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Suchen ist wichtiger als Besitzen.

von Oliver Albrecht (65527 Niedernhausen)

Predigtdatum : 15.06.1997
Lesereihe : ohne Zuordnung
Predigttag im Kirchenjahr : 2. Sonntag nach Trinitatis
Textstelle : Lukas 15,1-7.(8-10)
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Schriftlesung: Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32

Wochenspruch: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Luk. 19,10)

Wochenlied: EG 232 oder 353

Gnade sei mit euch und Friede von dem der war, der jetzt bei uns ist und der wiederkommen wird für alle Menschen.

Liebe Gemeinde,

heute steht der Predigttext bei Lukas im 15. Kapitel, Verse 1-7:

Eines Tages waren zahlreiche Zolleinnehmer und andere, die einen ebenso schlechten Ruf hatte, zu Jesus gekommen und wollten ihn hören. Die Pharisäer und Gesetzeslehrer waren darüber ärgerlich und sagten: "Er läßt das Gesindel zu sich! Er ißt sogar mit ihnen!" Da erzählte ihnen Jesus ein Gleichnis: Stellt euch vor, einer von euch hat hundert Schafe, und eines davon verläuft sich. Läßt er dann nicht die neunundneunzig allein in der Steppe weiden und sucht das verlorene so lange, bis er es findet? Wenn er es gefunden hat, freut er sich, nimmt es auf die Schultem und trägt es nach Hause. Dort ruft er seine Freunde und Nachbarn und sagt zu ihnen: "Freut euch nüt mir, ich habe mein verlorenes Schaf wiedergefunden.

Ich sage euch: genauso ist bei Gott im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der ein neues Leben anfängt, als über neunundneunzig andere, die das nicht nötig haben.

Gott segne unser Reden und Hören! Amen.

Liebe Gemeinde,

natürlich handelt der Hirte verkehrt. Niemand, der einigermaßen bei Sinnen ist, läßt neunundneunzig Schafe allein in der Steppe zurück und rennt einem hinterher. Folgende Gründe sprechen dagegen:

1. Eine so große Herde lohnt nicht diesen Einsatz für ein einzelnes Tier. Jenseits aller „Hirte trägt Lämmlein auf den Schultern“ - Romantik sollte man nüchtern kalkulieren: Schafe werden geboren und sterben, werden krank oder Opfer von Raubtieren. Der Einsatz für das einzelne Tier muß sich in kalkulierbaren Grenzen halten.

2. Die Aktion ist leichtsinnig und ohne Konzept durchgeführt. Wenn schon diese mehr von sentimentalen als rationalen Motiven bestimmte Suche, dann bitte auch sorgfältige Absicherung der Restherde. Eine Viertelstunde Bemühung um einen Ersatzhirten - die neunundneunzig wären in der Zwischenzeit nicht gefährdet. Freunde und Nachbarn, die das Wiedergefundene bejubeln, scheinen ja in unmittelbarer Nähe gewesen zu sein. Und wer jubeln kann, kann auch aufpassen.

3. Der Hirte im Gleichnis versteht nichts von professionellem Herdem-Management. Wieso läuft überhaupt ein Schaf weg? Sind nicht als erstes Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, Konzepte zu entwickeln, Investitionen zu tätigen: ein oder zwei Hunde, Schließen der Löcher im Zaun? Wann wird das nächste Schaf weglaufen, will der Hirte immer nur hinterherlaufen, reagieren statt selbst zu handeln?

4. Daß der Hirte das Schaf wiedergefunden hat, ist in diesem Zusammenhang langfristig schlecht für ihn. Der kurzfristige Erfolg blendet ihn, macht ihn blind vor Stolz: seht, was ich für ein Hirte bin, ich finde verlorene Schafe.

Ein Mißerfolg dagegen hätte ihn geläutert, ihn zum Nachdenken gebracht, sein Konzept in Frage gestellt: warum ist mir bloß das Schaf weggelaufen, was muß ich tun, daß das nie wieder passiert? So kann er lässig abwinken: „Pah!, ich werde meine Schafe immer wiederfinden!“

Was bleibt vom Gleichnis? Zunächst einmal nichts. Zunächst einmal darf nichts bleiben von allem Gewollt-Süßlichen und Gestellt-Künstlichen. Unter den Zuhörern Jesu sind Berufshirten, abhängige Angestellte der unteren Gehaltsklassen, für die die Herde ein Wirtschaftsfaktor ist und das Hirtenleben in der Regel nicht darin besteht, einzelne Lämmlein im Sonnenuntergang spazieren zu tragen. Wir verfehlen das Gleichnis um 100%, wenn wir es uns als Wandschmuck gerahmt über’s Sofa hängen.

Wenn Jesus Gleichnisse erzählt, lehnen wir uns nicht zurück mit der Antwort, „schön und gut“. Dann springen wir auf aus unserem Sessel und rufen „Nein - wieso das?“ und denken nach und stecken die Köpfe zusammen und beraten und beten und auf einmal macht's klick und wir sagen: „Genau - so!“

Genau so ist dieser Gott. Seine Leidenschaft entzieht sich unseren rationalen Kriterien. Seine Leidenschaft ist unbegreiflich. Gott ist verliebt in die Verlorenen und wir halten seine Liebe für hoffnungslos. Aus vielen, vielen wirklich guten Gründen.

Und den Spiegel hält Jesus uns vor. Wir sehen hinein und erkennen, wie gnadenlos recht wir haben. Und Jesus sagt:"Euer Recht lasse ich euch, aber von Gottes Gerechtigkeit will ich euch erzählen. Eure Logik könnt ihr behalten , aber ein neues Denken gebe ich euch." (siehe Joh. 14, 27).

Das heißt: gerade weil das Gleichnis unseren Denk-Gewohnheiten so widerspricht, bringt es uns weiter als jedes durchdachte Herdenaufbaukonzept. Die Kernaussage ist: „Suchen ist wichtiger als Besitzen.“

Wir suchen nur, um wiederzufinden, nur wieder zu besitzen. Gott sucht das Verlorene um seiner selbst willen. Jesus hat sein kurzes Menschenleben lang nur gesucht, gefunden, aber nie besessen.

Liebe Gemeinde, ich hab’ selbst erst einen Zipfel dieser Wahrheit begriffen. Aber ich ahne, daß mit diesem neuen Denken ganz schön Bewegung in mein Leben kommen könnte. Und ich sträube mich mit allen guten Gründen der Vernunft dagegen.

Suchen ist wichtiger als Besitzen: das ist mehr als populäre „der Weg ist das Ziel“ - Philosophie. Da steckt die Leidenschaft für das Verlorene drin, die wir bis zur Harmlosigkeit abgekühlt haben. Da ist das Verlorene nicht ein Minus in der Bilanz, ein Makel in der Kalkulation - nein! da geht es im Verlorenen um alles oder nichts, um dich und mich! Da ist das Verlorene nicht mehr die zu vermeidende Panne, die peinliche Randerscheinung, sondern der Mittelpunkt, von dem wir alles neu denken sollen.

„Und wenn ihr eine Gemeinde baut“, sagt Jesus mit diesem Gleichnis, „dann fangt mit den Verlorenen an - nicht mit dem Besitz, mit dem Suchen beginnt - nicht mit dem Haben.“

Warum? Weil nur so die Liebe und Leidenschaft Gottes bei euch wohnen wird. Die Herde Gottes wird nicht nach wirtschaftlichen Prüfnormen (wie ISO 9000) verwaltet! Die haben in einem Unternehmen ihr gutes Recht. In der Herde Gottes steht im Mittelpunkt, was ein Unternehmen um jeden Preis vermeiden muß: der Verlust. Und deswegen kann in der Herde Gottes dies unbegreifliche Wunder geschehen: wir verlieren die Angst, verloren zu gehen.

Wenn das unter uns klar ist: das Verlorene ist die Nr. 1 - ist die Grund-Angst des Menschen besiegt.

Wir denken doch so: bloß nicht verloren gehen, nur alles, alles tun, daß ich und meine paar Leute nicht verloren gehen. Jesus sagt und lebt und stirbt es vor: wenn ihr ‘was verloren gebt, da fängt’s für Gott erst an.

Jetzt begreif ich: der Hirte handelt nicht unlogisch - es ist nur eine andere Logik. Vier gute Gründe gegen das Handeln des Hirten hatte ich zu Beginn genannt. Und weil klar ist, daß mit der Herde die Kirche und mit dem Hirten Gott gemeint ist, will ich nun zum Schluß vier gute Gründe für eine ganz andere Kirche nennen.

1. Die Kirche hat als Institution keine Bedeutung. Es gibt keine „Herde an sich“, sondern immer nur den Einzelnen. Und wenn der verloren geht, hilft kein Nachrechnen, kein Kalkulieren, ob sich’s lohnt. Das ist Zahlendenken, Besitzstandswahrung. Gott wird die Verlorenen suchen, und wer bei Gott sein will - ganz einfach: der wird mitsuchen.

Konkret: Ob die Kirche noch Gottes Sache vertritt, wird sich nicht daran entscheiden, ob sie für ihre Mitglieder noch ein netter Verein ist. Sondern wie sie sich denen gegenüber verhält, die sich von Gott abgewandt haben. Kirche ist nur Kirche, wenn sie für die anderen da ist, hat Bonhoeffer gesagt. Das klingt gut - aber denken Sie mal darüber nach, was sich in ihrem Leben ändert, wenn dieser Satz stimmt.

2. Es gibt Zeiten, da wird sich die Herde allein fühlen. Weil Gott so oft die Verlorenen sucht. Und es wird nur ganz wenige Schafe geben, die mit dem Hirten auf die Suche gehen. Was ist also unsere Aufgabe? Ich bleibe im Bild:

* warten, auch wenn es oft sehr lange dauert und inzwischen den Anschein hat, Gott selbst sei verloren gegangen.

* rufen, daß Gott und das Verlorene den Rückweg finden, uns nicht verfehlen, denn das wäre für alle fürchterlich.

* uns freuen und dankbar sein, wenn Gott und das Verlorene wieder da sind.

Unser Schwachpunkt scheint mir das Rufen zu sein, das sich kenntlichmachen: hallo, hier sind wir Christen! Ein Kirchengebäude und eine schwarzgekleidete Person werden’s nicht sein, die Gott und das Verlorene sagen lassen: „Ah, ich bin wieder da.“

Ich erlebe es jedenfalls ganz, ganz selten, daß mal einer im Alltag so von Jesus redet, als ob’s den wirklich geben würde.

3. Eine Herde, eine Kirche, eine Gemeinschaft wird nicht durch Absicherungsmaßnahmen fest. Wir brauchen auch keine aufgeblasenen Konzepte, kein professionelles Herden-Management mit diesen ganz ängstlichen und teuren und am Ende doch immer wieder so erbärnlichen Kampagnen. Das brauchen wir AUS GUTEN GRÜNDEN ECHT nicht.

Der einzige Maßstab wird sein: was machen wir mit dem Einzelnen? Der Einzelne ist der, immer der, der mir grad näher ist, als mir recht ist. Jesus nennt ihn den Nächsten. Das ist die Steigerung zu nah.

Also kein Konzept für die nächsten vier Jahre und noch nicht ‘mal ein Projekt für die nächste Woche. Es ist nämlich ganz einfach: entweder ich fang’ jetzt gleich an, ausgerechnet mit diesen Leuten, die grad’ mal wieder da sind - oder es wird nie ‘was.

Ich halte viele große Pläne lediglich für Ausreden, sich mit dem Einzelnen zu befassen, mit dem konkreten verlorenen Schaf. Da wird eine Wichtigkeit vorgespielt, die die Kirche doch gar nicht mehr hat.

4. Sich um Verlorene zu bemühen, ist das beste, was eine Gemeinschaft für sich tun kann. Ich würde gesucht werden, ich würde vemißt werden - das steckt doch als Sehnsucht ganz tief in uns drin, genauso wie die ängstliche Gewißheit: ich könnte auch verloren gehen.

Ich will gesucht werden, wenn ich verloren gehe. Wie ein Kind von seinen Eltern, wie ein Schaf vom Hirten. Wenn wir uns nicht vermissen, werden wir uns auch nicht suchen. Und das stärkste Argument für unsere Kirchengemeinde sind für mich Gruppen und Kreise, in denen wir jeden Einzelnen vermissen würden, wenn er nicht da wäre.

Die schwierigste Frage gebe ich Ihnen mit nach Hause. Nicht das Gedankenspiel zum Sonntagskaffee. Ich brauch’ wirklich dringend Ihre Antwort: Wo sind die verlorenen Schafe, wo müssen wir suchen?

Ich habe viel über diese Frage nachgedacht und weiß bis jetzt nur, wo sie nicht sind:

Es sind keine neuen Randgruppen von Benachteiligten und Schwachen, die wir entdecken und unterstützen sollen. Das ist unbestritten unsere Aufgabe. Jedem Menschen, der unsere Hilfe braucht, sollen wir um Christi willen helfen, so weit es in unseren Kräften steht.

Aber die Obdachlosen, Asylbewerber, die Alten und Kranken sind nicht alles verlorene Schafe. Viele wollen gar nicht zu unserer Herde gehören und wir dürfen unsere Hilfe nicht an Bedingungen und noch nicht einmal an Erwartungen knüpfen. Menschen zu helfen geschieht für Christen um ihrer selbst willen. Und wenn einer sagt: ich will nicht zu euch gehören, aber ich brauche eure Hilfe, dann helfen wir, ohne ihn wider seinen Willen zum verlorenen Schaf zu erklären.

Es sind nicht die aus der Kirche Ausgetretenen. Auch da würde man die klare Entscheidung von Menschen mißachten. Wer austritt, ist ja nicht einfach verlorengegangen. Der hat sich ja sehr offiziell verabschiedet und seinen Standpunkt bekanntgegeben. Der will nicht gesucht werden. Die Suche nach dem verlorenen Schaf hat mit der Geschichte nichts zu tun, überhaupt mit der ganzen unsinnigen ängstlichen Diskussion um den Mitgliederbestand unserer Kirche nicht.

Meine Vermutung, und da brauche ich Ihre Hilfe, geht in eine ganz andere Richtung: Die Suche nach dem verlorenen Schaf wird uns mehr verändern, als uns im Moment klar ist. Noch ist unser Suchen wie ein Ausschauen vom sicheren Posten. Und das auch nur selten. Wir sind noch zu sehr mit uns selbst beschäftigt, mit unserer Angst, verloren zu gehen. Wir trauen dem Gott, der sich verloren gegeben hat, noch nicht so ganz.

Vielleicht und das ist meine Ahnung, hat Gott die verlorenen Schafe schon längst gefunden. Aber jetzt - jetzt findet er uns, seine Herde, plötzlich nicht mehr. Verstehen Sie nun, warum die Suche nach dem verlorenem Schaf so wichtig ist?

Amen.

Pfr. Oliver Albrecht

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