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Der barmherzige Samariter

von Michael Heymel (64291 Darmstadt)

Predigtdatum : 17.08.2008
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 11. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : Apostelgeschichte 6,1-7
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Wochenspruch:

Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40)

Psalm: 112,5-9

Lesungen

Altes Testament:
1. Mose 4,1-16a
Epistel:
1. Johannes 4,7-12
Evangelium:
Lukas 10,25-37

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 168,1-3
Du hast uns, Herr, gerufen
Wochenlied:
EG 343
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
Predigtlied:
EG 427
Solang es Menschen gibt auf Erden
Schlusslied:
EG 175
Ausgang und Eingang

1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.
5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Hinführung:
Im täglichen Zusammenleben einer Gemeinde werden einige bei der Versorgung mit Mahlzeiten „übersehen“. Von dieser Erfahrung des Nicht-Wahrgenommen-Werdens gehe ich in der Predigt aus und versuche zu zeigen, wie der Gruppenkonflikt in der Jerusalemer Gemeinde gelöst wird: durch die Bevollmächtigung der sieben Diakone.
Für deren Ordination gibt es eine Reihe biblischer Vorbilder:
- Joseph wird vom Pharao über ganz Ägypten als Ernährungsminister eingesetzt, weil er sich als ein Mann erwiesen hat, in dem der Geist Gottes ist (1. Mose 41,38).
- Mose setzt redliche und fromme Leute aus ganz Israel ein, die ihm helfen, die Last des Volkes zu tragen und in Streitfällen zu urteilen (2. Mose 18,24ff).
- Von den siebzig Ältesten Israels wird erzählt, dass Gott seinen Geist auf sie legte (4. Mose 11,25).
Wichtig für das Verständnis des Textes ist, wer die Armenspeisung ursprünglich durchführte. Offenbar sind es Mitglieder der Hebräer-Gruppe. Sie haben jeden Tag Lebensmittel an die Witwen ausgeteilt. Aber anscheinend sind sie von der wachsenden Zahl der Witwen überfordert. Sie verlieren die Übersicht. Und das führt zu Unregelmäßigkeiten.
Die Erzählung ist ein Lehrstück dafür, wie die Verantwortlichen der Gemeinde einen Konflikt zwischen Gruppen lösen, in dem es um die Versorgung der Schwächsten (hier: der Witwen) geht. Sie lehrt, dass nur eine Gemeinde wächst, in der jeder Einzelne sich mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen fühlt.
Alternative zum Eingangspsalm: Psalm 104 = EG 743
Statt des spröden Wochenliedes empfiehlt sich: Wenn das Brot, das wir teilen (EG 632). Lied nach der Predigt: Solang es Menschen gibt auf Erden (EG 427)

Liebe Gemeinde!
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einer großen Gruppe zu einer gemeinsamen Mahlzeit am Tisch. Das Essen wird aufgetragen, aber Sie bekommen nichts!
Man übersieht Sie einfach.
Wie reagieren Sie?
Sie werden freundlich darauf hinweisen, dass Sie noch nichts bekommen haben.
Wenn das einmal passiert, kann es ein Versehen sein. Aber wenn Sie öfter bei der Essensausteilung übersehen werden, fühlen Sie sich missachtet. Sie vermuten, dass man etwas gegen Sie hat, und werden sich beschweren oder auf andere Weise Ihrer Unzufriedenheit Luft machen.
In der Apostelgeschichte wird von einem solchen Fall erzählt. Ausgerechnet in einer Gemeinde, die uns zuvor mit leuchtenden Farben gezeichnet wird, kommt so etwas vor. Wie peinlich für die Betroffenen! Und nicht nur für sie allein. Denn es ist ja eine Grundfrage an alle, die als Christen leben wollen:
Wie halten wir die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten im Alltag zusammen?
Diese Frage ist jedes Mal aktuell, wenn einige unter uns sich vernachlässigt fühlen und wenn sie den Eindruck haben:
„Mit der Nächstenliebe stimmt es in unserer Gemeinde nicht. Im Unterschied zu anderen bekommen wir nichts davon zu spüren“.
Es gibt ein zuverlässiges Kennzeichen dafür, an dem jeder von uns sofort erkennt: Hier ist eine gute Gemeinschaft, hier leben Christen wie eine intakte große Familie zusammen. –
Woran merke ich das? Daran, dass ich von den anderen wahrgenommen werde! Ich werde von ihnen beachtet, und sie interessieren sich dafür, was ich brauche.
„Willst du einen Christen erkennen, so suche kein ander Zeichen an ihm als Nächstenliebe“ (Martin Luther). Und den Nächsten lieben heißt ja zuallererst, ihn als Nächsten wahrnehmen.
Doch was passiert, wenn in einer Gemeinde einige sich vernachlässigt fühlen? Hören wir, was in der Apostelgeschichte des Lukas, Kapitel 6, erzählt wird:
Lesung des Predigttextes
Der Bericht des Lukas führt uns zu den Anfängen der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem.
Diese Gemeinde wächst. Das ist ja gut, könnte man denken. Aber das Wachstum der Gemeinde wirft auch Schwierigkeiten auf.
Sie wächst so schnell, dass es im Zusammenleben der verschiedenen Gruppen zu Spannungen kommt.
Woran merkt man, dass da etwas nicht stimmt? Es „erhob sich ein Murren ...“
Eine Gruppe ist unzufrieden, sie begehrt auf. Das äußert sich aber nicht in offenen Worten und klar formulierten Beschwerden, sondern – in Murren. Man gibt dem Missfallen leise, indirekt Ausdruck. Murren ist verwandt mit Murmeln. Man grummelt, brummt, murmelt etwas vor sich hin, wenn man unzufrieden ist, aber man hält seinen Ärger zurück, wird nicht laut und fordernd.
Bei der täglichen Lebensmittelausgabe für die Witwen und Waisen, die wahrscheinlich im Rahmen der täglichen Abendmahlzeit stattfand, haben die griechisch sprechenden Juden den Eindruck, dass ihre Witwen von den hebräisch sprechenden Juden nicht beachtet werden. Die eine Gruppe fühlt sich von der anderen übergangen und nicht so versorgt, wie sie es erwartete und gewohnt war.
Haben die Hebräer die griechisch sprechenden Witwen anders behandelt als die hebräisch sprechenden? Wenn es Engpässe bei der Essensverteilung gab, wieso waren nur die Witwen der Griechen-Gruppe davon betroffen? Klappte es womöglich auch mit der Verständigung nicht?
Wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen, fragen wir zuerst: Wer ist daran schuld? Wir suchen nach den Verantwortlichen. Lukas fragt in seinem Bericht nicht nach Schuld oder Verantwortung. Ihm liegt nur daran, dass eine Lösung gefunden wird und wie sie gefunden wird.
Die zwölf Apostel übernehmen die Verantwortung. Sie begegnen dem Missstand, indem sie eine Vollversammlung der Jünger einberufen. Die ganze Gemeinde wird einbezogen, um eine Lösung zu finden. Was die Zwölf sagen, lässt erkennen, dass die bisherige Aufgabenverteilung nicht mehr funktioniert.
„Es ist nicht in Ordnung, dass wir für die Versorgung eurer Witwen sorgen müssen“, sagen sie. Das ist ein deutlicher Wink an die Griechen: „Ihr seid für eure Witwen verantwortlich, also kümmert euch auch um sie!“
Die zwölf Apostel schlagen vor, dass die griechischen Brüder die Aufgabe selbst übernehmen und sieben Männer aus ihren Reihen wählen. Geeignet erscheinen solche Männer, die einen guten Ruf und die Fülle von Geist und Weisheit haben. Die sieben zu wählenden Männer sollen für die Griechen-Gruppe das werden, was die Zwölf für die Hebräer von Anfang an waren.
Was jetzt verhandelt wird, ist ein Vorschlag zur Arbeitsteilung. Man braucht einfach genügend Leute, die sich in jeder Gruppe um die tägliche Versorgung der Witwen mit Lebensmitteln kümmern. Die Arbeit muss nur auf eine größere Zahl von Personen verteilt werden.
Aber es geht auch darum, dass über der einen Arbeit nicht die andere vernachlässigt wird. Die Zwölf wollen ihre wichtigste Aufgabe wahrnehmen. Sie wollen das Wort Gottes predigen. Sie wollen nicht nur mit der Regelung der Mahlzeiten zu tun haben.
Die vorgeschlagene Arbeitsteilung ermöglicht beides: die Sieben werden Dienst an den Tischen tun, während sich die Zwölf dem Gebet und der Wortverkündigung widmen.
Zwei Dinge fallen außerdem auf:
Zum einen werden sowohl die Versorgung der Witwen wie auch die Wortverkündigung ausdrücklich als diakonía, d.h. als Dienst bezeichnet. Die Gemeinde braucht beide Dienste. Aber beide müssen auch in Beziehung zueinander gesetzt werden und bleiben.
Die Frage stellt sich zu jeder Zeit neu: Wie kann eine wachsende Gemeinde mit verschiedenen Gruppen den Dienst am Wort Gottes und den Dienst der Armenpflege und Armenspeisung gestalten und in Beziehung setzen?
Zum anderen können wir nur staunen, was von den sieben Männern, die für die Mahlzeiten sorgen sollen, erwartet wird. Ein guter Ruf zunächst, aber auch die Geistesgabe der Weisheit, also Klugheit, Einsicht und Verständnis. Sind diese Männer nicht „überqualifiziert“? Sind Geistesgaben nötig, um Essen auszuteilen?
Wo es nur darauf ankommt, eine soziale Dienstleistung für Versorgungsempfänger zu erbringen, braucht es keine Weisheit. Da genügt es, die Vorschriften zu kennen und richtig anzuwenden.
Aber für eine christliche Gemeinde kann das nicht genügen! Sie wird darauf achten, dass mit der Versorgung von Armen und Bedürftigen solche Menschen beauftragt werden, durch die Gott wirken kann. Die Armen und Bedürftigen sollen ja als Menschen mit eigener Würde wahrgenommen und nicht lieblos „abgespeist“ werden. Und deshalb soll ein Diakon nicht bloß Teller und Töpfe zählen und zupacken und gute Portionen austeilen können. Er soll auch ein Mensch mit geistlicher Kraft sein, der sich von Gott leiten lässt.
Diakone sollen Männer sein, die wahrnehmen, was die anderen wirklich brauchen. Dazu gehört, dass sie aus jener Kraft des Wortes leben, die ihre Herzen für die Not des anderen öffnet. Sie sollen nicht nur wie die Apostel „von den großen Taten Gottes reden“ (Apg 2,11) können, sondern sich den Bedürftigen zuwenden und sie versorgen.
Der ganzen Menge gefällt der Vorschlag. Sie greift ihn auf und trifft eine Auswahl. Die sieben gewählten Männer werden namentlich aufgeführt. Dabei zeigt sich: alle tragen griechische Namen. Und am Anfang steht nicht zufällig Stephanus, ausgezeichnet durch die Fülle des Glaubens und des Heiligen Geistes. Lukas zeigt ihn im Dienst am Wort und erzählt seinen gewaltsamen Tod.
An zweiter Stelle steht in der Liste Philippus. Lukas stellt auch ihn als Prediger und Wundertäter vor. Mit seinem Namen ist die Taufe des Kämmerers aus Äthiopien verknüpft. Später wird Philippus „der Evangelist“ genannt, einer „der Sieben“ (Apg 21,8).
Die Apostel legen den Sieben unter Gebet die Hände auf. Hier wird eine Ordination vollzogen. Die sieben Männer werden als Diakone oder Armenpfleger ordiniert. Sie werden bevollmächtigt, mit Gottes Geist und Beistand zugunsten der Armen in der Gemeinde zu handeln.
Lukas gibt uns einen deutlichen Fingerzeig, wenn er sagt:
Ein Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppen der christlichen Gemeinde kann nur gelöst werden, wenn die ganze versammelte Gemeinde in die Lösung einbezogen wird und wenn solche Personen mit Diensten beauftragt werden, die sich von der Kraft des Geistes Gottes bewegen lassen.
Heute wird überall in der evangelischen Kirche danach gefragt, unter welchen Bedingungen Gemeinden wachsen. Das Wachstum der Jerusalemer Gemeinde ist offenbar nicht darauf zurückzuführen, dass man nach Positions- und Strategiepapieren kirchlicher Gremien gehandelt hat. Es lässt sich auch nicht bloß dem geschickten Gemeindemanagement und dem Organisationstalent der zwölf Apostel zuschreiben.
Denn Lukas notiert abschließend: „Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem“.
Im Wachsen der christlichen Gemeinde will also eine geistliche Kraft wahrgenommen werden, die Menschen nicht herstellen und planen können. Es erfüllt sich in diesem Wachstum die Verheißung Gottes an Abraham – „Ich will dich zum großen Volk machen“ (1. Mose 12,2) –, und es zeigt sich darin die Frucht des Gotteswortes, das in der Verkündigung ausgesät worden ist (vgl. Lk 8,11ff).
Sehen Sie, liebe Schwestern und Brüder, wie die Gemeinde wächst?
Sie wächst, weil die Verantwortlichen dafür sorgen, dass alle in die Verantwortung einbezogen werden. Jeder von ihnen ist darauf bedacht, Gott in allem wirken zu lassen.
Und so wird schließlich doch jeder mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen. Mag sein, dass Sie dort bei der Essensausteilung einmal übersehen wurden. Aber beim nächsten Mal werden Sie umso zuvorkommender bedient.

Verfasser: Pfarrer Dr. Michael Heymel, Schulzengasse 9, 64291 Darmstadt-Arheilgen

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