Pharisäer und Zöllner
von Hermann Birschel (Stockstadt/Rhein)
Predigtdatum
:
19.08.2007
Lesereihe
:
ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr
:
10. Sonntag nach Trinitatis - Israelsonntag: Kirche und Israel
Textstelle
:
Lukas 7,36-50
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Wochenspruch:
Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. (1. Petrus 5,5b)
Psalm: 113,1-8 (EG 745)
Lesungen
Altes Testament:
2. Samuel 12,1-10.13-15a
Epistel:
Epheser 2,4-10
Evangelium:
Lukas 18,9-14
Liedvorschläge
Eingangslied:
EG 440
All Morgen ist ganz frisch und neu
Wochenlied:
EG 299
Aus tiefer Not schrei ich zu dir
Predigtlied:
EG 410
Christus, das Licht der Welt
Schlusslied:
EG 395
Vertraut den neuen Wegen
Hinführung:
1. Die Predigt beginnt bewusst nicht mit der Verlesung des Textes – er ist zu bekannt, und schnell verstellen Vor-Urteile den Blick.
2. Genau solche Vor-Urteile werden im zweiten Teil bewusst angesprochen und aus dem Weg geräumt.
3. Die Predigt möchte einladen, über Jesus Verhalten zu staunen – und sich selbst von Jesus anrühren zu lassen.
Liebe Gemeinde!
Jesus erzählte einmal ein kleines, wenig bekanntes Gleichnis: „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?“
Die Antwort, die er bekommt, überrascht nicht: „Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat!“ – und Jesus pflichtet ihr auch bei. Natürlich freue ich mich, wenn ich jemand 50 € schulde, und er erlässt sie mir. Aber wenn meine Bank darauf verzichtet, dass ich ihr den Kredit zur Finanzierung meines neuen Autos zurückzahle, dann freue ich mich noch mehr!
So weit, so gut. Aber wie ist das, wenn mir eine kleine Summe erlassen wird und jemand anders eine große? Kann ich mich dann noch mitfreuen oder finde ich meine Bank schlicht unfair? Und wie ist das erst, wenn ich diese Gedanken in den Bereich der Moral oder der Religion übertrage? Denken wir nur an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn – so schön der überschwängliche Empfang durch den Vater für ihn sein mag, für seinen Bruder ist es der absolute Hammer! Kann man sich denn mehr Liebe und Zuneigung verdienen, indem man vorher mehr anstellt, indem man also kräftig schuldig wird, um aus Gott mehr Barmherzigkeit herauszukitzeln?
Nein, liebe Schwestern und Brüder, wenn wir uns das konkret vorstellen, dann macht uns das ärgerlich. Gnädig und barmherzig möge Gott doch bitte gern sein, aber nicht ungerecht. Wo kämen wir denn hin, wenn es nicht nur in der Welt ungerecht zuginge, sondern auch noch bei Gott oder gar in der Kirche…?
Genau solche Gedanken sieht Jesus bei dem Mann, dem er dieses kleine Gleichnis erzählt hat. Der ärgert sich nämlich darüber, dass Jesus sich von einer Frau mit zweifelhaftem Ruf anfassen lässt. Das will ein Mann Gottes sein? Hat der denn kein Gespür für das, was da vorgeht? Merkt er denn nicht, was das für eine Frau ist? Das ist doch geschmacklos!
Da erzählt ihm Jesus die Geschichte von den beiden Schuldnern, und er bekommt von ihm die erwartete Antwort. Mit solchen kleinen Beispielgeschichten haben damals schriftgelehrte, bibelkundige Menschen gern miteinander diskutiert, anhand von Geschichten, die aus dem Leben gegriffen waren. Und das Schöne: Jesus und sein Gegenüber sind sich einig! Jesus bekommt die gewünschte Antwort, und er ist zufrieden: „Du hast recht geurteilt“, sagt er.
Wiederum: So weit, so gut. Zwei schriftgelehrte, fromme Männer scheinen einig – sind es aber leider nur in der Theorie. Denn plötzlich zeigt sich, dass Jesus nicht nur über Gottes Barmherzigkeit diskutieren will, sondern dass das Gespräch konkret gemeint war – und das macht sein Gegenüber sprachlos.
Hören wir nun die ganze Geschichte!
36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. 39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. 40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? 50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
In der Lutherbibel ist diese Geschichte überschrieben: „Jesu Salbung durch die Sünderin“. Auf den ersten Blick stehen also diese zwei Personen in ihrem Mittelpunkt – Jesus und die Frau. Und es will scheinen, dass diese Frau sprachlos ist, sie kommt nur vor, sie tut etwas, aber sie sagt nichts, und niemand spricht sie an, auch Jesus erst viel später.
Man kann fragen, ob sie nicht wie ein Objekt behandelt wird, weil nur über sie, aber nicht mit ihr gesprochen wird. Es ist schon auffällig, dass es heißt: „Jesus wandte sich zu der Frau und sprach (nicht etwa zu ihr!, sondern:) zu Simon: Siehst du diese Frau?“
Aber so werden wir dieser Geschichte nicht gerecht. Denn der, der scheinbar nur eine Randfigur ist, Simon, der in ihrer Überschrift gar nicht vorkommt, er wird an dieser Stelle von Jesus in die Mitte gezogen: „Simon, siehst du diese Frau?“
Natürlich hat er sie gesehen, und natürlich hat Jesus gesehen, dass und wie er sie gesehen hat. Darum hat Simon ja innerlich oder äußerlich den Kopf geschüttelt und an Jesus gezweifelt. Aber Jesus öffnet ihm die Augen. Er möchte, dass er diese Frau anders sieht als bisher. Er stellt sie ihm neu vor, ja, er macht sie zum Vorbild:
„Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.“
Diese Frau ist für Jesus ein Vorbild für Gastfreundschaft! Und wir wissen, wie wichtig Gastfreundschaft, gemeinsames Essen und Trinken für Jesus war. Darin zeigte sich für ihn echte Gemeinschaft, und darin zeigte sich für ihn die Gegenwart Gottes.
Zweifellos ist das nicht ganz normal, was diese Frau macht. Sie geht in ein fremdes Haus, sie überschüttet Jesus mit einer kostbaren Salbe, sie bricht unvermittelt in Tränen aus, und in ihrer ganzen Unsicherheit benutzt sie ihre eigenen Haare als Handtuch.
Wer unter uns hätte sich nicht pikiert oder verlegen abgewandt, wer hätte nicht darauf gewartet, dass der Gastgeber etwas unternimmt, dass irgendjemand die Initiative ergreift? Und wer von uns hätte sich gewundert, wenn die Geschichte ganz anders weiterginge, wenn Jesus diese Frau für besessen erklärt und ihr einen Dämon ausgetrieben hätte…?
Jesus aber akzeptiert, was da geschieht! Und er tut alles, um den guten Sinn darin zu finden. Erst erzählt er die Geschichte von den beiden Schuldnern – und stellt damit zunächst die Gedanken nicht in Frage, die er in Simon ablaufen sieht. Ja, diese Frau ist wohl eine Prostituierte, übrigens vielleicht für sie als allein stehende Frau damals die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber warum, Simon, warum fixierst du dich auf die Schublade, in die du diese Frau gesteckt hast, und warum denkst du nur über Moral nach? Du siehst sie gar nicht wirklich!
Sieh diese Frau an! Sieh ihre Verzweiflung, sieh ihre Sehnsucht! Ja, sieh ihren Glauben! Und sieh, was sie tut, aus Glauben tut! Und bitte überleg nicht, wie man das, was sie tut, wie man sie selbst herabsetzen und wie man Jesus verurteilen kann, sondern sieh, was sie dir von Gott vor Augen malt. Simon, lass dich anrühren!
Und ist es nicht verrückt, wie Jesus ihm beschreibt, was die Frau tut? Jesus liegt zu Tisch, sie beugt sich über seine Füße und bricht in Tränen aus – Jesus sagt: Sie hat mir meine müden, staubigen Füße gewaschen. Sie küsst unbeholfen seine Füße – Jesus sagt: Simon, du bist der Gastgeber, es wäre deine Sache gewesen, mich mit einem Kuss zu begrüßen! Sie traut sich nicht richtig an ihn heran und verschwendet kostbares Salböl an seine Füße – Jesus sagt zu Simon: Wenn du mir etwas Gutes hättest tun wollen, hättest du mein Haupt salben können! Und er setzt dem allen noch eins drauf mit dem Satz: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt“, als merkte er nicht, wie zweideutig dieser Satz im Blick auf eine Prostituierte ist…
Jesus akzeptiert die Verrücktheit dieser Frau, und er entdeckt in dieser Verrücktheit ihre Sehnsucht, ja: ihren Glauben. Nicht Simon ist für ihn normal, sondern die Verrücktheit dieser Frau. Ach, wären doch alle Menschen so, dass sie sich von ihrer Sehnsucht leiten ließen, dass sie sich mit ihrer ganzen Sehnsucht, mit ihrer ganzen Verzweiflung, mit ihrer ganzen Hoffnung, geliebt zu werden und heil zu werden, Jesus und seinem Vater ans Herz werfen würden! Ach, wenn doch diese Welt nicht so schrecklich normal und so normal schrecklich wäre, sondern verrückt nach der Liebe Gottes!
Liebe Schwestern und Brüder, ob Simon es wagt, das mitzudenken – und ob wir das wohl wagen? Man hat unsere Geschichte ja auch immer wieder so verstanden, als ob sich da zwei Sichtweisen Gottes gegenüber stehen – eine alttestamentlich-jüdische, für die der Pharisäer Simon steht, und eine neutestamentlich-christliche, die Jesus verkörpert. Versteht man unsere Geschichte so, geht man aber gründlich an ihrem Sinn vorbei.
Simon und Jesus können gut miteinander reden und sich gut verständigen. Jesus erzählt die Geschichte von den beiden Schuldnern, und schnell erzielen die beiden Übereinstimmung. Es ist ein Gespräch zwischen zwei frommen, schriftgelehrten jüdischen Männern, die sich scheinbar schnell einig werden.
Nein, die Theorie ist nicht das Problem, nicht die Theologie, nicht die Worte, nicht die schlauen Gedanken. Zum Problem wird, was im Leben daraus wird, im Herzen, in den Gefühlen, im täglichen Verhalten. Simon sieht eine Frau, die sich verkauft, und schüttelt den Kopf – Jesus sieht eine Frau, die sich nach Ganzheit, nach Liebe, Heilung ausstreckt, denn er sieht sie mit den Augen der Barmherzigkeit. Darum wendet er sich „zu der Frau und spricht zu Simon: Siehst du diese Frau?“
Sicher erzählt diese Geschichte auch von Sündenvergebung. Und immer wieder haben sich Menschen gefragt, ob denn nun zuerst die Sünden vergeben werden – und dann traut sich die Frau, so auf Jesus zuzugehen – oder ob Jesus ihr vergibt, nachdem sie ihm so voller Liebe und Sehnsucht begegnet ist. Aber so, wie das Neue Testament die Geschichte erzählt, ist es an der Reihenfolge von Vergebung und Umkehr nicht interessiert und gibt keine Antwort auf diese Frage.
Diese Frau hat Jesus längst gewonnen, und er segnet sie für ihren weiteren Weg: „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ Jetzt möchte er, dass auch Simon umkehrt, dass sein Glaube nicht weiter im Kopf stecken bleibt, sondern Beine bekommt und Hände und Gefühle, dass auch er sie lieb gewinnt und sich anstecken lässt von ihrer Sehnsucht, und wir uns mit ihm, „denn sie hat viel Liebe gezeigt!“ Amen.
Verfasser: Pfarrer Hermann Birschel, Am Mühlberg 30, 64658 Fürth
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