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Die Kraft, ein anderer Mensch zu sein

von Anne Schumann (Ev. Auferstehungsgemeinde Mainz)

Predigtdatum : 10.11.2019
Lesereihe : I
Predigttag im Kirchenjahr : Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Textstelle : Lukas 6,27-38
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Wochenspruch: Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! (2. Korinther 6,2)

Psalm: 85,9-14

Predigtreihen

Reihe I: Lukas 6,27-38
Reihe II: 1. Thessalonicher 5,1-6(7-11)
Reihe III: Psalm 85,1-14
Reihe IV: Lukas 17,20-24(25-30)
Reihe V: Römer 8,18-25
Reihe VI: Micha 4,1-5(7b)

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 165, 1,7,8 Gott ist gegenwärtig
Wochenlied: EG 152 Wir warten dein, o Gottes Sohn
Predigtlied: EG 632 Wenn das Brot, das wir teilen
Schlusslied: EG 562 Segne und behüte uns

Predigttext Lukas 6,27-38

Von der Feindesliebe
27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen;
28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.

29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht.
30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.
31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!
32 Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen.
33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch.
34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen.
35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Vom Umgang mit dem Nächsten
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

Predigt

Kennen Sie Bilbo Beutlin? Bilbo Beutlin ist der Held des Buches „Der Hobbit“ von Tolkien, das mittlerweile auch als Dreiteiler verfilmt wurde mit Martin Freeman in der Titelrolle. Hobbits sind kleine Wesen mit haarigen, großen Füßen. Sie leben im Auenland in gemütlich eingerichteten Wohnhöhlen, essen viel und häufig und sehr gut, sind ausgesprochen konservativ und verabscheuen generell jede Art von Abenteuer. Und zu so einem Hobbit kommt eines Tages der große Zauberer Gandalf mit 13 Zwergen im Schlepptau, die ihm die Speisekammer leer essen und sich generell benehmen, als wären sie hier daheim. Und obendrein behauptet Gandalf, Bilbo Beutlin sei ein Meisterdieb, und er solle nun den Zwergen helfen, ihren Schatz zurückzuerobern, den ein Drache geraubt hat. Der arme Hobbit fühlt sich vollkommen überfahren, er will in seinem kuscheligen Zuhause bleiben und ist ganz bestimmt kein Meisterdieb, er schimpft, er protestiert, er glaubt sowieso nicht an Drachen – aber er macht sich schließlich doch auf den Weg, irgendetwas lockt ihn hinaus aus seiner kleinen, geordneten Welt. Es ist ein wunderbares Buch – die Filme hab ich nicht gesehen, dazu kann ich nichts sagen – und die Geschichte beginnt interessanterweise im Herbst. Ich glaube, das ist kein Zufall, denn um diese Jahreszeit packt manche Leute so eine gewisse Wehmut. Der Sommer ist endgültig vorbei – war es das jetzt mit diesem Jahr? Was hab ich vielleicht verpasst, versäumt, welche Gelegenheiten nicht genutzt? Der Herbst bringt für manche so eine unbestimmte Sehnsucht, dass das Leben vielleicht doch noch ganz anders sein könnte, dass da noch mehr drin ist.

Genau darum geht es in unserem Bibeltext heute, den wir vorhin gehört haben: die Sehnsucht, dass das Leben vielleicht ganz anders sein könnte, und gleichzeitig die Zumutung, auch tatsächlich anders zu leben. Jesus fordert uns auf, nicht normal zu sein, und er behauptet, dass wir das können. Liebt eure Feinde – richtet nicht – vergebt – bittet für die, die euch beleidigen – da muss man schon schlucken. Das ist so radikal, das schaffen vielleicht die großen Abenteurer Gottes, Menschen wie Martin Luther King oder Dietrich Bonhoeffer oder Mutter Teresa. Aber wir? Wie lange kauen wir daran, dass uns jemand nicht gegrüßt oder uns eine unfreundliche Antwort gegeben hat? Dass ein verliehener Gegenstand beschädigt zurückgegeben wurde? Und wenn wir so auf Kleinigkeiten reagieren, dann sollen wir auf einmal unsere Feinde lieben? Wenn ich das lese, komme ich mir vor wie Bilbo Beutlin, der plötzlich zum Meisterdieb erklärt wird und gar nichts von seinen Fähigkeiten weiß.

Einfach nur nett zu sein findet Jesus normal. „Wenn ihr liebt, die euch lieben, wenn ihr euren Wohltätern wohltut, wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, was tut ihr dann Besonderes?“ Das tun die Sünder doch auch, sagt Jesus, das heißt: Das tun doch auch die Menschen, die Gott nicht kennen. Ganz klar: Anstand und Freundlichkeit gibt es überall, in jeder Religion und auch bei Menschen, die gar nicht religiös sind. Wenn wir die ethischen Maßstäbe in den verschiedenen Religionen und Philosophien vergleicht, dann sind sie im Prinzip identisch. Es gibt sicherlich kleine Unterschiede, aber die großen Linien sind dieselben. Die sogenannte Goldene Regel gibt es in abgewandelter Form überall. Jesus sagt: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch.“ Der chinesische Philosoph Konfuzius sagt: „Was du selbst nicht wünschst, das tu auch nicht anderen Menschen an.“ Von Mohammed ist der Satz überliefert: „Keiner von euch ist wahrhaft gläubig, solange ihr nicht anderen wünscht, was ihr für euch selbst begehrt.“ Der berühmte jüdische Gelehrte Rabbi Hillel sagt: „Tu nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.“ Diese Liste ließe sich mit Beispielen aus allen Kulturen fortsetzen, da haben wir als Christen niemandem etwas voraus. Wenn wir nette und anständige Menschen sind, dann sind wir weltweit in guter Gesellschaft.

Die Herausforderung, mit der Jesus uns konfrontiert, ist aber viel größer: „Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.“ Das ist weder nett noch anständig, das ist eigentlich Wahnsinn. Der völlige Verzicht darauf, mich und meinen Besitz zu verteidigen – wo soll das denn hinführen? Und die, die mir Böses wollen und Böses tun, die soll ich lieben, für sie bitten und sie segnen? Das ist doch widersinnig. Warum stellt Jesus solche Ansprüche?

Das eine große Thema der Bibel ist die Freiheit. Dieses Thema zieht sich durch von der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei bis zur Verheißung darauf, dass Gott eine neue Welt schaffen wird, in der wir von Leid und Schmerz und Tod befreit sind. Menschen frei zu machen war das Lebensthema Jesu. Er hat Menschen von Krankheiten befreit, er hat sie aus sozialer Isolation befreit und er ist gestorben, um uns alle von der Herrschaft der Sünde frei zu machen. Und genau in diesen Zusammenhang gehört auch das Gebot der Feindesliebe. Es geht dabei um unsere Freiheit. Wovon mache ich mein Verhalten abhängig? Wer entscheidet, wie ich lebe und denke? Entscheidet das mein Feind? Er behandelt mich so, also behandle ich ihn auch so. Er hasst mich, also hasse ich ihn auch. Damit unterwerfe ich mich seiner Logik, seinem Denken und Handeln, seinen Maßstäben.

Der französische Journalist Antoine Leiris hat beim Terroranschlag auf das Bataclan in Paris im November 2015 seine Frau verloren. Er schrieb danach an die Attentäter gerichtet – ich lese in Auszügen: „Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die den Körper meiner Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Zugegeben, der Kummer zerreißt mich, diesen kleinen Sieg habt ihr errungen, aber er wird von kurzer Dauer sein. Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt. Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade aus seinem Mittagsschlaf aufgewacht ist. Er ist gerade mal siebzehn Monate alt; er wird seinen Nachmittagssnack essen wie jeden Tag, dann werden wir wie jeden Tag zusammen spielen, und sein ganzes Leben lang wird dieser kleine Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass bekommt ihr nicht.“

Antoine Leiris hat in seinem großen Leid verstanden, dass Hass abhängig macht von dem, den ich hasse. Seine Geschichte ist sicherlich ein sehr beeindruckendes und auch sehr krasses Beispiel. Aber auch in unserem Alltag gilt: Unversöhnlichkeit macht unfrei. Deutlich wird das auch in unserer Sprache: Wenn ich nachtragend bin, wer trägt dann? Ich trage nach, ich schleppe mich damit ab. Ich bin innerlich gefesselt an das, was mir angetan wurde, meine Gedanken kreisen immer wieder darum. Und Jesus hat einen sehr klaren Blick dafür, dass finanzielle Ungerechtigkeit uns besonders gefährlich werden kann. An dieser Stelle sind wir offenbar besonders empfindlich. Jesus sagt: Macht euch nicht abhängig von eurem Besitz, wenn euch jemand etwas wegnehmen will, dann legt doch lieber noch was drauf, als dass ihr euch zu sehr an die Dinge hängt. Das Klammern an den Besitz macht euch doch unfrei. Wieviele Familien haben sich schon um eine Erbschaft zerstritten, manchmal für Generationen! Diese ewige Angst, zu kurz zu kommen, kann ein ganzes Leben kaputtmachen. Wenn Jesus also von Feindesliebe redet und davon, zu geben und zu vergeben, dann geht es ihm nicht zuerst um die anderen, sondern um uns und unsere Freiheit.

Damit ist dann auch klar, dass Jesus uns nicht zu Fußabtretern machen will. Ein Mensch, der seine Feinde lieben kann, der sich nicht von seinem Besitz abhängig macht, der bewahrt seine eigene Würde, der lässt sich nicht dazu herab, blindlings zurückzuschlagen. Aber der bleibt auch nicht in zerstörerischen Abhängigkeitsverhältnissen, sondern setzt ihnen ein anderes Leben entgegen. Jesus macht Menschen nicht klein, sondern groß. Er fordert uns nicht auf, uns zu ducken und klein beizugeben, sondern aktiv und positiv zu gestalten, zu lieben, barmherzig zu sein, zu teilen. Aber woher bekomme ich die Kraft dazu?

Diese Kraft wächst aus der Beziehung zu Gott. „Euer Vater ist barmherzig“, sagt Jesus. Unsere Liebe wird immer hinter der Liebe Gottes zurückbleiben, unsere Barmherzigkeit wird immer hinter der Barmherzigkeit Gottes zurückbleiben. Aber wir sind Kinder Gottes, zu Gottes Ebenbild geschaffen, und wenn ich Gottes Liebe und Barmherzigkeit, Gottes Großzügigkeit zum Maßstab nehme, dann verändert sich meine innere Einstellung, dann weitet sich mein Herz, dann wacht in mir die Sehnsucht auf, Gott ein bisschen ähnlicher zu werden in meinem Denken und Handeln. Und das kann mit einem ganz kleinen Schritt beginnen. Wenn ich das Vaterunser bete und an die Stelle komme: „Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unsren Schuldigern“, dann kann ich das mit dem Gedanken an einen ganz bestimmten Menschen tun, der mir Unrecht getan hat. Nicht nur einmal, sondern wieder und wieder und wieder, bis ich spüre, dass diese Beziehung nicht mehr so ist, wie sie immer war, nicht mehr so vorhersehbar, nicht mehr so bitter, nicht mehr so entscheidend. Das ist bestimmt kein Rezept für alle Lebenslagen und jeden Konflikt, aber es kann ein Weg oder zumindest ein erster Schritt sein.  

„Euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein“, sagt Jesus. Es ist ein Privileg, so leben zu dürfen, befreit von der Angst, zu kurz zu kommen, getragen von der Barmherzigkeit Gottes und fähig, anderen offen und großzügig gegenüberzutreten. Aber das ist kein Privileg, das nur einigen wenigen besonders Heiligen vorbehalten ist. Wir sind Kinder Gottes, wir haben seinen Heiligen Geist, mehr braucht es nicht. Der Zauberer Gandalf sagt über den kleinen Hobbit: „Ich habe Mister Beutlin ausgewählt, und das sollte euch genügen. Wenn ich sage, er ist ein Meisterdieb, dann ist er ein Meisterdieb oder wird einer sein, wenn die Zeit dazu kommt. Es steckt eine Menge mehr in ihm, als er meint, und eine Menge mehr, als er selbst es ahnt.“

Verfasserin: Anne Schumann, Mainz