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Pharisäer und Zöllner

von Erhard Kretschmann (98527 Suhl)

Predigtdatum : 22.08.2004
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 10. Sonntag nach Trinitatis - Israelsonntag: Kirche und Israel
Textstelle : Epheser 2,4-10
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Wochenspruch:



Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. (1. Petrus 5,5b)



Psalm: 113,1-8 (EG 745)



Lesungen



Altes Testament:

2. Samuel 12,1-10.13-15a

Epistel:

Epheser 2,4-10

Evangelium:

Lukas 18,9-14



Liedvorschläge



Eingangslied:

EG 396,1-3

Jesu, meine Freude

Wochenlied:

EG 299

Aus tiefer Not schrei ich zu dir

Predigtlied:

EG 398

In dir ist Freude

Schlusslied:

EG 395

Vertraut den neuen Wegen



Persönliche Annäherung und Fragen an den Text

Ja, das mag ja alles sein, was Gott mit der Welt und den Menschen vorhat oder schon getan hat. Aber dem Menschen, der in dem biblischen Sprachjargon nicht zuhause ist, erscheint es sehr weltfern, sehr lebensfern. Wo ist die Aktualität für die Gegenwart zu entdecken? Fühlen wir uns denn „gerettet“ bei dem allen, was auf uns einstürmt? Wie viel Depression gibt es doch gerade unter denen, die sich zu den Glaubenden zählen?

Wo sind wir denn heute in der „himmlischen Welt“, wenn wir allenthalben außer Atem und in Ängsten sind angesichts der Arbeitslosigkeit, deren Ende nicht abzusehen ist, angesichts der Kriege und des ständig wachsenden Terrors? Wo sind wir denn noch sicher?

„Güte, Erbarmen, Geliebtsein“ – ich möchte das gern konkret fassbar, benennbar haben – nicht so allgemein!

Dass wir uns das Leben, Gesundheit, gute Nachbarn und vieles mehr uns nicht verdienen können und dass wir unser Leben aus eigener Kraft auch nicht sichern können – das wird dem Nachdenkenden schnell klar. Aber ist dieser Bibeltext eine Antwort auf unsere Unsicherheit?

Was läuft in mir ab, wenn ich in Christus geschaffen werde – was heißt das und wie merke ich das?

Wie geht das konkret: mit Jesus auferweckt und mit ihm in die himmlische Welt versetzt?



Vorbemerkung zur Auslegung

Der Epheserbrief zeigt eine besondere Nähe zum Kolosserbrief. Manche Formulierungen sind fast identisch. Dennoch gibt es theologische Unterschiede. Während z.B. die Gemeinde im Kolosserbrief in Christus eingewurzelt ist (Kol. 2,7), so spricht der Epheserbrief davon, dass die Gemeinde auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist, ein Bau, bei dem Jesus Christus der Schlussstein ist (Eph. 2,20f.). Ich nehme an, dass der Epheserbrief wohl in der paulinischen Tradition steht, jedoch wohl kaum von Paulus selbst verfasst ist. Er stammt eventuell aus der ersten Zeit nach der Jahrhundertwende. Das ist jedoch für die Verkündigung seiner Botschaft nicht ausschlaggebend.

Der Epheserbrief ist sehr klar gegliedert.

Kap. 1 – ein Lobpreis und Meditation über Gottes Heilsplan

Kap. 2, 1-10 – Gottes Heilshandeln an dem einzelnen Menschen bezogen auf seine Vergangenheit und Zukunft.

Kap. 2, 11-22 – die Auswirkung auf das Verhältnis der Juden- und Heidenchristen

Kap. 3 – Die Stellung und Aufgabe des Apostels

Kap. 4 – Die Aufgaben und Begabungen in der Gemeinde, die Jesus Christus als ihr Haupt hat

Kap. 5 - 6,9 – Aufruf zur Nachfolge mit den Lebenskonsequenzen, zunächst allgemein, dann für jeden Stand in der damaligen Gesellschaft

Kap. 6,10 – 20 Abschlussermahnungen mit dem Bild einer Waffenrüstung.

Der Epheserbrief hat eine dualistische Weltanschauung, deren Übertragung in unsere heutige Zeit durchaus realistische Züge bekommen kann. In der Welt herrschen Mächte und Kräfte, die die Lebenswelt in den Griff bekommen möchten (2,1-3). Auch wir kennen die Zwänge, die von einer bestimmten „Atmosphäre“ ausgehen, der wir uns nicht entziehen können: Gruppenzwang, Parteidisziplin, Fraktionszwang, die Priorität der Finanzen in fast allen Bereichen. Sie bestimmen Gedanken, Entscheidungen und Taten. Sie schüchtern ein und zwingen uns, sich anzupassen. In einem freiheitlich-demokratischen Staat erwecken sie zwar die Illusion, als sei der Mensch sein eigener Herr, sie vermehren aber durch Ohnmachtgefühle die Lebensängste. Darüber aber steht Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der reich ist an Erbarmen und unbegrenzt und vorbehaltlos liebt (1,3 + 2,4f.).

Gott steht nicht nur darüber, sondern auch am Anfang des ganzen Weltalls und an dessen Ende (1,4 + 2,7). Gott kommt mit der Zukunft auf den Menschen zu (2,7). Damit ist die dualistische Weltanschauung damaliger Zeit weit überboten. Nicht gleichartige Mächte kämpfen miteinander, wobei noch unentschieden ist, wer Sieger sein wird. Der verborgenen, nicht fassbaren aber dennoch wirksamen Gewalt wird nicht eine Gegengewalt, sondern die gewaltlose Liebe entgegengesetzt.

In der Liebe Gottes ist alle Trennung aufgehoben. Alle Vergeblichkeit, alle Schuld, alle Verletzungen einschließlich des Todes laufen in die Zukunft Gottes, der auf uns zukommt. Im Vorläufigen jedoch gehört der Kampf noch dazu, wenngleich der Sieg längst feststeht. Aus diesem Grund brauchen die Glaubenden die geistliche Waffenrüstung. (6,10-17).

Ich halte Vers 10 für den Zielpunkt des Predigttextes. Ziel Gottes ist, dass Menschen entsprechend seiner Liebe und aus der Kraft seiner Liebe leben. Darum ist alles, was die aus Liebe Befreiten im Auftrag Gottes tun, bereits in dieser Liebe Gottes angelegt und geschieht aus der Kraft der Liebe Gottes.

Besonders nachdenkenswert ist auch der Vers 7. Hier ist vom Öffentlichkeitscharakter oder -auftrag der Kirche die Rede. „Um in den kommenden Zeiten kundzutun die Gnade“. Das ist kein missionarisches Engagement, das mit Gewalt zum Christentum bekehren will, sondern eher ein öffentliche Leben im Stand der Gnade:

„Damit sind gewisse Maßstäbe für ihren Öffentlichkeitscharakter und -anspruch gegeben. Damit ist z. B. gesagt, dass jeder eventuelle Öffentlichkeitsdrang der Kirche aus Geltungssucht ihren Öffentlichkeitscharakter verdürbe und sie selbst zu einer der Weltmächte machte. Oder es ist damit z. B. gesagt, dass jeder Öffentlichkeitsdrang, der der Angst entspringt, nicht mit der Zeit mitzukommen, ihr Öffentlichkeitsanliegen verdirbt. Die Kirche ist ja als das Dokument der Gnade, durch das diese der Öffentlichkeit sichtbar werden soll, … , jeder Zeit voraus. Die Zeiten kommen auf sie zu, nicht sie auf die Zeiten.“(Schlier, S.144)

Auffällig ist das häufige „???“ (die griechische Vorsilbe in der Bedeutung „mit“): immer „mit Christus“: mit ihm lebendig gemacht, mit ihm auferweckt, mit ihm in die Himmel gesetzt. Christus ist der Inbegriff der Gnade, der Güte, der Liebe. Im Zusammenleben mit den Jüngern, in der Anteilnahme an den Schmerzen und Sorgen der Kranken und Armen, in der fairen Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, in der Hingabe am Kreuz sind die Kriterien der neuen Schöpfung in der Person Jesu deutlich geworden. „In Christus“: das sind die Kriterien für eine Lebenshaltung, die gemeinsames Leben in der Welt ermöglicht. Das gilt es, der Öffentlichkeit im eigenen Lebensvollzug mitzuteilen.

4 Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, 5 auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht - aus Gnade seid ihr selig geworden -; 6 und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, 7 damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.

8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, 9 nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. 10 Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.



Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor, diese Worte des Epheserbriefes würden in einer öffentlichen Versammlung oder auf der Straße gesprochen. Viele würden nur den Kopf schütteln und sich verständnislos abwenden. Aber in der Kirche reden wir so. Gnade, Erbarmen, Liebe, Güte, Christus – das sind Worte, die wir kennen, sie sind uns nicht fremd. Fast erwarten wir: so muss in der Kirche geredet werden. Doch damit sind wir selbst in der Gefahr, die Brisanz und Aktualität dieser Sätze zu übersehen.

Erste Gedanken, die einem kommen, wenn man den Text liest: Ist das nicht alles sehr weltfern? Geht es in der Welt nicht nach ganz anderen Spielregeln zu? Spielt da nicht das Geld die entscheidende Rolle und nicht etwa Güte und Gnade? „Geiz ist geil!“ – das Schlagwort in der Werbung. Steht nicht fast ausschließlich Macht im Mittelpunkt alles Denkens und Handelns? Wird den Wählern im Wahljahr 2004 nicht alles Mögliche von den Politikern versprochen, nur damit sie die Wahlen gewinnen und ihre Machtpositionen behalten können? Wie oft wird ein Arbeitgeber mitleidig belächelt, wenn er sich für Offenheit und Ehrlichkeit in der Wirtschaft einsetzt? Ellenbogen sind heute gefragt, nicht Verständnis für die Existenznöte der Angestellten!

Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass sehr viele Menschen in unserer Gesellschaft depressiv geworden sind. Davon sind die Glieder und Mitarbeiter der Kirchengemeinden durchaus nicht ausgenommen. In dem Bereich der Krisenintervention haben wir monatlich mehrere Einsätze bei Suiziden oder Suizidversuchen. Über 11.000 Menschen sind es jährlich im ganzen Bundesgebiet, die ihrem Leben ein Ende setzen.

Aus diesem Blickwinkel wird dieser Bibeltext so wichtig. Unsere Gesellschaft ist krank. Sie stirbt an ihrer Art zu leben. Viele spüren, dass sie sich den Zwängen, in denen sie gesellschaftlich und beruflich sind, gar nicht entziehen können. Wir leben zwar in einem demokratischen freiheitlichen Staat, aber stöhnen gleichzeitig über die Notwendigkeit, uns anzupassen und Ehrlichkeit hintanzustellen. Fraktionszwang und Parteidisziplin schüchtern Politiker ein, denen ihr Gewissen noch wichtig ist. Lebensängste wachsen bedrohlich.

Genau das hat der Epheserbrief im Blick. Aber er sagt zugleich: Gott steht darüber. Gott steht am Anfang und am Ende der Welt. Es ist zwar nicht die Welt Gottes, die uns so in Zwänge bringt. Gott ist vielmehr zornig darüber, dass seine Welt so kaputt gemacht wird, dass Leben geschädigt und dem Sterben ausgeliefert wird. Aber sein Zorn bringt ihn nicht – wie es bei uns Menschen üblich wäre – zu einem Gewaltausbruch. Gott sieht nur eine Chance der Heilung: er setzt sich in Jesus Christus selbst den Zwängen aus, an denen wir leiden. Er lässt uns nicht allein: er lebt unter uns, er stirbt an uns, aber er verlässt uns nicht. Er steht alles mit uns durch, damit wir mit ihm zu neuem und anderem Leben kommen.

So neu und anders empfindet das der Apostel, dass er davon spricht: wir sind mit Christus in den Himmeln. Auf der Erde noch, aber schon im Himmel. Versteht das bitte nicht als zeitliche Folge: erst das eine, dann das andere. Gemeint ist die neue Qualität, die andere Art des Lebens.

Auf der Erde mit Christus in den Himmeln – das heißt: mitten in der Gesellschaft, nicht etwa hinter schützende Kirchenmauern zurückgezogen, mitten im Berufsleben, nicht etwa als Aussteiger in irgendeiner alternativen Einsamkeit; mitten im politischen Leben engagiert, nicht etwa in eine unpolitische Nische verkrochen, weil man ja eh nichts machen kann. Mitten in der Gesellschaft leben mit Christus in den Himmeln – das heißt: den erfahrenen Druck nicht weitergeben, persönliche Interessen nicht mit Tricks, Unehrlichkeit und Gewalt verfolgen, sondern gewaltlos für ein Miteinander sorgen, bei dem keiner zu kurz kommt.

Eine Illusion? Nein, das ist um Gottes willen möglich. Er hat alles, was wir tun können, bereits vorbereitet. „Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott im Voraus bereitet hat, damit wir sie tun.“ Was Gott getan haben will, wird durch uns dort gelingen, wo wir im Fragen nach Gottes Weg den Auftrag spüren, tätig zu werden. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Mit diesem Versprechen schickt uns Gott in den Alltag. Dabei denkt er an seine geschundene Welt, die dringend der Heilung bedarf. Amen.



Verfasser: Sup. i. R. Erhard Kretschmann, Prießnitzstraße 20 d, 98527 Suhl


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