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Der Heiden Heiland

von Jürgen Sauer (36304 Alsfeld)

Predigtdatum : 25.01.2004
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 3. Sonntag nach Epiphanias
Textstelle : Römer 1,(14-15).16-17
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Wochenspruch:

Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. (Lukas 13,29)

Psalm: 86,1-11.17

Lesungen

Altes Testament:
2. Könige 5, (1-8) 9-15 (16-18)
Epistel:
Römer 1, (14-15) 16-17
Evangelium:
Matthäus 8,5-13

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 288
Nun jauchzt dem Herren, alle Welt
Wochenlied:
EG 293
Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all
Predigtlied:
EG 346
Such, wer da will, ein ander Ziel
Schlusslied:
EG 74
Du Morgenstern, du Licht vom Licht

[14 Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen, der Weisen und der Nichtweisen; 15 darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen. 16 Denn]
Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«

Liebe Gemeinde,
früher gab es in allen Lebensmittelgeschäften große, anschauliche Waagen. Sie standen auf der Theke und dienten dazu, Mehl und Zucker, Fleisch und Wurst oder was sonst lose verkauft wurde, abzuwiegen. In der Mitte einer solchen Waage befand sich ein großer Zeiger. Rechts oder links wurden Gewichte aufgelegt, schwere Gewichte oder leichte, je nach Bedarf. Auf die andere Seite kam die Ware. Es wurde nach und nach soviel hinzugefügt, bis der große Zeiger sich in der Mitte einpendelte. Dann war das Gleichgewicht hergestellt. Beide Waagschalen schaukelten in etwa der gleichen Höhe. Gewicht und Gegengewicht glichen sich aus und waren im Einklang miteinander.
Dieser Vorgang des Abwiegens, des Ausbalancierens, des in der Mitte zur Ruhe Kommens stellt ein schönes Bild für unser Leben dar. Wir streben mehr oder weniger alle danach, im Einklang mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der Schöpfung ringsum und mit Gott zu leben. Wir suchen nach einem Ausgleich zwischen den Anforderungen, die an uns gestellt werden, und dem, was wir davon erfüllen können. Wir möchten die eigenen Interessen und das, was andere von uns erwarten, irgendwie ausbalancieren.
Dabei stellen wir immer wieder fest: Es fällt schwer, die Mitte zu finden. Nur selten pendelt sich der große Zeiger hier ein. Es sind kostbare Augenblicke, in denen wir uns ganz mit uns, mit der Welt ringsum und mit Gott in Einklang befinden. Meist hängt die Schale mit den Anforderungen weit, weit nach unten. Und die Schale mit dem, was wir geleistet haben oder leisten können, erscheint uns viel zu leicht. Ein Gleichgewicht will sich nicht einstellen.
Extrem weit von der Mitte schlägt der Zeiger aus, wenn Schuld uns quält, wenn Krisen zu durchleben sind, wenn Leid uns bedrängt. Händeringend suchen wir dann nach allem, was uns helfen könnte, damit das innere Gleichgewicht sich wieder einstellt. Und wo das nicht gelingt, da packt uns manchmal die Verzweiflung.
Mark Twain erzählt davon, wie er als Kind einmal nächtelang nicht schlafen konnte, weil er sich selbst am Tod eines stadtbekannten Trunkenboldes schuldig fühlte. Er hatte jenem Mann am Nachmittag ein Päckchen Streichhölzer geschenkt. Damit wollte der Betrunkene seine Pfeife anzünden. In der folgenden Nacht ging das Gebäude mit der Ausnüchterungszelle, in die man den Trunkenbold eingesperrt hatte, in Flammen auf und der arme Mann verbrannte.
Twain schreibt: „Ich sah das Gesicht dieses Mannes jede Nacht vor mir, noch lange Zeit nach dem Ereignis. Und ich war sicher, dass ich die Schuld trug an seinem Tod, weil ich ihm ja die Streichhölzer gegeben hatte, offenbar nur, damit er sich damit verbrennen konnte. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich gehängt werden würde, wenn meine Verbindung mit seiner Tragödie herausgefunden würde. Die Ereignisse und die Eindrücke jener Zeit haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt...
Wenn irgend jemand über diese grausame Geschichte sprach, war ich sofort ganz Ohr und gespannt darauf zu hören, was gesagt werden würde, denn ich lebte in der andauernden Erwartung, dass ein Verdacht auf mich fallen könnte. Ja, so genau und empfindsam war die Wahrnehmungsfähigkeit meines schlechten Gewissens, dass ich von harmlosen Bemerkungen, Blicken, Gesten, Augenleuchten mit einer solchen Panik und Furcht erfüllt wurde, dass ich auf der Stelle wegrannte... Für einen Jungen von zehn Jahren trug ich eine ganz gewaltige Last.“ (Mark Twain, Life on the Mississippi, 317f; Übersetzung vom Predigtverfasser)
Wo solche oder andere Gedanken unser Gewissen gefangen nehmen, da ist es gar nicht leicht, zum Einklang mit uns selbst, mit der Welt ringsum, mit Gott zurückzufinden. Ja, es kann sogar geschehen, dass die Verzweiflung wächst, dass der Abgrund noch bedrohlicher wird, wenn in einer solchen Situation Grundfragen des Lebens innerlich in uns erwachen: Was hat mein Leben noch für einen Sinn? Was hat das Leben überhaupt für einen Sinn? Wer bin ich armer Mensch in der unendlichen Weite des Weltalls? Was soll aller Einsatz für andere, die vielfältigen Mühen an jedem Tag, wenn am Ende mein Leben doch verlöscht wie eine Kerze im Wind? Lohnt sich dieses manchmal so schöne und dann wieder so bittere Erdenleben überhaupt?
Solche Fragen machen die eine Waagschale immer schwerer und die andere federleicht. Wir geraten vor dem Leben und mehr wohl noch vor Gott aus dem Gleichgewicht. Der Erdboden scheint uns nicht länger zu tragen und wir stürzen gedanklich ins Bodenlose.
Was kann uns helfen, wieder Grund unter die Füße zu bekommen, die Mitte wiederzufinden?
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Glauben leben.’“
Paulus erinnert mit diesen Worten an das Evangelium, an den Gott Jesu Christi, von dem her uns Kraft zufließt, die uns immer wieder ins Leben zurückträgt. Das hatte der Apostel selbst erlebt und erfahren. Er war ja einer, dessen exakt am Gesetz austariertes Leben in eine gewaltige Krise geriet.
Er tritt uns zunächst entgegen als ein unglaublich starker Mensch. Stark in seinem Glauben, stark in seinem Auftreten, stark in seiner Wirkung auf andere: Ein untadeliger Pharisäer, aus bestem Hause sozusagen, gut ausgebildet und in der Schrift bewandert, voller Eifer für die von den Vätern überlieferte Religion. Er verfolgt mit großer Energie die jungen christlichen Gemeinden, nimmt im Auftrag der staatlichen Behörden Menschen gefangen, die anders über Gott denken als die Mehrheit im Land und verbreitet Angst und Schrecken.
Doch dieser so glänzend dastehende junge Mann erfährt im Anblick des Gekreuzigten, auf wie tönernen Füßen seine ganze bisherig Stärke steht. Was ihn bisher stark gemacht hat, erscheint ihm mit einem Mal wie Dreck: Wertlos, nutzlos, ohne rechten Sinn. Alle Sicherungen seines bisherigen Lebens durchschaut er in ihrer Zerbrechlichkeit. Er stellt sich der ganz und gar nicht bequemen Einsicht, dass der Mensch sich das eigene Leben weder schenken noch es sich erhalten kann; dass er vielmehr, auf sich selbst zurückgeworfen, unendlich schwach ist.
Paulus erkennt, wie sein Leben im letzten Grund abhängt von einem ganz anderen, von Gott, dem Schöpfer, Erhalter und Erlöser alles Lebendigen. Paulus erkennt am Bild des Gekreuzigten, wie hilflos und schwach der Mensch werden kann und eine wie große Gnade es ist, trotz und in solcher Schwachheit leben zu können und leben zu dürfen.
So ist ihm in der Erkenntnis der eigenen Schwachheit das Geheimnis der Kraft Christi aufgegangen: Das Leben ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Wunder, ein großartiges Geschenk, dass ich leben darf, dass ich Kinder oder Enkel habe oder Menschen, die mir nahe stehen und mich auf meinem Lebensweg begleiten. Das Leben ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist eine großartige Gabe und eine lohnende Aufgabe zugleich. Es hat einen Anfang und ein Ziel in Gott. Er unterfängt es mit seinen liebenden Armen auch in Stunden der eigenen äußeren oder inneren Not. Er erlöst uns am Ende aus allem, was uns zu schaffen macht.
In der Begegnung mit dem Gekreuzigten wurde Paulus klar: Mein ganzes Leben, alles, was ich habe und bin, kommt mir von Gott her zu. Er hat mir mein Leben gegeben, er hat meine Füße auf weiten Raum gestellt, er schenkt mir den Atem, der mich von einem Augenblick zum nächsten leben lässt. Wo ich mich im letzten Grund meines Daseins auf ihn verlasse, mich ihm überlasse in meinen eigenen Kreuzeserfahrungen, da schenkt er mir das Leben neu, da pendelt die Waage meines Lebens zurück in die Mitte. Das Vertrauen auf Gott gibt sozusagen der anderen Waagschale ihr Gewicht zurück, reißt uns Herz und Gemüt aus den vielfältigen Schieflagen, in die wir immer wieder geraten.
Einer, dem diese Erkenntnis an unserm Predigtwort aus dem Römerbrief neu und befreiend aufgegangen ist, war Martin Luther. Er erzählt über seine Entdeckung des Evangeliums:
„Gottes Gerechtigkeit - wie habe ich dieses Wort gehasst! Lehrte man uns doch von alters her, der gerechte Gott sei ein Richter, der die Sünder bestraft und die verurteilt, die das Recht missachten.
Als Mönch konnte mir allerdings keiner etwas vorwerfen. Vor Gott aber stand ich als Sünder da und spürte sehr mein unruhiges Gewissen. Ich konnte mich nie ganz darauf verlassen, dass Gottes Ansprüche abgegolten seien, auch wenn ich mir noch so sehr Mühe gab, ihn zufrieden zu stellen. Ich konnte Gott nicht lieben; ich hasste ihn mit mächtigem Murren. Ich hasste den Gott, der gerecht handelt und die straft, die sich gegen ihn vergehen. So marterte mich mein wütendes und verwirrtes Gewissen.
Schließlich erbarmte sich Gott meiner, als ich Tag und Nacht an diesem Text arbeitete: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Glauben leben.’“ Da begann ich zu begreifen, dass dies der Sinn des Satzes sei: Gott verschenkt seine Gerechtigkeit, und von diesem Geschenk kann der Mensch leben; Gott spricht den Menschen gerecht. Barmherzig ist also Gott: Er stellt sich auf die Seite des Menschen und schafft dem Menschen so Lebensraum.
Dieses Urteil Gottes annehmen heißt glauben... Da fühlte ich mich neu geboren; ich war durch die geöffneten Tore ins Paradies eingetreten. Jetzt zeigte mir plötzlich die ganze Bibel ein neues Gesicht. Ich durchlief die Schriften, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Wörtern einen entsprechenden Sinn; so bedeutet das Werk Gottes das Werk, das er in uns wirkt, Kraft Gottes die Kraft, durch die er uns kräftig macht, Weisheit Gottes die Weisheit, durch die er uns weise macht. Ebenso ist es mit Stärke Gottes, Heil Gottes und Herrlichkeit Gottes.
In dem gleichen Maße, in dem ich vorher das Wort Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, erhob ich mir nunmehr mit Liebe dieses allersüßeste Wort. So wurde mir diese Stelle des Paulus wahrlich zur Pforte des Paradieses.“ (Martin Luther, Vorrede zu Band I der Opera Latina, zitiert in Anlehnung an: R. Marquard [Hg.], Reformationstag - Evangelisch und Ökumenisch, Göttingen 1997, 187f).
Mit dieser Erkenntnis, mühsam errungen im Studium der Schrift, begann sich bei Martin Luther die Waagschale der Verzweiflung zu heben, fand seine bedrängte Seele das innere Gleichgewicht zurück, vermochte er im Einklang mit sich selbst und mit Gott weiterzuleben.
Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es mit Ihrer Lebenswaage heute morgen (abend) aussieht. Ob Sie sich nach einer guten Woche im Einklang mit sich selbst, mit der kleinen und großen Welt ringsum, mit Gott befinden. Oder ob Sie eher unzufrieden sind mit sich, mit anderen Menschen oder Gott, ob Sie Gewissensnöte und andere bedrängende Gefühle in sich verspüren. Ich weiß nicht , wo Sie hindurchmüssen in der kommenden Woche.
Aber ich bin gewiss: Der Gott Jesu Christi wird Sie und mich auch da hindurchtragen, wird uns neue Lebenschancen eröffnen, auch da, wo wir im Moment vielleicht noch keine sehen. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Glauben leben.’“ Amen.

Verfasser: Jürgen Sauer (1998)

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