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Heilung an Leib und Seele

von Paul-Ulrich Lenz (63679 Schotten-Einartshausen)

Predigtdatum : 21.10.2001
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 18. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : Johannes 5,1-16
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Wochenspruch:

Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.
(Jeremia 17,14)

Psalm: 32,1-5.10-11 (EG 717)

Lesungen

Altes Testament:
2. Mose 34,4-10
Epistel:
Epheser 4,22-32
Evangelium:
Markus 2,1-12

Liedvorschläge

Eingangslied:
EG 398
In dir ist Freude
Wochenlied:
EG 320
Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren
Predigtlied:
EG 345
Auf meinen lieben Gott
Schlusslied:
EG 216
Du hast uns Leib und Seel gespeist

1 Es war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. 5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. 6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Es war aber an dem Tag Sabbat. 10 Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. 11 Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! 12 Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? 13 Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. 14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. 15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. 16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Liebe Schwestern und Brüder!
Manchmal sitze ich mit anderen zusammen - Christinnen und Christen, Zweifelnden und Fragenden, Menschen, die mit wachen Augen durchs Leben gehen. Wir lesen einen Bibeltext miteinander und nach einer Zeit des Schweigens erzählen wir uns, was uns an diesem biblischen Text über das Leben aufgegangen ist. Ganz oft ist so, dass Bibeltexte wie Scheinwerfer in der Dunkelheit sind: sie richten ihr Licht auf etwas, was wir sonst allzu leicht übersehen.
An diesem Morgen möchte ich Ihnen ganz einfach zu einigen Sätzen unseres Predigtwortes erzählen, wie Sie wie Scheinwerfer Licht auf Lebenssituationen geworfen haben.
I. Da ist der Teich Betesda mit seinen Hallen, in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Betesda - ein Ort zum Wegschauen. In diesen Hallen hat sich so viel Leiden und beschädigtes Leben „angehäuft“ . Ich kann mir gut vorstellen: da ging keiner freiwillig hin. Auf solches beschädigtes Leben schauen, auf solche Ansammlungen menschlichen Elendes - das geht an die Nieren.
Immer wieder ist es mir so gegangen, wenn ich in ein Krankenhaus kam. Da kam dieser Satz: „Haben Sie einmal in die Abteilung geguckt? Was Sie da sehen, das ist nicht zum Aushalten.“
Wie oft sagen wir das, wenn wir mit dem Elend und der Not unserer Zeit konfrontiert werden - durch die Nachrichten im Fernsehen, durch Artikel in Zeitungen, durch Fotos, wo große Kinderaugen aus ausgemergelten Gesichtern schauen: Ich halte das nicht mehr aus - was ich da sehe, ist schlimmer als der schlimmste Horrorfilm, weil es Wirklichkeit ist.
Vielleicht werden wir zu Leuten, die wegschauen, weil sie es nicht mehr aushalten können: Der eine schaut weg, wenn ein Vater sein Kinde verprügelt. Der andere schaut weg, wenn ein Junge seine Freundin fertig macht. Der dritte schaut weg, wenn einer mit seiner Weinflasche vor dem Kaufhaus sitzt, wenn sich vor der Schule oder dem Einkaufs-Zentrum die Obdachlosen treffen und unterhalten. Es macht mir zu schaffen, wie oft ich ein „Wegschauer“ bin, mich an Not und Elend vorbeidrücke, mir mit 50 Pfennig oder 1 Mark ein erleichtertes Gewissen verschaffe.
II. Am Ort des Elendes Betesda heißt es: sie warteten, dass sich das Wasser bewegte. Dem Wasser wurde heilkräftige Wirkung zugeschrieben. Heilquellen - so etwas gibt es ja. Da sind also die Menschen und warten, warten, warten.
Warten - das ist ein Zeichen von Hoffnung, ein Lebenszeichen. Wer nichts mehr zu erwarten hat, der stirbt. Es sterben Tag um Tag Menschen an Erwartungslosigkeit, an Hoffnungslosigkeit. Wer nichts mehr zu erwarten hast, der hat keinen Grund mehr zum Leben.
Lebenszeichen Hoffnung: Sie warten - nicht nur am Teich Betesda: Manche warten auf das Märchen, das mit einem Schlag alles anders wird - das Klima in der Familie stimmt und das Streiten ein Ende hat. Manche warten auf den großen Gewinn in der Glücksspirale, der eine sorgenfreie Zukunft garantiert. Manche warten auf den Treffer beim Ausbildungsplatz-Lotto, der ihnen eine Chance einräumt, das eigene Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten und nicht nur von einer Arbeitslücke zur anderen, von einem Job zum anderen zu springen. Und mancher wartet auf die Diagnose - die ihm gegen alle „ängstliche“ Befürchtung sagt: Du wirst gesund, du darfst noch einmal leben.
Haben Sie eigentlich noch etwas in Ihrem Leben, worauf Sie warten, worauf Sie hoffen oder haben Sie sich schon damit abgefunden: Hoffen und Harren macht manchen zum Narren?
III. In Betesda liegt einer, der seit 38 Jahren krank ist. Mir hat einer erzählt von einer Frau, die war krank, als er 1972 an diesen Ort kam. Sie war immer noch krank, als er 1994 fortging. Das waren 22 Jahre im Bett, ein Leben mit der Krankheit, mit den Schmerzen, mit dem Warten, mit den Tränen, mit dem Verstummen. Da hat er gesehen, wie Menschen um dieses Krankenlager einen Bogen machten, weil sie es nicht mehr aushalten konnten, dieses stumme Leiden, wo es nicht mehr zu sagen und nach menschlichen Maßstäben zu hoffen gab.
Dann steht da der Satz, der mir immer wichtiger wird: Jesus sah den liegen. Jesus schaut nicht weg, vorbei an dieser Ansammlung des Elendes. Jesus schaut nicht lieber weg auf den Tempel mit seiner Pracht, den man von Betesda aus zum Greifen nahe hat. - Jesus sieht hin. Er sieht so genau hin, dass er nicht nur einen erschütternden Haufen Elend sieht - er sieht so hin, dass er den Einzelnen in seiner Not wahrnimmt.
Seht, wo viele von uns weglaufen, wo viele von uns nur noch hilflos fragen: warum? wo viele von uns nur noch wegsehen können, damit ihnen nicht die Freude am Leben zerbricht, da sieht Jesus genau hin. Seine Freude am Leben klammert den Schmerz nicht aus, klammert das Leid nicht aus. Sein Vertrauen auf die Liebe Gottes wird nicht durch Ausschluss der Schattenseiten erkauft, durch Wegsehen und Verdrängen erst möglich. Jesus stellt sich dem Elend dieser Krankheit, dem Jammer dieser verlegenen Jahre - so wie er sich seitdem wieder und wieder den Schattenseiten stellt - auch in meinem und in Ihrem Leben. Ich weiß nicht, wo Sie die Stellen haben in Ihrem Leben, bei denen Sie lieber wegschauen - aber das weiß ich: Jesus schaut diese Schattenseiten an - genauso wie bei dem Kranken am Teich Betesda.
IV. Und als der, der so hinsieht, fragt Jesus: Willst du gesund werden? Ist das nicht der blanke Hohn? Wie kann man denn so etwas fragen, wenn man vor einem Kranken steht? Wie kann man sich so wenig einfühlen in das, was sich jemand in seiner Krankheit wirklich wünscht? Aber ich glaube nicht, dass Jesus das Taktgefühl fehlt. Es muss etwas anders dahinter stehen, wenn er den Kranken fragt: willst du gesund werden?
In dieser Frage nimmt Jesus diesen Menschen ernst. In dieser Frage macht er Ernst damit, dass dieser Kranke womöglich ja gar nicht mehr aus seiner Krankheit heraus will. Es könnte ja doch sein, dass er nicht mehr nur krank ist, sondern längst seine Krankheit ist. Und dann ist das doch die Frage - ob er denn überhaupt noch eine Änderung will oder ob er sich nicht so an all seine Lebensumstände mit der Krankheit gewöhnt hat, dass er gar nicht mehr aus der Krankheit heraus will.
Das gibt es immer wieder: Menschen werden aus ihrem Elend herausgelöst, aber sie sind nie danach gefragt worden, ob sie das auch wirklich wollen. Daran scheitern Hilfsprojekte, dass sie nicht am Willen der Betroffenen orientiert sind, sondern nur am guten Willen der Helfer. Das haben wir erlebt, das eine Frau in tiefer Trauer zu versinken drohte und sagte, fast wie zu sich selbst: Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich da raus will. Nein, mancher will nicht aus seiner Krankheit heraus und mancher nicht aus seiner Trauer - und es gibt Helfer, die das nicht respektieren.
Sie alle kennen vermutlich die kleine Geschichte, die das auf den Punkt bringt: Ein Pfadfinder hat eine ältere Frau am Arm, die er über die Straße führt. Sie wehrt sich heftig, aber es nützt ihr nichts, sie muss mit. Und als sie drüben sind, sagt er befriedigt: Wieder eine gute Tat getan - und die alte Dame sagt: Aber ich wollte doch gar nicht über die Straße.
Willst Du gesund werden? Jesus nimmt den Kranken als Menschen ernst. Ich tue dir nur, was du willst - du bist nicht einfach nur dazu da, damit ich meinen Tatendrang an dir austoben kann.
Das gilt bis heute so: Gott hilft nicht ungefragt, drängt sich nicht als der große Helfer in unser Leben hinein. Gott hat kein Helfersyndrom und braucht es nicht zu seiner Selbstbefriedigung, einmal am Tag etwas Nettes zu tun. Er kennt die Grenze für sein Helfen und respektiert sie auch: Willst Du? Sein Wille zu Helfen hat an unserem Willen seine Grenze und nur wenn wir seine Hilfe wollen, kann er tun, was wir wollen!
V. Diese Frage, in der sich der Mensch am Teich Betesda ernstgenommen spürt, lässt ihn die Krankheit hinter seiner Krankheit nennen. Diese Krankheit heißt: Ich habe keinen Menschen. Das ist das Leiden hinter all den Schmerzen, das viel schlimmer ist als alle Schmerzen. Das ist die Krankheit, an der er zu zerbrechen droht: ich habe keinen Menschen. Da ist niemand mehr, der mich noch wirklich wahr nimmt - sie alle haben sich längst an meinen Anblick gewöhnt, so dass sie durch mich hindurchschauen können. Die Träger am Teich sehen mich nicht mehr wirklich, obwohl sie mich jeden Tag hier hinaustragen. Die Verwandten sehen mich nicht mehr, obwohl jede Woche einmal einer nach mir schaut. Die Leute, die hierher kommen, die hören nur noch: da liegt der arme Kerl und wartet - aber sie sehen mich nicht mehr wirklich an. Ich werde hier wie ein Stück Inventar behandelt - ich bin einfach da und wenn ich einmal nicht mehr da bin, fehlt auch nichts mehr.
Sehen Sie - das ist eine Krankheit, an der heute unendlich viele Menschen leiden: das lebt eine Ehepaar seit Jahren Seite an Seite, aber sie nehmen einander nicht mehr wahr in den Ängsten und Wünschen - alles ist nur noch Gewohnheit. Da sind Kinder, die alles haben, vom Fernsehen über die Roller-Blades bis zum Computer und den Chiemsee-Klamotten - nur Zeit haben die Eltern für sie keine. Da ist ein alter Mensch im Seniorenheim, und er ist rund um die Uhr versorgt - aber seine Name ist „Oma“ und keiner nimmt ihn noch richtig wahr in den Geschichten, die er zum 100. Mal erzählt. „Keine Zeit, ich habe wichtige Termine - hier hast du 20 Mark“ - wie oft kriegen das Menschen zu hören.
„Ich habe keinen Menschen“ - ist das auch Ihr Satz? Ist das auch Ihr Schmerz? Schlucken Sie diesen Satz nicht herunter, fressen Sie ihn nicht in sich hinein. Sagen Sie ihn - sagen Sie ihn Gott, der ihnen in Jesus begegnet, und sagen Sie ihn auch den Menschen, die ihnen im Namen Jesu begegnen. Wenn für diesen Satz in der Kirche einmal kein Platz mehr ist, dann ist es an der Zeit, die Firma „Kirche“ zu schließen!
Wenn das nicht Ihr Satz ist - dann sagen Sie als erstes „Gott sei Dank.“ Danken Sie wirklich Gott für alle Aufmerksamkeit, die Sie erfahren, die Ihnen wohltut. Danken Sie Gott für die Menschen, die nach Ihnen schauen - auch dann nach Ihnen schauen, wenn es Ihnen womöglich einmal lästig ist.
Und dann fragen Sie sich einmal: weiß ich einen, ahne ich einen, der auf einen Menschen wartet? Habe ich die Ahnung, dieser Mann, diese Frau, dieser Junge, dieses Mädchen ist so allein, so wenig angeschaut und wahrgenommen - zu diesem Menschen will ich einmal hingehen!
VI. Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt. Als die Krankheit benannt ist, als der tiefste Lebenskummer herausgekommen ist, da kann Jesus sagen: Stehe auf, nimm dein Bett und geh hin. Er kann ihn auf die Beine stellen. Er kann ihm das Leben noch einmal öffnen. Er kann ihn nach all den Jahren aus dem Gefängnis der Krankheit und der Einsamkeit herausholen. Er kann es, weil dieser Mann sich seinem Helfen öffnet. Er kann ihm seine Menschenwürde wiedergeben, den aufrechten Gang, die Freiheit, das Leben. Er kann es, weil der, der krank war, diese Gabe annehmen will.
Kann Jesus auch heute noch so handeln? Kann er in mein Leben hinein, in Ihr Leben hinein genauso seine Wunder tun? Können wir darauf rechnen, dass er unsere Gefangenschaft genauso aufbricht wie die des Mannes am Teich Betesda damals? Nichts ist unmöglich bei Gott - sagt Jesus einmal. Das Unmögliche wird möglich - da, wo wir uns trauen, ihm unser Leben zu öffnen, wenn er fragt: Willst du gesund werden - oder anders herum: Was willst du, das ich dir tun soll? Gottes Möglichkeiten übersteigen unsere Phantasie bei weitem! Amen.

Verfasser: Pfr. Paul-Ulrich Lenz, Leonhardstr. 20, 61169 Friedberg

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