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Vergebung ohne Abkürzung

von Anne Schumann (Ev. Auferstehungsgemeinde Mainz)

Predigtdatum : 27.06.2021
Lesereihe : III
Predigttag im Kirchenjahr : 4. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : 1. Mose 50,15-21
ggf. Homepage, auf der die Predigt verzeichnet ist : http://www.auferstehungsgemeinde.de
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Wochenspruch: Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater 6,2)

Psalm: 42,2-6

Lesungen

Reihe I: Lukas 6,36-42
Reihe II: Römer 12,17-21
Reihe III: 1. Mose 50,15-21
Reihe IV: Johannes 8,3-11
Reihe V: 1. Petrus 3,8-17
Reihe VI: 1. Samuel 24,1-20

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 437 Die helle Sonn leucht jetzt her-für
Wochenlied: EG 495,1-3.5.6 O Gott, du frommer Gott
Predigtlied: EG 355 Mir ist Erbarmung widerfahren
Schlusslied: EG 455,5-7 Führe mich o Herr und leite

Predigttext: 1. Mose 50,15-21

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:
17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.
18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Predigt

Welche Serie gucken Sie? Ein Bekannter von mir hat diese Frage neulich beantwortet mit „Tagesthemen“, und da war das Gespräch dann ziemlich schnell zuende. Normalerweise ist das aber eine prima Frage, wenn man ein Gesprächsthema sucht. Es gibt richtig viele Leute, die Serien gucken, da wundert man sich manchmal. Ich selber habe sämtliche Folgen von „Downton Abbey“ gesehen – bis auf die letzte. Das Finale hab ich mir noch aufgehoben, denn wenn ich das auch gesehen habe, ist die Serie vorbei, und das will ich nicht.

Wenn sich irgendein Teil der Bibel dazu eignen würde, einmal als Serie verfilmt zu werden, dann das Buch Genesis. Verfilmungen gibt es dazu ja schon. Das ist die große Familiensaga über mehrere Generationen. Da gibt es die ganz große Liebe, den verzweifelten Kinder­wunsch bis hin zur Leihmutterschaft, Hass unter Brü­dern, Eifersucht unter Schwestern, Menschenhandel, Vergewaltigung, Mord, Lügen am Sterbebett, Flucht, finanzielle Katastrophen und sozialen Aufstieg – da ist wirklich alles drin, so richtig zum Mitfiebern.

Der Bibeltext, um den es heute geht, ist das große Finale, sozusagen die letzte Folge der vierten Staffel. Was bisher passiert ist: Josef, der verwöhnte Lieblings­sohn des alten Patriarchen Jakob, wird von seinen nei­dischen Brüdern in die Sklaverei verkauft. Mit Glück und Tüchtigkeit schafft er es, aus diesem Elend ganz nach oben zu kommen, bis er zweiter Mann im Staat ist. Und dann wendet sich das Blatt, seine Brüder sind plötzlich von ihm abhängig, und zwar auf Leben und Tod von ihm abhängig. Es gibt ein tränenreiches Wiedersehen mit dem alten Vater, alle in der Familie zeigen sich von ihrer besten Seite. Aber dann stirbt Jakob. Wir hören den Bibeltext.

[1. Mose 50,15-21]

Es gibt also ein Happy End, eine große Versöhnung der Brüder am Schluss. Und wenn das hier tatsächlich eine Fernsehserie wäre, dann hätte ich daran so meine Zweifel. Wie wahrscheinlich ist das denn, dass Josef seinen Brüdern wirklich vergeben kann? Natürlich ist er ein gemachter Mann, er ist ein äußerst erfolgreicher Wirtschaftspolitiker. Natürlich sind seine Brüder arme Schlucker und können ihm längst nichts mehr anhaben, im Gegenteil, er sitzt am längeren Hebel. Aber reicht das denn? Kann man denn vergeben, nur weil etwas vorbei ist und sich auch nicht wiederholen wird? Der Hass und der Neid zwischen den Brüdern haben Josefs Kindheit geprägt. Er kannte nie etwas anderes in seiner Familie. Und als er 17 war, da haben ihn diese – Ent­schuldigung – Schweinehunde an Menschenhändler verkauft, den eigenen Bruder einfach verkauft. Die Alternative dazu wäre übrigens gewesen, ihn gleich umzubringen, insofern haben sie sich noch von ihrer netteren Seite gezeigt. Durch ihre Schuld hat er dann 13 Jahre seines Lebens in Sklaverei und im Gefängnis zugebracht. Meinen Sie im Ernst, das kann jemand ver­geben? Könnten Sie das? Wie soll das gehen? Wie geht vergeben? Drei Gedanken dazu finde ich in diesem Bibeltext.

Erstens: Vergebung kennt keine Abkürzung. Lesen Sie mal nach im Buch Genesis. In Kapitel 42 trifft Josef seine Brüder zum ersten Mal wieder, seit sie ihn ver­kauft haben. Und dann kommt Kapitel um Kapitel, in denen er versucht, mit dieser Situation irgendwie klar­zukommen. Er verstellt sich, er belügt sie, er bedroht sie, er macht ihnen großzügige Geschenke, er lädt sie zum Essen ein und im nächsten Moment steckt er sie ins Gefängnis, diese ganze dysfunktionale Familie geht fast vor die Hunde dabei, und am meisten leidet ver­mutlich der alte Vater, der nun wirklich der Letzte ist, dem Josef wehtun will. Und immer wieder steht da: Josef weinte. Als er versklavt wurde und als er ins Gefängnis kam, da lesen wir nichts davon, dass er weint – aber wenn es um seine Brüder geht, da weint er. Er kriegt das nicht unter die Füße, er quält sich selbst und alle anderen. Vergebung kennt keine Abkürzung, Ver­gebung geht nicht schnell, Vergebung ist nicht einfach, zumindest nicht, wenn mir jemand etwas wirklich Schlimmes angetan hat. Josef kommt schließlich doch noch an diesen Punkt und kann seinen Brüdern verge­ben, aber es dauert endlos lange.

Wir beten jeden Sonntag im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Warum beten wir das eigentlich? „Vergib uns unsere Schuld“ würde doch reichen. Gott weiß doch sowieso, ob wir vergeben oder nicht vergeben, das müssen wir ihm doch nicht extra mitteilen. Ich glaube aber, dieses „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ brauchen wir selber als Merksatz. Gott vergibt mir, und er gibt mir den ständigen Auftrag, den anderen zu vergeben, auch wenn mein Weg dahin noch so lang und steinig und schwierig ist. Ich darf mich in meinem Groll und meiner Verletztheit nicht häuslich einrichten, auch wenn das manchmal viel einfacher wäre. Daran erinnert mich dieser halbe Satz im Vater­unser.

Der Grund dafür ist, dass Gott immer meine Freiheit will. Klar ist, wenn Gott mir vergibt, bedeutet das Befreiung von meiner Schuld. Aber genauso werde ich zum freien Menschen, wenn ich anderen vergeben kann. Die deutsche Sprache ist da sehr genau: Wenn ich nicht vergebe, dann trage ich jemandem etwas nach. Wer trägt denn da jetzt? Ich trage nach, ich schleppe mich damit ab. Der andere weiß ja unter Umständen noch nicht mal was davon, der hat den Vorfall vielleicht längst vergessen. Wenn ich nicht mehr nachtragend bin, dann werde ich frei von dieser Last, von meinem Groll und von meinen dunklen Gedanken. Und deswegen besteht Gott darauf, dass ich mich auf diesen Weg mache, dass ich anderen vergeben lerne, weil das der Weg in meine eigene Freiheit ist.

Und trotzdem, auch wenn wir gern vergeben können möchten, ist es manchmal schwierig und manchmal völlig unvorstellbar. Da ist es auch nicht mit einem schnellen Gebet getan. Nur weil ich Christ bin, kann ich nicht automatisch vergeben; die Fähigkeit dazu fällt ja nicht vom Himmel. Deshalb bin ich froh über die Josefsgeschichte mit diesen endlosen Kapiteln, in denen Josef so mit sich kämpft und mit dem, was seine Brüder ihm angetan haben. Die Bibel macht uns, Gott sei Dank, nichts vor: Vergebung ist notwendig und befreiend, aber sie kennt keine Abkürzung.

Es gibt ein lesenswertes kleines Buch von Martin Grabe, er ist Chefarzt für Psychotherapie in der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Das Buch heißt „Lebenskunst Vergebung“ und erklärt, warum Vergebung manchmal so schwierig ist und welche verschiedenen Wege dahin es trotzdem gibt. Die kann ich jetzt nicht alle erläutern, aber in der Josefsgeschichte finden wir einen Teil davon wieder.

Als die Brüder förmlich angekrochen kommen, weil sie Angst haben vor seiner Rache, da sagt Josef: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt?“ Damit erkennt Josef an, dass er kein Recht auf Rache hat. Das ist der zweite Punkt in diesem Text: Rache steht allein Gott zu. Im Alten und im Neuen Testament finden wir mehrfach den Satz: „Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ Aber den muss man im Zusammenhang lesen, sonst versteht man ihn völlig falsch. Es geht nicht darum, dass Gott blindwütig dreinschlägt, sondern es geht darum, dass Gott sich die Rache vorbehält, dass niemand außer Gott sich dieses Recht nehmen darf. Dieser Satz ist also ein kategorisches Verbot der Rache! Wer sich rächt, der setzt sich selber an Gottes Stelle, und das will Josef nicht. In unserer Welt sähe es heute anders aus, wenn wir Christen zu allen Zeiten konse­quent darauf verzichtet hätten, uns zu rächen. Wenn wir von Feindesliebe reden, dann ist das schon ein gro­ßer Teil davon: nicht Gleiches mit Gleichem zu vergel­ten. Und das gilt für Gewalttaten genauso wie für die gemeinen Sprüche der Kollegin im Büro.

In der Bibel gibt es die sogenannten Rachepsalmen, also Rachegebete. Da beten Menschen, die von ihren besten Freunden verraten wurden, die verschleppt wurden, deren Städte niedergebrannt wurden, deren Familien abgeschlachtet wurden. Ich glaube, wir brau­chen diese Gebete bis heute, weil unsere Welt sich nicht wesentlich geändert hat. Das eindrücklichste Bei­spiel ist für mich Psalm 137. Da steht über den Feind: „Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“ Da wünscht sich einer in seinen Rachefantasien, dass Kleinkinder getötet werden – sowas darf man doch noch nicht mal denken! Nein, sowas darf man auch nicht denken – aber sowas darf man beten, auch sowas, gerade sowas! Rache steht allein Gott zu; meinen Wunsch nach Rache kann und soll und muss ich an ihn abgeben, damit ich frei davon werde. Martin Grabe schreibt: „Wenn ein Mensch die Rache an Gott abgibt, stellt er seiner Gerechtigkeit anheim, wie er mit dem Gegner umgeht. Er weist ihn aber darauf hin: mit diesem Menschen muss noch um­gegangen werden. Wie Gott letztlich an dem Gegner handelt, bleibt offen und ist jetzt nicht mehr Thema des Opfers.“

Und ein dritter Gedanke noch. Jesus hat gesagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8,32) Auch das sehen wir bei Josef. Er sagt zu seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ Die Wahrheit, um die es hier geht, hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die: Josef tut nicht so, als sei das alles ja nicht so schlimm gewesen. Er hat unter der Bosheit seiner Brüder gelitten und er sagt das auch. Wer nämlich nicht zugibt, dass er verletzlich ist und dass er verletzt wurde, der kann auch nicht vergeben. Das ist die eine Seite der Wahrheit, die frei macht, die Dinge ehrlich anzusehen. Und dann gibt es noch die andere Seite: Josef reduziert sein eigenes Leben näm­lich nicht auf das, was ihm angetan wurde. Er macht sein Leben nicht kleiner, als es ist. Er konnte als Wirt­schaftspolitiker viele Leute ernähren, und das ist für ihn ein Zeichen der Güte Gottes, dass er für andere etwas tun konnte. Das macht sein Leid nicht ungeschehen und auch nicht weniger schlimm. Aber das, was ihm seine Brüder angetan haben, ist nicht das Einzige in seinem Leben, was zählt. Das, was Gott an Gutem für ihn getan hat und durch ihn getan hat, das zählt auch, das gehört auch zur Wahrheit. Dieser Weg zur Verge­bung ist keiner für Leute, die mitten in einer üblen Situation drinstecken. Aber im Rückblick zu sagen: „Ja, das wurde mir angetan, und ja, durch Gottes Güte ist mein Leben mehr als das, was mir angetan wurde“, das ist Wahrheit, die frei macht.

Verfasserin: Anne Schumann, Mainz