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Gott und sein Volk

von Andreas Löw (70825 Korntal-Münchingen)

Predigtdatum : 05.08.2018
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 10. Sonntag nach Trinitatis - Israelsonntag: Kirche und Israel
Textstelle : Jesaja 62,6-12
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Wochenspruch: "Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!" (Psalm 33, 12)

Psalm: 106, (4) 5a. 6. 47a (48a)

Lesungen

Reihe I: Lukas 19, 41 - 48 oder Markus 12, 28  - 34
Reihe II: Römer 9, 1 -8. 14 - 16
Reihe III: 2. Mose 19, 1 - 6
Reihe IV: Jesaja 62, 6 - 12
Reihe V: Johannes 4, 19 - 26
Reihe VI: Römer 11, 25 - 32

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 326 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut
Wochenlied: EG 290 Nun danket Gott, erhebt und preiset
Predigtlied: EG 613 Freunde, dass der Mandelzweig
Schlusslied: EG 421 Verleih uns Frieden

Predigttext Römer 9, 1 - 5; 10, 1 – 4

Die bleibende Erwählung Israels

1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist,

2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.

3 Denn ich wünschte, selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch.

4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,

5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

Christus hat die Herrschaft des Gesetzes beendet

1 Brüder und Schwestern, meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden.

2 Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht.

3 Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.

4 Denn Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.

Liebe Gemeinde,

eine jüdische Weisheit sagt: "Das Vergessen wollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". In diesem Satz sind wesentliche Einsichten des jüdischen und des christlichen Glaubens enthalten. Denn im Judentum und Christentum spielt die Erinnerung eine wesentliche Rolle. Seit Jahrtausenden erinnern sich Juden am Passahfest, dass Gott ihre Mütter und Väter aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Und aus dieser Erinnerung schöpfen Juden immer wieder Hoffnung und Mut auf Gottes befreiendes Eingreifen auch in ihrer jeweiligen Gegenwart.

Seit fast 2000 Jahren erinnern wir Christen uns daran, dass der lebendige Gott sich an Ostern zu Jesus Christus bekannt hat. Er hat ihn aus dem Tod heraus zu neuem Leben erweckt. Und jedes Jahr schöpfen wir aus dieser Erinnerung Hoffnung und Trost, dass Gott stärker ist als alle lebensvernichtenden Kräfte, ja stärker sogar als der Tod selbst.

Weil Erlösung mit Erinnerung zu tun hat, deshalb können sich Juden und Christen auch an dunkle Seiten ihrer Vergangenheit erinnern, an Leid, Unrecht und Schuld. Gerade bei menschlichem Fehlverhalten kennt die Bibel keine Erinnerungslücken. Denn‚ das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

Dieser Umgang mit der Vergangenheit prägt das Judentum bis in die Gegenwart. Bis heute erinnern sich die Juden jedes Jahr an einem Tag im Sommer, am 9. Aw, an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch römische Soldaten im Jahre 70 n. Christus. Ja, dieser 9. Aw hat sich in Israel zu einem Tag entwickelt, an dem gemeinsam aller Katastrophen gedacht wird, die sich in der jüdischen Geschichte ereignet haben, nicht zuletzt der Schoa, der Vernichtung jüdischen Lebens in Europa durch die nationalsozialistische Mordmaschinerie. Es ist ein Tag der Klage und der Buße. Am 9. Aw wird gefastet. Aber, weil man weiß, dass Erinnern das Geheimnis der Erlösung ist, durchzieht die Synagogengottesdienste am 9. Aw auch die Gewissheit, dass Gott sein Volk nicht verlassen hat. Die Gebete am 9. Aw trösten. Die Botschaft an diesem Tag im Gottesdienst lautet: Das Volk Israel kann sich auf Gottes Treue verlassen.

Auch die christliche Kirche hat seit alters her an einem Sonntag im Sommer an die Zerstörung des jüdischen Tempels gedacht. Lange Zeit wurde im Christentum die Tempelzerstörung als gerechte göttliche Strafe für die Sünden „der Juden“ angesehen. Oft wurde sogar gepredigt, Gott habe die Zerstörung Jerusalems durch die Römer deshalb zugelassen, weil die Juden in Jesus nicht den Messias erkannt haben. Und manche Prediger gingen so weit, die Tempelzerstörung als das Ende des jüdischen Heils zu interpretieren, und zu behaupten, an die Stelle des ungläubig gewordenen, von Gott verlassenen Israels sei nun die Kirche als „neues Israel“ getreten. Erst das Entsetzen über die Judenvernichtung während des Nationalsozialismus und die Entdeckung, dass auch der kirchliche Antisemitismus seinen Anteil an diesem schrecklichen Verbrechen hat, haben zu einem langsamen Umdenken geführt. Seit seinem Anfang in den 60er Jahren hat sich der Charakter des Sonntags allmählich verändert. Prediger nehmen dieses einschneidende Ereignis der jüdischen Geschichte nun zum Anlass, die christliche Verbundenheit mit dem Judentum zum Ausdruck zu bringen. In diesem Zusammenhang wurde auch der Bibelabschnitt für den heutigen Sonntag neu verstanden. In ihm betont Paulus: Israel ist und bleibt Gottes auserwähltes Volk. Er konkretisiert Israels Erwählung, indem er acht besondere Auszeichnungen Israels aufzählt. Paulus schreibt:

„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Denn ich wünschte, selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch. Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

Brüder und Schwestern, meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.“

Paulus redet hier nicht als sachlicher, unbeteiligter Beobachter. Was er sieht und erlebt, und wovon er reden muss, das nimmt ihn selbst innerlich sehr mit Er geht an den Rand der Selbstverfluchung, um deutlich zu machen, wie stark er darunter leidet, dass die Juden in Jesus nicht den Messias erkennen. Paulus würde Unendliches dafür geben, wenn er das jüdische „Nein“ zu Christus überwinden könnte. Aber obgleich Paulus unter diesem jüdischen „Nein“ leidet, warnt er die Christen in Rom ausdrücklich vor Hochmut und Verachtung gegenüber dem jüdischen Volk. Paulus betont vielmehr die bleibende Erwählung Israels, obwohl sie in Jesus Christus nicht den Messias erkennen. Achtmal betont er, was Israel eigen ist und worin sich zeigt, dass Gott zu seinem Volk hält:

Israel ist Gottes erstgeborener Sohn.

Gott ist in seiner Herrlichkeit und mit seinem Glanz bei ihnen.

Gott hat mit Israel nicht nur einen Bund beschlossen, sondern hat sich immer wieder an Israel gebunden.

Israel hat die Gebote Gottes erhalten. Diese Weisungen zum Leben bleiben für immer gültig.

Israel hat den Gottesdienst, um Gott anzubeten.

Und Israel sind die großen Verheißungen gegeben, wie die, dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen werden.

Und Israel hat die Väter Abraham, Isaak und Jakob und wir können ergänzen auch die Mütter Sarah, Rebekka, Lea und Rachel, mit denen Gott unmittelbar und direkt geredet hat und sie mit ihm.

Und zuletzt: aus Israel kommt Jesus Christus, der Messias.

All diese Punkte formuliert Paulus nicht als etwas Vergangenes, sondern als Gegenwart. Denn für Paulus ist die bleibende Erwählung Israels entscheidend. Deshalb widerspricht jede christliche Theologie, die Israel zugunsten der Kirche enterben will, der Überzeugung von Paulus. Vor jeder christlichen Überheblichkeit kann Paulus nur warnen. Er macht es überdeutlich mit seinem Bild vom Olivenbaum. Israel ist Gottes Olivenbaum. Er hat ihn festgepflanzt. In diesen Baum ist die Christenheit eingepfropft. Auf keinen Fall ist er durch einen neu gepflanzten Baum ersetzt worden. Und in diesem Sinn schreibt Paulus nach Rom, wo es offensichtlich die ersten Anzeichen christlicher Überheblichkeit den Juden gegenüber gab: „Rühme dich nicht gegenüber den Zweigen … Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11, 18).

Das Neue Testament versteht sich nach Paulus also nicht als Entwertung oder Überbietung der Hebräischen Bibel, wohl aber als deren Bestätigung und Erfüllung. Was das heißt, das müssen wir als Kirche und als Christen nach Jahrhunderten der antijüdischen Bibelauslegung erst langsam wieder lernen. Die Württembergische Landessynode hat dazu formuliert: „Falsche Auslegung biblischer Texte führte zur Ablehnung und zur Abwertung des Judentums. So wurde ausdrücklich Judenfeindschaft ein Teil des christlichen Selbstverständnisses. Dieser unentschuldbare theologische Irrtum hatte entsetzliche Folgen.“

Daraus folgt, dass wir Christen immer, nicht nur am Israelsonntag, sondern an jedem Sonntag und in jedem Bibelgespräch im Hauskreis, uns vor Augen halten: Alle Aussagen der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments gründen darauf, dass Gottes Bund mit Israel unverbrüchlich ist. Und auch jede kritische Äußerung der Apostel gegenüber dem Judentum geschieht auf der Basis dieses unverbrüchlichen Bundes Gottes mit seinem Volk Israel.

Jeder Streit Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten um die Wahrheit, die zum Leben und Sterben hilft, gründet auf der ewigen Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Als Christen nach dem Holocaust müssen wir buchstabieren lernen, was es heißt, dass Gott, der Vater Jesu Christi, ein treuer Gott ist, weil er dem Volk Israel die Treue hält. Mit Israel als wanderndem Gottesvolk ist Gott weiter unterwegs zur Vollendung der Welt, die von uns Menschen durch Gewalt und Unrecht, durch Elend und Hass immer wieder neu bedroht wird. Und neben diesem Volk Israel zieht die Kirche mit demselben Auftrag. Die Hebräische Bibel hat also zwei Fortsetzungsgeschichten: Einmal das lebendige vielgestaltige Judentum und zum anderen die lebendige vielgestaltige Kirche. Beide bedürfen der Leitung und Kritik durch Gott. Zu dieser Kritik durch Gott gehört für uns Christen auch, dass wir uns unsere Schuld eingestehen, die wir als Kirche auf uns geladen haben, weil wir uns jahrhundertelange über Israel erhoben haben. Als Christen müssen wir, wenn diese Schuld an einem Sonntag wie dem Israelsonntag benannt wird, nicht wegschauen oder weghören. Als Christen wissen wir, dass wir von der Last der Schuld nur dann erlöst werden können, wenn wir sie erinnern. Darin lernen wir von Israel und seiner Weisheit: "Das Vergessen wollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". Diese jüdische Weisheit kann uns, die Älteren und uns Jüngere, kann uns alle heute am Israelsonntag zur Erinnerung ermutigen, zum Nachdenken über das Verhältnis der Kirche zu Israel. Diese Weisheit macht uns Hoffnung, dass ein Erinnern an all das, was uns, unsere persönliche Frömmigkeit und unsere Kirche geprägt hat, auch für unsere Zukunft, für unseren persönlichen Frieden, für unsere Beziehung zu Gott, ja für unsere Erlösung heilsam ist.

Amen

Fürbittengebet

Herr, unser Gott, wir bitten Dich für Dein Volk, das zerstreut lebt auf dem ganzen Erdkreis.

Herr unser Gott, wir bitten dich für Israel, Palästina und alle Länder des Nahen Ostens:

Schenke, dass es, sie im Frieden mit ihren Nachbarn leben können.

Segne alle Menschen, die sich um diesen Frieden mühen.

Wehre denen, die Falsches und Böses im Sinn haben.

Wir bitten Dich für die jüdischen Mitmenschen in unserem Land:

Gib, dass sie ihr Leben in Sicherheit und Gerechtigkeit führen können.

Bewahre sie vor Hass und Bedrohungen.

Und bewahre uns vor Gleichgültigkeit angesichts des wachsenden Antisemitismus.

Uns allen, Christen und Juden, schenke ein neues Hören auf Dein Wort und lass daraus das Tun Deines Willens wachsen.

Wir bitten dich auch in dieser Woche für unsere Gemeinde:

Sei du bei allen, die noch Urlaub haben und schenke ihnen Erholung und neue Kraft.

Lass du die Kranken und alle, die dem Tode nahe sind, deine Gegenwart ganz besonders spüren.

Gib ihnen Kraft, auch das Schwere aus deiner Hand anzunehmen.

Stärke unsere Hoffnung auf dein kommendes Reich, indem du alle Tränen von unseren Augen abwischen wirst und in dem Friede und Gerechtigkeit herrschen werden.

Dir vertrauen wir uns heute Morgen aufs Neue an, wenn wir mit den Worten deines Sohnes Jesu Christi beten:

Vater unser …

Verfasser: Pfarrer Dr. Andreas Löw, Roßbühlstraße 3, 70825 Korntal-Münchingen


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