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Wie hole ich hier das Meiste raus?

von Anne Schumann (Ev. Auferstehungsgemeinde Mainz)

Predigtdatum : 13.06.2021
Lesereihe : III
Predigttag im Kirchenjahr : 2. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : 1. Korinther 14,1-12(23-25)
ggf. Homepage, auf der die Predigt verzeichnet ist : http://www.auferstehungsgemeinde.de
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Wochenspruch: Christus spricht: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. (Matthäus 11,28)

Psalm: 36,6-10

Lesungen

Reihe I: Jesaja 55,1-5
Reihe II: Matthäus 11,25-30
Reihe III: 1. Korinther 14,1-12(23-25)
Reihe IV: Jona 3,1-10
Reihe V: Lukas 14,(15)16-24
Reihe VI: Epheser 2,(11-16)17-22

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 452 Er weckt mich alle Morgen
Wochenlied: EG 213 Kommt her, ihr seid geladen; EG 225 Komm, sag es allen weiter
Predigtlied: EG 136 O komm du Geist der Wahrheit
Schlusslied: EG+ 127 Schenk uns Weisheit

Predigttext: 1. Korinther 14,1-12

1 Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet!
2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse.
3 Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.
4 Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde.
5 Ich möchte, dass ihr alle in Zungen reden könnt; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch redet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, auf dass die Gemeinde erbaut werde.
6 Nun aber, Brüder und Schwestern, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre?
7 So verhält es sich auch mit leblosen Instrumenten, es sei eine Flöte oder eine Harfe: Wenn sie nicht unterschiedliche Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was auf der Flöte oder auf der Harfe gespielt wird?
8 Und wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten?
9 So auch ihr: Wenn ihr in Zungen redet und nicht mit deutlichen Worten, wie kann man wissen, was gemeint ist? Ihr werdet in den Wind reden.
10 Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache.
11 Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein.
12 So auch ihr: Da ihr euch bemüht um die Gaben des Geistes, so trachtet danach, dass ihr sie im Überfluss habt und so die Gemeinde erbaut.

Predigt

Wenn es irgendeine Gemeinde gab, deren Kirchenvor­stand ich nicht beneide, dann die Gemeinde in Korinth. Die zu leiten war bestimmt ein beinharter Job. Ich skiz­ziere mal die Situation: [Karte einblenden] Korinth liegt ungefähr 75 km westlich von Athen an einer Landenge, die die Halbinsel Peleponnes mit dem Festland verbin­det. Der Seeweg um die Peleponnes ist zeitaufwändig und ziemlich gefährlich, den will man möglichst vermei­den. Heute ist dort ein Schiffskanal, aber in der Antike gab es den Diolkos. Das war eine ungefähr 7 km lange asphaltierte Trasse, über die die Handelsschiffe auf Kar­ren gezogen werden mussten. Archäologen haben aus­gerechnet, dass man bis zu 180 Männer brauchte, um ein großes Schiff zu transportieren. Die einen lehnten sich in die Zugseile, die anderen schaufelten nassen Sand auf die Trasse, um die Reibung zu erhöhen, wenn es bergab ging. Das war richtige Knochenarbeit; wer da schuften musste, der war abends fix und fertig. [Karte ausblenden]

Aber diese Schiffstrasse war natürlich auch ein riesiger Standortvorteil für die Stadt. Korinth war im ersten Jahrhundert ein Handelszentrum mit vielleicht 100.000 Einwohnern, hier konnte man sehr viel Geld verdienen, zum Beispiel auch im Bankensektor. Korinth und nicht Athen war die Hauptstadt der römischen Provinz Achaia. Die Böden im Umland waren besonders frucht­bar; Olivenöl und Textilien wurden exportiert, Marmor und Granit für Luxusvillen wurden importiert. Im Thea­ter hatten 3.000 Zuschauer Platz; das kulturelle Leben blühte. Sportlicher Kampfgeist war wichtig; die Isthmi­schen Spiele wurden in Korinth ausgetragen. Die Stadt war wie ein Magnet und die Lebenshaltungskosten waren extrem hoch, genauso wie die Arbeitslosigkeit. Es gab ein Sprichwort: „Nicht jeder erreicht Korinth“ – das hieß: Wer hier mithalten konnte, der hatte es geschafft im Leben, aber das waren eben nicht viele. Historiker schätzen, dass 90 % der Bevölkerung am Existenzminimum lebten oder sogar darunter. Alles in allem sehen wir eine Metropole mit einem extremen sozialen Gefälle, mit wenigen Gewinnern und sehr vie­len Verlierern.

Im Jahr 50 kommt der Apostel Paulus auf Missionsreise nach Korinth. Er findet Arbeit und Unterkunft und bleibt anderthalb Jahre in der Stadt. In dieser Zeit ent­steht eine kleine christliche Gemeinde, die in ihrer sozi­alen Struktur genauso unausgeglichen ist wie der Rest der Gesellschaft: Eine Handvoll Wohlhabende und Gebildete gibt es und eine große Mehrheit, die tagtäg­lich ums Überleben kämpfen muss. Sklavinnen und Hafenarbeiter fangen an zu glauben, dass Gott sie liebt. Sie lassen sich taufen, treffen sich frühmorgens oder spätabends zum Gottesdienst, vor oder nach der Arbeit. Das Evangelium gibt ihnen ihre Menschenwürde zurück. Überall sonst in ihrem Leben zählen nur Kraft und Schönheit. Überall sonst zählt nur das Geld. Aber bei Gott machen diese Menschen plötzlich andere Erfahrungen. Ich bin geliebt. Ich bin wertvoll. Christus ist für mich gestorben. Und auch das: Ich bin begabt.

Die Christen in Korinth erlebten nämlich, dass der Hei­lige Geist sich gerne über Grenzen hinwegsetzt. Men­schen, auf die sonst keiner hörte, Frauen, Sklaven, völ­lig Ungebildete wurden plötzlich zu seinem Sprachrohr. Gott sprach durch sie mit Weisheit und mit Autorität wie früher durch die alten Propheten, wie durch Elia oder Amos. Und Menschen lernten beten, nicht in gepflegtem Griechisch oder Latein, sondern in ihrer Muttersprache, im breiten Dialekt, auf Rhoihessisch, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Es gab auch eine ganz fremdartige Form des Gebets; einige hatten nämlich die Gabe der Zungenrede. Sie beteten in Spra­chen, die sie selbst nie gelernt hatten, in unverständli­chen Lauten wie ganz kleine Kinder, und machten dabei die Erfahrung, dass sie Gott die Kontrolle über ihre Zunge überlassen konnten, dass der Heilige Geist quasi durch sie hindurch betete. Von Gott eine Stimme bekommen, Gottes Stimme werden – das war zutiefst beglückend.

Und trotzdem: Auch in Korinth fand Gemeindeleben nicht im luftleeren Raum statt. Die Menschen brachten die Welt, in der sie nun mal lebten, mit in den Gottes­dienst, die Ellbogenmentalität und die ständige Angst, zu kurz zu kommen. Was sich nach und nach durch­setzte, war eine Haltung, in der es vor allem um eines ging: Wie hole ich hier das Meiste für mich raus? Wie hole ich das Meiste aus dem Glauben für mich raus? Wie hole ich das Meiste aus dem Gottesdienst für mich raus? Und nur wenige Jahre später sitzt Paulus in Ephe­sus und schreibt sich die Finger wund an diese Gemeinde in Korinth, die jetzt völlig auseinanderdriftet. Da gab es regelrechte Fanclubs für bestimmte Prediger, da schlichen die einen hungrig und verlegen in den Got­tesdienst, den die anderen längst mit einer üppigen gemeinsamen Mahlzeit begonnen hatten, und da stritt man sich darüber, wer wann was im Gottesdienst sagen durfte und wer zu schweigen hatte. Und es gab schon wieder diejenigen, die sagten: Ich kann hier doch sowieso nicht mithalten.

Es waren krasse Verhältnisse in Korinth, aber ist uns die Grundfrage so vollkommen fremd? Was bringt mir der Gottesdienst? Was bringt mir die Gemeinde? Was bringt mir der Hauskreis? Was bringt es mir, wenn ich bete? Was habe ich davon, wie hole ich das Meiste für mich raus? So ganz weit weg von uns ist das doch nicht, oder? Aber ich kann doch auch nicht so tun, als hätte ich keine Bedürfnisse, als würde das alles überhaupt keine Rolle spielen. Und was ist, wenn die Bedürfnisse von verschiedenen Menschen in der Gemeinde nicht zueinander passen? Paulus wählt ein konkretes Bei­spiel, eins der vielen Probleme im Gemeindealltag von Korinth, und zeigt daran, wie es gehen kann.

[Wir hören den Predigttext.]

„Bemüht euch vor allen Dingen um die Liebe“, damit beginnt Paulus. Ein Kapitel vorher hat er erklärt, was er damit meint. Das 13. Kapitel im 1. Korintherbrief ist das berühmte „Hohelied der Liebe“, das bei unzähligen Hochzeiten gelesen wird: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht …. die Liebe ist langmütig und freundlich …. nun aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe ….“ – Sie kennen das bestimmt. Eigentlich bezieht sich Paulus damit aber überhaupt nicht auf das Eheleben, sondern auf das Gemeindeleben. Das heißt: Das Hauptkriterium dafür, was in der Gemeinde stattfindet oder nicht stattfindet, ist immer die Liebe. Die Liebe ist der Maßstab und nicht das, was ich für mich persönlich rausholen kann, was mich ästhetisch oder intellektuell oder emotional anspricht.

[Beispielgeschichte]

Ein Zweites: Ich darf die Form von Spiritualität pflegen und genießen, die Gott mir schenkt und die mir persön­lich guttut, auch wenn das sonst kein Mensch nachvoll­ziehen kann. In Korinth war das für etliche Gemeinde­mitglieder die Zungenrede, so befremdlich das auch auf andere wirkte. Paulus will das nicht abwürgen, im Gegenteil. Aber damals wie heute gibt es ein entschei­dendes Kriterium dafür, was in den Gottesdienst und somit in die Öffentlichkeit gehört, und das ist die Frage: Eröffnen oder verbauen wir den anderen damit den Zugang zu Gott?

Hören alle das Wort Gottes in einer Sprache und in einer Formulierung, die sie auch verstehen? Können alle mitfeiern, auch die, die neu und fremd und nicht fromm sozialisiert sind? Ein Problem, das wir oft haben, hatten die Korinther noch nicht: Deren Gemeinde war gerade mal fünf Jahre alt und schleppte noch keine liebgewordenen Traditionen mit sich herum. Ich per­sönlich genieße vielleicht die Lutherbibel, weil ich seit meiner Kindheit damit vertraut bin und weil sie ein gro­ßes Kulturgut ist, aber was ist mit denen, die sprachlich kaum noch folgen können? Hat die Lutherübersetzung in der Lesung ihren Platz oder eher in der privaten Bibellektüre? Und das Vaterunser zu beamen, stört vielleicht den Altarraum, aber es macht allen möglich, den Text mitzubeten. Niedrigschwelligkeit ist kein net­tes Extra, sondern ein Zeichen dafür, dass der Heilige Geist unter uns zum Zuge kommt.

Und ein Letztes: Paulus rät den Korinthern, sich intensiv um die Gabe der prophetischen Rede zu bemühen. Und das sollen nicht ein paar Auserwählte tun, sondern die ganze Gemeinde. Propheten sind keine Hellseher, son­dern sie sind Menschen, die aus Gottes Perspektive auf eine Situation blicken und die dann wegweisende Worte finden. Gottes Perspektive – wie schaut Gott wohl auf unsere Gottesdienste, auf unser Miteinander, wie schaut er auf unsere Familien, unsere Arbeit und unser Privatleben? Gottes Blick auf uns ist zuallererst liebevoll und nicht verächtlich, aber es kann sein, dass er uns hier und da korrigiert. Und Paulus sagt, der Hei­lige Geist will uns diesen besonderen Blick schenken, wir können darum bitten und wir können ganz bewusst versuchen, diese Perspektive Gottes füreinander einzu­nehmen.

Und dann will uns der Heilige Geist auch wegweisende Worte schenken, mit denen wir diese Perspektive Got­tes vermitteln können, mit denen wir andere ermuti­gen und aufbauen und trösten und Orientierung geben können. Der Satz ist wahr: „Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selbst sagen.“ Und auch da ist es besonders wichtig, dass viele beteiligt sind, schon damit sich niemand eine Autorität anmaßt, die er nicht hat. Und wenn ich meine, dass ich und nur ich die Per­spektive Gottes kenne, dass die Gemeinde nur diesen und keinen anderen Weg einschlagen darf, dann brau­che ich die anderen besonders, die mich korrigieren. Denn die Verantwortung dafür, dass Gott bei uns zu Wort kommt, haben wir alle zusammen, die liegt nicht nur bei den Leuten, die gelegentlich auf der Kanzel ste­hen. Wir sind und bleiben alle aufeinander angewiesen, damit wir uns gegenseitig die Augen öffnen für Gottes Perspektive, uns erinnern an die Liebe Gottes und uns motivieren für den nächsten Schritt.

Verfasserin: Anne Schumann, Mainz