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Die Frage nach dem ewigen Leben - Der barmherzige Samariter

von Felipe Blanco Wißmann (64354 Reinheim)

Predigtdatum : 11.09.2022
Lesereihe : IV
Predigttag im Kirchenjahr : 13. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : Lukas 10,25-37
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Wochenspruch: Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40b)

Psalm: 112

Lesungen

Reihe I: Markus 3,31-35
Reihe II: Apostelgeschichte 6,1-7
Reihe III: 1. Mose 4,1-16a
Reihe IV: Lukas 10,25-37
Reihe V: 1. Johannes 4,7-12
Reihe VI: 3. Mose 19,1-3.13-18.33-34

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 322 Nun danket all und bringet Ehr
Wochenlied: EG 632 Wenn das Brot, das wir teilen
Predigtlied: EG 251 Herz und Herz vereint zusammen
Schlusslied: EG 432 Gott gab uns Atem

Predigttext: Lukas 10,25-37

25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Hinführung

Die Deutung des Predigttextes als moralische Beispielgeschichte hat eine lange Tradition. Eine Gefahr sehe ich aber dann darin, dass auf die Figuren des Priesters und des Leviten (und auch auf den Schriftgelehrten aus der Rahmenhandlung) allerhand eigene Vorurteile projiziert werden können – z.B. antiklerikale oder antijüdische Vorurteile. Die jüdische Bibelwissenschaftlerin Amy-Jill Levine hat überzeugend gegen solche Deutungen argumentiert (Short Stories by Jesus. The Enigmatic Parables of a Controversial Rabbi, New York 2014, 77ff). Ich versuche mich in der Predigt an einer Rehabilitierung des Priesters und des Leviten. Das läuft darauf hinaus, im Predigttext nicht zuerst eine Geschichte über menschliches Verhalten, sondern über das Reich Gottes zu sehen. Am Ende der Predigt dürfen und sollen Fragen offen bleiben.

Hilfreich war mir eine Predigtmeditation von Rainer Stuhlmann (Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe 4. Berlin 2021, 349-354). Der Predigteinstieg greift eine Idee von Wolfgang Seehaber auf (Konfirmand mit Verstand, Hamburg 1973, 25f). Die im Abschnitt IV. erwähnten Überlegungen von David Lauer sind online zu finden unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/umgang-mit-dem-krieg-darf-man-nicht-wissen-wollen-100.html (abgerufen am 18.03.2022).

Predigt

Liebe Gemeinde!

I.
Eine kleine Fantasie möchte ich mit Ihnen teilen – eine Idee, wie die Geschichte vom barmherzigen Samariter weitergehen könnte:

Der Samariter ist von der Herberge nach Hause gelaufen, einen Tag, nachdem er den Verletzten gefunden hatte. Am späten Vormittag kommt er endlich in seinem Dorf an. Vor seinem Haus steht seine Ehefrau, die nicht wusste, wo er abgeblieben war. Ihr Blick verrät eine schlaflose, sorgenvolle Nacht - aber auch Erleichterung, dass ihr Mann gesund zurück ist. Kurz erzählt der Samariter, was er erlebt hat. Aber auf ihr Verständnis trifft er nicht.

„Wie schön, dass du jemandem helfen konntest“, sagt die Frau des Samariters. „Aber während du weg warst, sind uns drei Rinder entlaufen. Unser Sohn währe beinahe mit den römischen Soldaten aneinander geraten. Außerdem hast du unseren Hochzeitstag verpasst. Und weißt du nicht, wie gefährlich der Weg ist? Wir brauchen dich hier - bei uns, zuhause. Du hast Verpflichtungen und Verantwortung. Bitte verhalte dich auch so.“

Ein ungewohnter Blick auf die Geschichte, liebe Gemeinde. Vielleicht ist der Samariter nicht besonders begeistert von diesem Empfang. Aber, vielleicht spürt er auch: Das ist etwas Wahres dran, an den Worten seiner Frau. Ganz so einfach ist das eben nicht, mit der Nächstenliebe.

Ich will heute in der Predigt den ungewöhnlichen Blick auf die Geschichte vom barmherzigen Samariter aufnehmen. Und dabei eine Art Ehrenrettung der beiden Männer versuchen, die am Verletzen vorbeigehen.
Das soll in drei Schritten geschehen.
Erstens: Der Priester und der Levit, das sind eigentlich Menschen wie du und ich.
Zweitens: Für die meisten Menschen sind wir auch mehr wie der Priester und der Levit, und weniger wie der barmherzige Samariter.
Und drittens: Manchmal lässt sich die Welt gar nicht mehr anders ertragen als durch das Wegschauen von den Grausamkeiten.

II.
Liebe Gemeinde, zunächst zu meinem ersten Punkt: Die beiden Männer aus der Geschichte sind Menschen wie du und ich.
Zwei religiöse Amtsträger kommen vor dem Samariter noch in der Geschichte vor: Der Priester und der Levit laufen auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho. Und beide laufen am Verletzten vorbei. Warum tun sie das? Sind die beiden Scheinheilige, die die Moral der Religion einfach missachten? Oder verhalten die beiden sich – im Gegenteil – besonders religiös, wenn auch auf für uns unverständliche Weise, etwa weil sie sich nicht verunreinigen dürfen im Kontakt mit einem mutmaßlich Toten?

Um es kurz zu machen: Für beide Sichtweisen gibt es in der Geschichte und auch überhaupt in der jüdischen Tradition gar keine Hinweise. Was immer die beiden für religiöse Pflichten in Jerusalem hatten, sie haben diese Pflichten schon hinter sich gebracht. Schließlich sind die beiden auf dem Rückweg von Jerusalem nach Jericho.

Zwei Männer laufen am Verletzten vorbei. Aber ich glaube: Als scheinheilig oder religiös fehlgeleitet will Jesus sie in seiner Geschichte nicht beschreiben. Sie verhalten sich einfach sehr normal. Sie sind Menschen wie du und ich. Sie wissen: Auf dieser kurvenreichen, steilen Strecke von Jerusalem nach Jericho, da sind Überfälle und Hinterhalte an der Tagesordnung. Also geben sie ihrem Tier die Sporen. Natürlich sind die beiden keine Helden. Aber, liebe Gemeinde, wie sagt es die Polizei immer? Wenn man sieht, dass jemand angegriffen wird, oder sonst in einer schlimmen Situation ist – dann soll man möglichst Hilfe holen. Aber: nicht den Helden spielen! Nicht sich selbst in Gefahr bringen!

III.
Liebe Gemeinde! Zu meinem zweiten Punkt:

Natürlich halten wir es lieber mit dem Helden der Geschichte, mit dem Samariter. Wir wollen lieber so sein wie er. Nur, wir müssen ehrlich sein: Für die meisten Menschen sind wir in den meisten Fällen eher wie der Priester und Levit. Nächstenliebe kann ich nicht jedem Menschen zukommen lassen, das geht gar nicht. Denn es gibt zu viele „Nächste“.

Wie sagte die Frau des Samariters zu ihm: Du hast Verpflichtungen und Verantwortung. Nämlich zum Beispiel für deine Familie.

Nächstenliebe bedeutet, wie jede Liebe, auch immer eine Wahl. Auf jeden Menschen, dem ich helfen kann, kommen wohl Abertausende, denen ich nicht helfe.

Die Kehrseite von liebevoller Zuwendung zu einer Person ist manches Mal die Vernachlässigung eines anderen Menschen.

IV.
Liebe Gemeinde, zu meinem dritten Punkt: Manchmal ertragen wir die Welt nur, wenn wir auch wegsehen von der Not und der Gewalt.

Oft kommen wir ganz gut damit zurecht, dass wir nicht jedem helfen können. So ist eben im Alltag. Aber manchmal kann uns genau das auch niederdrücken. Wenn das Leid, wenn die Gewalt einfach zu viel wird. Wenn alles auf uns einstürzt. Denken wir an die letzten Monate zurück. Die Corona-Krise. Die Flutkatastrophe. Und dann auch noch der Krieg in der Ukraine.

Liebe Gemeinde! Ich habe mit einigen Menschen in den letzten Monaten geredet, die wollen abends gar nicht mehr die Nachrichten schauen. Weil die Bilder einfach so grausam sind. Weil sie einem nahe gehen, weil sie den Schlaf rauben.

Aber ist das eigentlich erlaubt? Dürfen wir die Realität ausblenden? Ist es zum Beispiel in Ordnung, mal ein Wochenende ins Grüne zu fahren, es sich dort gut gehen zu lassen und einmal gar keine Nachrichten mehr an sich heranzulassen? Erst einmal gar nicht mehr wissen zu wollen, wie es in der Welt aussieht?

Der Philosoph David Lauer hat dazu im März diesen Jahres Mal einige Gedanken aufgeschrieben. Er meint: Es kommt sehr darauf an, warum ich etwas nicht wissen will. Geht es mir darum, neue Kraft zu tanken, um dann wieder protestieren zu können oder anderen Menschen helfen zu können? Oder geht es mir darum, dass ich das Leid der Anderen dauerhaft ausblende?

Die Antwort darauf erhalte ich nicht durch weitere Grübelei. Sondern durch meine Taten, durch mein Engagement.

V.
Liebe Gemeinde! Soweit meine Ehrenrettung von Priester und Levit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Aber was soll denn jetzt das Fazit aus all dem sein, welchen Schluss kann man ziehen? Es kann ja keine Lösung sein, wenn ich niemandem mehr helfe, oder mir bei aller Not in dieser Welt einfach nur sage: Man kann ja ohnehin nichts verändern.

Ich möchte am Ende noch einmal auf die Ehefrau des Samariters schauen. Ich stelle mir vor: Am Abend denkt sie noch einmal über das Geschehen nach.

Sie versteht ihren Mann ja. Man muss helfen, wenn jemand in Not ist. Aber er muss vorsichtiger sein. So schnell könnten auch sie selbst in Gefahr kommen. Sie will in dieser gefährlichen Welt nicht noch einmal eine Nacht verbringen, ohne zu wissen, wo er ist.

Aber - was ist das eigentlich für eine Welt, in der Männer, Frauen, Kinder, in der ganze Völker unter die Räuber fallen können? Sie denkt an die vielen Geschichten über Gott, die sie kennt. Geschichten über den barmherzigen Gott Israels, den das Leid von Menschen wirklich anrührt. Gott sieht das Leid der Magd Hagar in der Wüste. Er hört das Schreien der Israeliten in Ägypten. Gott ist „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ [Ex 34,6].

Diese Worte aus der Bibel geben ihr Kraft. Und sie betet. Sie betet zu Gott, für eine Welt, in der niemand mehr leidend am Wegesrand liegen bleibt. Eine Welt, in der auch niemand mehr den Helden spielen muss. Bis es soweit ist, bleibt alles, was wir Gutes tun, wohl nur bruchstückhaft. Aber wenigstens das sollen wir auch tun. Damit der dunkle Alltag ein wenig heller wird, wenn auch das große Licht noch auf sich warten lässt.

Amen.

Verfasser: Pfarrer Dr. Felipe Blanco Wißmann, Kirchstraße 65, 64354 Reinheim


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