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Warten auf den Herrn und seinen Tag

von Michael Erlenwein (Schifferstadt)

Predigtdatum : 07.11.2021
Lesereihe : III
Predigttag im Kirchenjahr : Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Textstelle : Psalmen 85,1-14
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Wochenspruch: Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. (Matthäus 5,9)

Psalm: 85,9-14

Lesungen

Reihe I: Lukas 6,27-38
Reihe II: 1. Thessalonicher 5,1-6(7-11)
Reihe III: Psalm 85,1-14
Reihe IV: Lukas 17,20-24(25-30)
Reihe V: Römer 8,18-25
Reihe VI: Micha 4,1-5(7b)

Liedvorschläge

Eingangslied: EG 147 Wachet auf, ruft uns die Stimme
Wochenlied: EG 426 Es wird sein in den letzten Tagen
Predigtlied: EG 430 Gib Frieden, Herr, gib Frieden
Schlusslied: EG 154 Herr, mach uns stark im Mut

Predigttext: Psalm 85,1-14

1 Ein Psalm der Söhne Korach, vorzusingen.
2 Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
und all ihre Sünde bedeckt hast;
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
5 Hilf uns, Gott, unser Heiland,
und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen
und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 Herr, zeige uns deine Gnade
und gib uns dein Heil!
9 Könnte ich doch hören,
was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Wahrheit einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Wahrheit auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
Und seinen Schritten folge.

Hinführung

Bei der Perikopenrevision wurde das Thema dieses Sonntags neu gestaltet. Der Sonntag bildet jetzt durch den Wochenspruch und die Lesungen den Auftakt zur Ökumenischen Friedensdekade, die seit 1980 in den zehn Tagen vor Buß- und Bettag begangen wird. Der Sonntag ist als „Friedenssonntag“ im Kirchenjahr gestaltet worden. Der Psalm selbst ist von einer Sprache geprägt, die auf der einen Seite sehr dicht ist, auf der anderen Seite sich aber häufig wiederholt. Die Hörerinnen und Leser werden sicherlich stärker bei den Bildern der zweiten Hälfte haften bleiben, besonders natürlich bei Vers 11. Allerdings bietet genau dieser Vers durch verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten der Schlüsselworte auch sehr unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten. Luther übersetzt „Güte und Treue“, es könnte aber auch Güte und Wahrheit heißen, was dann parallel wäre zu „Frieden und Gerechtigkeit“. Aus Güte sagt man manchmal nicht die Wahrheit, die weh tun kann und um des lieben Friedens willen, lässt man manchmal fünfe gerade sein und nimmt Unrecht in Kauf. Wichtig ist auch, dass das hebräische Verb in diesem Satz sowohl „küssen“ als auch „sich bekämpfen“ heißen kann. Ich werde beides in meinem Predigtvorschlag aufnehmen.[1]

Noch etwas ist für diese Lesepredigt wichtig: Normalerweise versuchen wir ja den biblischen Text mit unserem Leben in Verbindung zu bringen. In diesem Jahr kommt noch etwas Drittes dazu: Nämlich die Zeit, in der die Lesepredigt entstanden ist: Ich schreibe sie im März 2021; die Corona-Pandemie prägt unser Leben jetzt seit einem Jahr. Impfungen und Schnelltests für jeden beginnen gerade; die Einschränkungen des alltäglichen Lebens sind immer noch beträchtlich. Es kann sein, dass das alles im November 2021 wie ein Bericht aus der Vergangenheit wirkt; es kann aber auch sein, dass das alles noch sehr präsent ist. Ich stelle Ihnen daher an verschiedenen Stellen zwei Möglichkeiten zur Auswahl; die Alternative zum unterstrichenen Text steht dann in der Fußnote. Sie müssen entscheiden, was dann im November 2021 zutreffender ist.

Predigt

Liebe Gemeinde,

ein wirklich prall gefüllter Text ist es da, der uns heute begegnet. Da weiß man gar nicht so genau, wo man anfangen und wo man aufhören soll. Da müssen wir heute langsam uns herantasten: An der ein oder anderen wichtigen Stelle bleiben wir auch etwas länger und schauen genauer hin, um die frohe Botschaft zu erkennen. So viel kann ich Ihnen aber schon zu Beginn verraten: Außer Corona und der Pandemie gibt es auch noch andere wichtige Themen. Dieses Jahr, das ja nun auch schon fast wieder vorbei ist, ist ja immer noch geprägt von der Pandemie, die das Leben von vielen umgekrempelt hat. Impfen und Tests haben uns das Licht am Ende des Tunnels sehen lassen, aber es ist immer noch viel zu tun, bis die materiellen und seelischen Schäden heilen können. In vielerlei Hinsicht sind wir zwar schon in der „neuen Normalität“, haben aber immer noch Anpassungsschwierigkeiten[2]. Heute aber werden wir mit der Nase darauf gestoßen, dass es andere ebenso wichtige, lebenswichtige Themen gibt, die wir zum Leben und diese Welt zum Überleben braucht: Güte und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede.

Die Psalmen sind ja ein Gebets- und Liederbuch. Da gibt es ganz unterschiedliche Formen: Die Klage des einzelnen Beters, das vollmundige Lob der großen Heilstaten Gottes durch die versammelte Gemeinde und auch – wie hier im 85. Psalm – die Klage des Volkes und die Bitte, dass Gott die Not wenden möge.

Die erste Hälfte des Psalms führt uns hinein in die Jahre der Herrschaft des persischen Königs Kyrios irgendwann so um 500 vor Christus. Die nach Babylon Verbannten konnten in ihre alte Heimat zurückkehren. Und sie taten dies mit überschwänglichen Hoffnungen. Jetzt würde alles wieder gut werden, der Tempel wiederaufgebaut, das verheißene Land Israel würde wieder zum gelobten Land werden, zu dem Land, in dem Milch und Honig fließt, gerecht regiert würde und alle in Frieden miteinander leben würden. Eine neue Heilszeit, so wie ganz am Anfang nach dem Auszug aus Ägypten, ja vielleicht sogar eine Erinnerung an das Paradies. Nun, es war wie so oft: Die großen Verheißungen und Hoffnungen mussten sich im Klein-Klein des Alltags bewähren. Man sorgte sich um den nächsten Tag und die Last der Sorge drückte einen nieder, so dass man den Kopf gar nicht heben und in die Zukunft schauen konnte, geschweige denn Hoffnung haben. An dieser Stelle, auf der Schwelle zwischen Hoffnung und Resignation, entsteht dieser Psalm voller Klage und Hoffnung.

„Herr, der du bist vormals gnädig gewesen bist, deinem Lande… der du die Missetat vergeben hast deinem Volk, der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen… Hilf uns, Gott unser Heiland… Zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil.“

Einen Augenblick lang hält die versammelte Gemeinde Israels inne, tritt einen Schritt zurück und aus ihrem Alltag heraus, hebt den Kopf und blickt auf den Weg, den sie zurückgelegt haben und auf die Zukunft, die sie erhoffen. Einen Augenblick innehalten und aus dem Alltag heraustreten, damit der Kopf frei und die Sicht klarer wird. Für die versammelte Gemeinde Israels damals war es der Weg, den sie mit Gott gegangen ist durch dick und dünn, Freude und Leid, Abkehr und Umkehr. Sie erinnern sich, dass Gott nicht ewig seinen Zorn hat walten lassen und Israel ins Unglück gestürzt hat. Sondern, dass er das Unheil gewendet, den Schaden geheilt und die Schuld vergeben hat. In der wechselhaften Beziehung zwischen Gott und seinem Volk war das Ja stets größer als das Nein gewesen.

Einen Augenblick lang innehalten, aus dem eigenen Alltag heraustreten und den Kopf heben, ein freier, unbelasteter Blick auf das eigene Leben und die Welt um uns herum.
Das würde auch uns ganz guttun. Wir beginnen gerade so langsam wieder unser alltägliches Leben aufzunehmen, all die Rituale und Selbstverständlichkeiten, Begegnungen und Handlungen, die uns helfen, unser Leben zu gestalten. Manchmal ist es so, als müssten wir vieles neu lernen. Da werden wir schnell von unserem Alltag gefangen genommen. Vor lauter organisieren, machen und tun merken wir gar nicht, wie gut es uns täte, einen Schritt aus dem Hamsterrad raus zu treten, den Kopf zu heben und eine Perspektive in Erinnerung und Hoffnung zu erhalten.[3]

Einen Augenblick innehalten, Kraft und Hoffnung schöpfen und eine neue Perspektive gewinnen. Die Pandemie hat uns den Blick dafür verstellt[4], dass es noch andere Themen gibt, die genauso wichtig sind für uns und überlebenswichtig für diese Welt. Heute beginnt die Ökumenische Friedensdekade, die bis zum Buß- und Bettag geht. Frieden und Gerechtigkeit sollten eigentlich das ganze Jahr Thema sein, nicht nur für die christliche Gemeinde, sondern für alle Menschen. Aber es braucht vielleicht so eine besondere Zeit, um sich das besonders ins Gedächtnis zu rufen. In der Welt geht es immer noch höchst ungerecht zu. Die Vermögen sind ungleich verteilt: Die 42 reichsten Menschen der Welt haben so viel Vermögen, wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen[5]. Selbst wenn man eine gewisse Ungleichheit im Vermögen als „naturgegeben“ hinnehmen würde – worüber man durchaus noch streiten könnte – das ist sicherlich nicht gerecht. Gelogen wird wie eh und je – und ehe man sich über die aufregt, die man beim Lügen erwischt hat, sollte man sich an die eigene Nase fassen und sich überlegen, mit wie oft man selbst, - sagen wir einmal - mit der Wahrheit flexibel umgegangen ist. Und Frieden scheint nicht mehr als ein Wort für die Sonntagsreden zu sein, viel beschworen und nie gehalten. Die Rüstungsausgaben steigen Jahr für Jahr. Die falsche Idee, dass die Welt durch immer mehr Waffen immer sicherer werde, bestimmt das Handeln. 1,5 Billionen Euro werden jährlich für Waffen ausgegeben und 0,12 Billionen für die Entwicklungshilfe, also weniger als ein Zehntel.[6]

Auf der Schwelle zwischen Erinnerung und Hoffnung wird das eigene Leben in das Licht Gottes gestellt. Das Volk Israel – und mit ihm auch wir als christliche Gemeinde – erinnert sich an die großen Verheißungen, die Gottes Wort wie ein roten Faden durchziehe: Güte und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden.

Und an dieser Stelle, liebe Gemeinde, wird es noch einmal interessant: Ehe wir uns in großen Gedanken über Frieden und Gerechtigkeit verlieren, muss ich mit Ihnen zusammen noch einmal genau hinschauen, und zwar auf jenen wunderbaren Vers 11: „dass Güte und Wahrheit einander begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“. Das hebräische Wort, dass da steht, kann man nämlich auf zwei Arten übersetzen – poetisch und sperrig: Das poetisch-schöne haben wir gehört: „dass Güte und Wahrheit sich begegnen, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“. Gerechtigkeit und Frieden in einer liebevollen Beziehung; sie gehen Hand in Hand und achten aufeinander, kein Blatt Papier passt zwischen sie, so wie auch zwischen zwei Liebenden, die sich küssen, niemand dazwischen passt. Das wäre der Traum von einer heilen Welt – ohne Konflikt und ohne Streit. Alles wäre glasklar, man müsste sich nicht entscheiden, zwischen Güte und Wahrheit, zwischen Gerechtigkeit und Frieden. Der Kopf wäre hoch erhoben und über die Mühen des Alltags hinweg richtet sich der Blick in eine ferne Zukunft, die Gott schenkt. Die versammelte Gemeinde Israels macht es uns vor: Mitten in der alltäglichen Sorge, die Gedanken frei schweifen lassen und sich wegträumen. Das mag vielleicht nichts ändern, tut aber gut und gibt Kraft.

Es gibt aber auch noch eine andere Übersetzung dieses Wortes und die ist viel sperriger, widerspenstiger. Und mit diesem Stachel in unseren Gedanken, möchte ich Sie dann auch verabschieden, damit Sie etwas zum Nachdenken haben. Man könnte auch übersetzen: Dass Güte und Wahrheit sich widersprechen, dass Gerechtigkeit und Frieden sich bekämpfen. Dann sind wir ganz bei uns im Hier und Jetzt. Es gibt lieblose Wahrheit und unwahre Freundlichkeit. Man sagt nicht alles, weil man sich nicht traut und Angst hat, der Andere könnte beleidigt sein. Oder man reagiert aggressiv auf die unangenehme Wahrheit, die einem jemand sagt. Man sagt die Wahrheit ohne Rücksicht auf Verluste oder verbiegt sich vor lauter Freundlichkeit und will nur gefallen. Zwischen unwahrer Güte und liebloser Wahrheit ist nur ein schmaler Grat und mehr als einmal entscheidet man sich falsch. 

Auch zwischen Gerechtigkeit und Frieden besteht in dieser unerlösten Welt schon immer ein anscheinend ungelöster Konflikt: Um des lieben Friedens willen verzichtet mancher auf sein Recht und fühlt sich dabei nicht gut. Auf der anderen Seite ist die Aussage, dass jemand „rechthaberisch“ sei, mehr ein Schimpfwort als ein Kompliment. Zwischen Völkern und Staaten geht es immer wieder um die Frage, ob man die Gerechtigkeit immer durchsetzen soll, auch um den Preis, dass man dafür einen Krieg führen muss und den Frieden zerstört.

Klar ist: Es kann nicht jeder machen, was er will, das gilt für einzelne Menschen, für Völker und für Staaten. Aber wo sind die Grenzen, was sind die Mittel. Denn der Zweck heiligt nicht alle Mittel.

Dass Güte und Wahrheit sich widersprechen, Gerechtigkeit und Frieden sich bekämpfen, das weist uns als christliche Gemeinde und als politisch verantwortliche Menschen in dieser unerlösten Welt die Aufgabe und Verpflichtung zu, beides miteinander immer wieder ins Lot zu bringen und zwar bei jedem Konflikt von Neuem. Im Reich Gottes – wenn nicht nur wir, sondern alle Menschen, klarsehen – wird das anders sein.

Aber nicht jetzt, hier und heute.

AMEN

Verfasser: Pfarrer Michael Erlenwein, Langgasse 61, 67105 Schifferstadt

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Anmerkungen:
[1]Literatur: A.Deeg/A.Schüle: Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletische Zugänge, Leipzig 20194, 477-481
[2]Immer noch ist unser Leben geprägt von der Corona-Pandemie, müssen wir mit den Alltagsbeschränkungen leben, bestimmt sie unser Leben. Manchmal hat man das Gefühl, als gebe es nichts Anderes.
[3]Wir sind immer noch im Hamsterrad der Pandemie gefangen, es kommt uns schon ewig vor. Inzidenzwerte und Kontaktbeschränkungen, Masken, Lüften, Impfen, Testen – unsere Welt scheint nur daraus zu bestehen. Der Blick geht immer nur auf den Boden, die Gedanken sind immer nur bei dem nächsten Schritt. Man schafft es gar nicht, sich davon frei zu machen. Dabei täte das so gut. Einen Augenblick heraustreten, den Kopf heben – nach hinten schauen und sich erinnern, nach vorne schauen und Hoffnung zu schöpfen.
[4]Verstellt uns immer noch den Blick dafür
[5]https://www.welt.de/wirtschaft/article172684758/Oxfam-42-Milliardaere-besitzen-so-viel-wie-die-halbe-Welt.html
[6]Deeg/Schüle, S. 480


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