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Befreiung im Vertrauen auf Gottes Gnade

von Giselher Quast (39104 Magdeburg)

Predigtdatum : 31.10.2007
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 23. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : Jesaja 62,6-7.10-12
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Wochenspruch:

Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
(1. Korinther 3,11)
Psalm: 46,2-8 (EG 725)

Lesungen

Altes Testament:
Jesaja 62,6-7.10-12
Epistel:
Römer 3,21-28
Evangelium:
Matthäus 5,1-10 (11-12)

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 362
Ein feste Burg ist unser Gott
Wochenlied:
EG 341
Nun freut euch, lieben Christen g’mein
Predigtlied:
EG 241,1-5+8
Wach auf, du Geist der ersten Zeugen
Schlusslied:
EG 351,1-3
Ist Gott für mich, so trete

6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Liebe Gemeinde,
es sind drei Welten, die sich heute am Reformationstag begegnen: die Welt des Alten Testaments mit dem zerstörten Jerusalem; die Welt der Reformation mit ihrem Neuaufbruch; und die Welt um uns herum mit einer immer schwächer werdenden Kirche. Zwischen allen drei Welten gibt es vielfältige und hoffnungsvolle Beziehungen, so wenig der Reformationstag auch heute das „Ein feste Burg ist unser Gott“ in die Welt hinausschmettert.
Die Welt des Alten Testaments: Das 60. Kapitel des Jesajabuches richtet sich an die Bewohner Jerusalems. Die Stadt lag in Trümmern, schon 49 Jahre lang. So lange hatten die Babylonier die Menschen aus Jerusalem weggeführt und ins Exil geschickt: „An den Wasserflüssen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“ (Psalm 137,1). Viele waren auf dem Weg ins Exil gestorben, viele lagen in Babylon in fremder Erde und hatten die Heimat nie wieder gesehen. Aber sie hatten in der Gefangenschaft auch starke Verheißungen empfangen: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat. Bereitet dem Herrn den Weg, denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden“ (Jesaja 40,1-5). Und noch ehe die Verheißung wahr wurde, sangen sie schon voller Hoffnung: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden“ (Psalm 126,1). Nun war es Wirklichkeit geworden, und der Perserkönig Kyros hatte ihnen die Freiheit geschenkt. Die ersten Überlebenden waren nach Jerusalem zurückgekehrt. Aber von der Herrlichkeit des Herrn war nichts zu sehen. Trümmer, Trümmer und nochmals Trümmer. Der Tempel zerstört, die Stadtmauern geschleift. Immer wieder wurden die ersten Rückkehrer geplündert. Jeder dachte nur ans nackte Überleben. Wo war Hoffnung?
Es sind drei Welten, die sich heute am Reformationstag begegnen: Neben der Erinnerung an das alte Jerusalem erinnern wir uns an die Welt der Reformation: Die mittelalterliche Kirche war 1517 äußerlich gesehen auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber geistig und geistlich lag sie in Trümmern wie Jerusalem. Martin Luther sprach deshalb von der ‚babylonischen Gefangenschaft der Kirche’ und dem Papsttum als dem ‚Reich Babel’. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Missstände und Irrtümer bei den Sakramenten, die sie quasi gefangen nehmen und in ihrer wahren Bedeutung von den Gläubigen fortführen. Der Missbrauch des Ablasswesens, der Reliquienkult, die Finanzgeschäfte der Kirche, der Ämtermissbrauch, die Verdummung des Volkes – all das waren für ihn die Trümmer der einstigen, wahren Kirche, die wieder aufgebaut werden mussten zum wahren Tempel Gottes, zu einer neuen Kirche. Der Anfang war für die Reformatoren genauso schwer wie für die Rückkehrer nach Jerusalem. Unendliche Widerstände, Exkommunikation und Morddrohungen stellten sich Luther und seinen Freunden in den Weg. Innere Streitigkeiten und äußere Rückschläge ließen sie manches Mal verzagen. Durften sie hoffen, dass die neue, wahre Kirche durch ihr Wirken entsteht?
Es sind drei Welten, die sich heute am Reformationstag begegnen: Neben Jerusalem und der Reformation ist es die Welt unserer Gegenwart, die uns beschäftigt: Wie fest steht die Kirche heute? Der Reformationstag ist in den evangelisch geprägten Bundesländern ein staatlich anerkannter Feiertag. Aber viele Gemeinden werden an diesem Mittwoch keinen zusätzlichen Gottesdienst haben, als würden sie dieses Geschenk überhaupt nicht mehr achten, als wäre es nicht mehr wichtig zu zeigen, was Evangelischsein heißt. Die Kirche ist als Körperschaft des Öffentlichen Rechtes vom Staat anerkannt und gefördert, ja vielfach sogar privilegiert. Aber das Hemd, in das wir geschlüpft sind, wird uns mancherorts viel zu groß: Die kleine Minderheit von Christen an den ehemaligen Zentren der Reformation in Sachsen-Anhalt und Thüringen kann all das oft gar nicht leisten, was die Gesellschaft ihr ermöglicht. Und viele Nichtchristen begegnen der Kirche wieder mit Unverständnis und Vorurteilen, weil eine so kleine Schar in den neuen Bundesländern so große Privilegien erfährt. Die Finanznot zwingt unsere Kirchen sich zu vereinigen, obwohl unendlich viel neue Probleme und Finanzen damit verbunden sind. Bleiben am Ende nur Trümmer von einer einstmals so reichen Kirchenlandschaft, die wir nicht wieder aufbauen können?
Liebe Gemeinde, zwischen allen drei Welten – dem Bibeltext, dem Reformationsgedenken und unserer Kirche heute – gibt es vielfältige und hoffnungsvolle Beziehungen. Denn über allen steht eine große Verheißung, die mit uns geht: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen.“
Menschen können verstummen, vor Leid, vor Hoffnungslosigkeit, vor Kleinglauben. Menschen hatten nicht die Kraft, Jerusalem wieder aufzubauen. Die Kirche der Reformation ist nicht die eine, wahre Kirche geworden, sondern eine neue Spaltung mit neuen Fehlern. Die neue Freiheit nach der Wende hat uns als Christenschar nicht wachsen lassen, sondern zwingt uns zu immer mehr Einschränkungen. Aber Gott bekümmert nicht das alles am meisten. Am meisten bekümmert ihn unser Schweigen, unser Verstummen. Nicht einmal klagen tun wir mehr. Wir liegen nicht vor Gott mit brennenden Gebeten um die Erweckung der Kirche. Wir gehen unsere Wege vor uns hin und schicken uns in das Unvermeidliche.
Da aber greift Gott ein! Was wir nicht tun, tut er für uns: Er setzt unsichtbare Wächter über seine Kirche, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht schweigen sollen, himmlische Kräfte, Engelsmächte, die für uns zu Gott rufen – denn er will gerufen werden. Der Apostel Paulus hat einmal gesagt: „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Aber der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ (Römer 8,26). Was Jesaja als unsichtbare Engelwächter sah, ist für Paulus der Geist Gottes – Kräfte, die für uns rufen und beten, schreien und Gott bestürmen.
Von ihnen sollen wir lernen: nicht zuerst die Aufgaben zu sehen – die Stadt, den Tempel, die Kirche, die wieder aufgebaut werden müssen – sondern zuerst auf Gott zu sehen, der helfen will und kann! Nicht zuerst über unseren eigenen, kleinen Kräfte zu verzagen, sondern zuerst auf Gottes große Möglichkeiten zu vertrauen. Wir trauen Gott weithin nichts mehr zu, und deswegen dringen wir auch so wenig auf ihn ein mit unserem Gebet. Menschen, die von sich selber weg auf Gott sehen, verzagen nicht mehr an der Wirklichkeit, sondern hoffen auf die Möglichkeit und gehen die Gegenwart deswegen viel gelassener an! Unsere drei Welten wollen dafür Hoffnungszeichen sein:
Die Heimkehrer nach Jerusalem vor 2.500 Jahren haben mitten in den Trümmern den Grundstein für den neuen Tempel gelegt, auch wenn die neue Stadtmauer, die ihnen hätte Sicherheit geben können, erst ein Jahrhundert später gebaut wurde. Sie haben den später Heimkehrenden die Steine aus dem Weg geräumt: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“ Sie haben 23 Jahre auf die Vollendung des Tempels gewartet, 105 Jahre auf die Vollendung der Stadtmauer – mit der Maurerkelle in der einen und dem Schwert in der anderen Hand, sie sind durch Ängste und Unsicherheiten gegangen. Aber die unsichtbaren Wächter, die Gott über ihre Mauern bestellt hat, haben gewacht und beschützt, und Jerusalem ist wieder zum Wallfahrtsort für die Völker geworden.
Die Reformatoren haben den Drohungen getrotzt. Luthers Durchringen „Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen“ hat Menschen, Reichsständen, Fürsten Mut gemacht. Die theologischen Disputationen, Verteidigungen, Bekenntnisse, die Predigten, Bibelübersetzungen und Flugschriften waren mühsame Aufbauarbeit im Weinberg Gottes, um das Volk aus der ‚babylonischen Gefangenschaft der Kirche’ zu führen. Menschen wurden befreit zur ‚Freiheit eines Christenmenschen’, die sich allein auf Gottes Gnade verlässt und nicht auf die Heilsvermittlung der Kirche, allein auf Gottes Wort und nicht auf die Dogmen der Menschen. Die junge, reformatorische Kirche ist gewachsen trotz Schmähung und Gewalt und trägt in die heute notwendige Ökumene ein Gut ein, das sonst verschüttet zu werden drohte. Gottes Geist hat diese Kirche durch Hoffnung und Irrtum, Stärken und Schwächen angenommen und erhalten und seine Wächter darin eingesetzt.
Und die Hoffnungszeichen heute? Im vergangenen Jahr, dem Jahr der Taufe, sind in Mitteldeutschland mehr Menschen getauft worden als in den Jahren zuvor. In Städten und Dörfern haben sich Kirchbauvereine gegründet, die nicht zusehen wollen, dass Kirchen zu Trümmern zerfallen. In Kommunitäten und Gebetsgemeinschaften ist der Ruf der Wächter zu Gott, das Seufzen des Geistes aufgenommen worden, wird gebetet für das Wachsen der Kirche und nicht nachgelassen. Gott hat seine Kirche nicht verlassen, und Menschen haben ihren Gott nicht verlassen! Vielleicht müssen wir 23 Jahre warten wie die Israeliten auf den neuen Tempel, oder 105 Jahre auf die feste Stadtmauer. Vielleicht müssen wir wie die Reformatoren 38 Jahre warten bis zum Augsburger Religionsfrieden oder 131 Jahre bis zum Westfälischen Frieden, ehe die Kirche wieder in Frieden gedeihen kann. Wir sind so schrecklich kleingläubig!
Liebe Gemeinde, Gottes Mächte sind über unsere Kirche bestellt. Sie wachen besser als alle unsere Versuche, aus eigener Kraft das Richtige zu tun. Tun müssen wir etwas, mit aller Kraft. Aber auch mit der Gelassenheit und der Zuversicht, dass Gott sein Werk nicht preisgibt, seine Kirche nicht fallen lässt, seine Menschheit nicht untergehen lässt. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns liebt, dass wir ihm wichtig sind, dass er uns braucht. Und wir dürfen schon jetzt als evangelische Kirche mit allen Christen sagen: „Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«. Amen.

Verfasser: Domprediger Giselher Quast, Am Dom 1, 39104 Magdeburg

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