.
Wir stehen also heute Morgen auf dem Berggipfel und ich möchte mit Ihnen in drei Himmelsrichtungen gucken und Ihnen etwas von dem zeigen, was es da zu entdecken gibt. Jetzt also bitte alle Augen direkt nach Osten, denn es geht um die Morgenröte, um den Anfang. Ich lese nochmal einen Ausschnitt aus dem Bibeltext: „Von allem Anfang an war es da, das Wort des Lebens. Ja, das Leben ist erschienen; das können wir bezeugen. Wir haben es gesehen, und wir verkünden es euch – das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist.“
Das Wort des Lebens, das Leben, das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist. Das sind die Begriffe, mit denen Johannes Jesus Christus beschreibt. Und er sagt: Dieses Wort des Lebens war von allem Anfang an da. Hier ist nicht die Rede von einem Baby, das unter schwierigen Umständen im besetzten Palästina geboren wird. Hier geht es um den Schöpfer der Welt, um das Wort, durch das alles Leben entstand, um Christus als den Ursprung des Universums. Er war von allem Anfang an da. Im Johannesevangelium heißt es: Ohne dieses Wort ist nichts entstanden, was entstanden ist. Christus ist sozusagen der personifizierte Impuls des Urknalls, der Inbegriff der Schöpferkraft Gottes, DAS Leben überhaupt.
Aber Christus ist eben nicht irgendeine abstrakte Energie, irgendein physikalisches Prinzip, sondern Christus ist das Wort des Lebens. Worte ergeben nur Sinn, wenn es eine Beziehung gibt, wenn irgendjemand hören und antworten kann. Wenn Christus das Wort ist, dann ist die ganze Schöpfung von Anfang an auf Beziehung angelegt. Gott ruft die Welt ins Leben und wünscht sich Antwort, sehnt sich nach Beziehung, will in Ewigkeit nicht alleine bleiben. Und nichts und niemand im Universum ist von dieser Sehnsucht ausgenommen. Jedes Geschöpf, jeder Mensch existiert, weil Gott nicht aufhört zu sprechen und auf Antwort zu warten.
Und jetzt schauen wir von unserem Berggipfel gemeinsam nach Südosten übers Mittelmeer und bis nach Israel. Im Evangelium heißt es: „Er, der das Wort ist, wurde ein Mensch von Fleisch und Blut und lebte unter uns.“ Johannes legt größten Wert darauf, dass Gott nicht nur zum Schein Mensch wurde, nicht nur als optische Täuschung sozusagen, sondern wirklich ganz und gar, mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Blut und Knochen. Unser Gott ist nicht zeitlos, er schwebt nicht über allem, er ist keine allgemeine geistige Existenz, keine universelle Kraft, die irgendwie in uns allen vorhanden ist und zu der wir einen inneren Zugang suchen sollen. Unser Gott ist nämlich eine ganz bestimmte historische Person mit einer individuellen Lebensgeschichte und einem sozialpolitischen Hintergrund. Unser Gott hat ein Geburtsdatum und eine Mama. Unser Gott hat ein Heimatdorf und eine Fluchtgeschichte. Unser Gott hat einen Berufsalltag. Unser Gott hat treue Freunde und erbitterte Feinde. Unser Gott hat einen Sterbeort und einen Grabstein.
Johannes schreibt: „Wir haben es gehört und mit eigenen Augen gesehen, wir haben es angeschaut und mit unseren Händen berührt – das Wort des Lebens.“ Gott wird hörbar, sichtbar, fassbar in Jesus von Nazareth. Der Theologe Klaus Berger hat es so formuliert: „Jesus ist das einzige Foto, das wir von Gott haben.“[1] Wir kommen Gottes Wesen nirgends näher, wir können ihn an keiner Stelle klarer erkennen, deutlicher hören als in Jesus.
Und dann steht im Text: „Wir haben ihn mit unseren Händen berührt.“ Dieses Verb „berühren“ kommt in den Jesusgeschichten nur an einer einzigen Stelle vor, nämlich am Ende des Lukasevangeliums, als die Jünger den Auferstandenen sehen und ihn glatt für einen Geist halten. Da fordert Jesus sie ausdrücklich auf, ihn doch jetzt bitte anzufassen. Sie sollen sich davon überzeugen, dass er wirklich leiblich und nicht nur geistig auferstanden ist. Auch die Narben an seinen Händen und Füßen sind noch da; das Leid ist nicht weggezaubert. Sogar nach seiner Auferstehung entzieht sich Christus nicht dieser Welt. Die Menschwerdung ist keine kurze Episode, nach der er wieder in den Himmel entschwindet. Dass unser Gott Mensch wird, ist und bleibt sein Markenzeichen.
Und jetzt werfen wir noch einen Blick Richtung Westen . Let’s go west – da geht es um das große Ziel. Johannes schreibt: „Wir möchten, dass ihr zusammen mit uns erlebt, was es heißt, mit dem Vater und mit seinem Sohn, Jesus Christus, verbunden zu sein.” Warum wird hier überhaupt unterschieden zwischen Vater und Sohn, warum steht hier nicht einfach: „Ihr sollt erleben, was es heißt, mit Gott verbunden zu sein”? Hier müssen wir überlegen, was „Sohn Gottes” überhaupt bedeutet. Es geht ja gerade nicht darum, dass dieses Kind irgendwie biologisch mit Gott als Vater verwandt wäre, das wäre ein schlimmes Missverständnis.
Wenn wir von Jesus als dem Sohn Gottes sprechen, dann hat das immer zwei Dimensionen. Einerseits geht es um die Vollmacht. Ein erwachsener Sohn kann seinen Vater vielleicht geschäftlich vertreten, in seinem Auftrag einen Vertrag unterzeichnen und so weiter. Der Sohn hat die Vollmacht und handelt stellvertretend für den Vater. Jesus aber vertritt nicht nur den abwesen-den Gott, er verkörpert den anwesenden Gott; auch als Mensch ist er mit Gott identisch. Wenn Jesus handelt, handelt Gott selbst. Wenn Jesus redet, redet Gott selbst. Wenn Jesus stirbt, stirbt Gott selbst. Wenn Jesus den Tod besiegt, besiegt Gott den Tod. Das ist die eine Bedeutung, wenn wir vom Sohn Gottes sprechen.
Die andere Dimension ist die der Beziehung. Jesus als Sohn Gottes lebt uns vor, wie unsere Beziehung zu Gott werden könnte, wie eng und wie unbekümmert. Dass Gott uns liebt und für uns sorgt, das ist das Fundament seines Lebens. Er spricht noch als erwachsener Mann von seinem himmlischen Vater wie ein stolzer, kleiner Junge. Er wird richtig, richtig wütend, wenn Gott als kleinlich und hartherzig dargestellt wird. Und er lässt sich nicht abbringen von seinem Weg, sogar als es ihn das Leben kostet. Sein Vertrauen in Gottes Güte ist grenzenlos. Das ist die andere Bedeutung, wenn wir vom Sohn Gottes sprechen.
In diesem doppelten Sinne sollen wir erleben, was es heißt, mit Gott verbunden zu sein. Gott selbst begegnet uns in Jesus Christus und Jesus Christus zeigt uns, wie unsere Beziehung zu Gott werden kann und werden soll.
Johannes ist mit uns auf den Gipfel gestiegen und wir haben drei Perspektiven in den Blick genommen. Wir haben nach Osten geschaut, auf den Anfang. Christus ist das Wort Gottes. Er hat die Schöpfung ins Leben gerufen und sehnt sich nach unserer Antwort. Wir haben nach Südosten geschaut, auf ein kleines Land am Mittelmeer. Gott wird sichtbar, hörbar, fassbar in dem Mann aus Nazareth und auch als Auferstandener bleibt er in unserer Welt. Und wir haben nach Westen geschaut, auf das Ziel. Jesus als Sohn Gottes zeigt uns, wie wir als Kinder Gottes leben dürfen, gelassen und fröhlich und getrost. Mit diesem Panoramablick auf das Heil Gottes lassen Sie uns ins neue Jahr gehen.
Verfasserin: Anne Schumann, Mainz
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Anmerkung:
[1] Klaus Berger, Jesus. München: Pattloch, 2004.